* UNIVERSITY OF CALIFORNIA |} AT LOS ANGELES Digitized by the Internet Archive in 2007 with funding from Microsoft Corporation http://www.archive.org/details/samtlichewerke07schiiala Schillers Sämtliche Werke Säkular⸗Ausgabe in 16 Bänden In Verbindung mit Richard Feſter, Guſtav Kettner, Albert Köſter, Jakob Minor, Julius Peterſen, Erich Schmidt, Oskar Walzel, Richard Weißenfels herausgegeben von Eduard von der Hellen Stuttgart und Berlin J. G. Cotta'ſche Buchhandlung Nachfolger Schillers Sämtliche Werke Säkular⸗Ausgabe Siebenter Band Die Braut von Meſſina⸗ Wilhelm Tell Semele⸗Menſchenfeind⸗ Huldigung der Künſte Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel 2 Stuttgart und Berlin J. G. Cotta'ſche Buchhandlung Nachfolger Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaſt in Stuttgart . 4 4 « i « * * * a*e — * « = oe aS 0 5 i 5 . 2241 & A — . wg 3 8 Wee 3 “18 ‘ 8 * 0 ‘ coe = . * a & 8 4 20 U ee ‘4 « ‘ . 2 ‘ ‘ « 0 e « «- 1 5 were . 3 0 . re ie ane « 1 * 1 SS ig Spee ee . > tog 2 n ove Einleitung Die beiden letzten Dramen hohen Stils, die Schiller vollendet hat, offenbaren die ſtärkſten Gegenſätze künſt⸗ leriſcher Formung, die innerhalb der Kunſt ſeiner Reife⸗ zeit Raum hatten: um den ſtrengſten Forderungen ſeiner dramatiſchen Theorie gerecht zu werden, modelt er einen erfundenen Stoff, bis er alle Vorteile aufweiſt, die in Schillers Augen der antiken Tragödie unvergängliche Wirkung leihen; und gleich darauf ſchafft er einem ge⸗ gebenen Stoffe eine dichteriſche Hülle, die in freiſter Haltung der Bühnentechnik rückhaltlos längſterrungene Vorteile preisgibt und einer ſtimmungsvollen Wieder⸗ gabe der Überlieferung alles dichteriſche Geſtalten unter⸗ ordnet. Dem „erſten Verſuch einer Tragödie in ſtrenger Form“, den er, „mehr an ſich ſelbſt als an das Publi⸗ kum denkend“, im „Wettſtreit mit den alten Tragikern“ unternahm, folgt, getragen von der Erkenntnis, daß es „mit griechiſchen Dingen eine mißliche Sache auf unſerem Theater“ ſei, ein „Volksſtück“, das „Herz und Sinne intereſſieren“ ſoll, ein „echtes Stück für das Publikum“. Natürlich verliert ſich dieſes Zugeſtändnis an das Publikum nicht in die Tiefen, in denen die Iffland und Kotzebue ihre breiten Bettelſuppen kochten; von den ſcharfen Worten, die der Kritiker Schiller gegen die Liebedienerei dieſer Bühnenbeherrſcher ſeiner Zeit geprägt hatte, brauchte der ee — „ N CPU re LC 7 fad FOB g VI Einleitung Dichter des „Tell“ keines zurückzunehmen. „Ich hab' ihn mit Liebe gearbeitet, und was aus dem Herzen kommt, geht zum Herzen“ — das Wort iſt Tatſache ge— worden. Keine Dichtung der deutſchen Literatur iſt den Deutſchen inniger vertraut, vor allem, weil ſie im „Tell“ alles wiederfinden, was ſie an Schillers Perſönlichkeit feſſelt. Dieſes populärſte deutſche Bühnenſtück iſt aber zugleich — ein ganz ungewöhnliches Ereignis! — dem Volke, in deſſen Lande es ſpielt, die liebſte Darſtellung ſeiner teuerſten heimiſchen Überlieferung. Zwar iſt Schiller nicht, wie er vorhatte, nach der Schweiz gepilgert, um Land und Leute an Ort und Stelle für ſein Stück zu ſtudieren. Allein der in Thüringen heimiſch gewordene Schwabe hat den Schweizern beſſer zu Dank gedichtet als ihre eigenen Landsleute, die an dem gleichen Stoffe ſich verſucht hatten. Ihm und keinem andern iſt der Fels geweiht, der, unterhalb des Rütli aus dem Vier— waldſtätter See aufſteigend, dem Wanderer den „Dichter Tells“ ins Gedächtnis ruft. Solch unvergleichlich ſtarker Erfolg war der „Braut von Meſſina“ nicht beſchieden; wohl aber teilt das Re- naiſſanceſtück mit dem „Tell“ das Schickſal, von der Kritik aufs heftigſte beſtritten zu werden. Uneingedenk der menſchlichen Art Schillers, die ihn jederzeit das Einzelne raſch abtun und, was ihm Hauptſache ſchien, unbekümmerten Schrittes anſtreben hieß, hat man beide Dichtungen kritiſch zerpflückt. Der „Braut von Meſſina“, dieſem Verſuche, eine vielleicht einſeitige Theorie zu ver— wirklichen, iſt man ſo wenig gerecht geworden wie dem „Tell“, dem erſten Volksdrama neuerer deutſcher Lite— ratur. Analyſen beider Dramen geſtalten ſich mehr und Einleitung VII mehr zu langen Sündenregiſtern; da iſt es wohl wieder an der Zeit, das wenige, das an dieſer Stelle geſagt werden kann, vor allem dem Verſtändniſſe von Schillers Abſichten dienen zu laſſen. Die unüberbrückbare Kluft, die das Urteil der Kritik von dem hundertjährigen Er⸗ folge des „Tell“ trennt, legt neuerer Betrachtung ſolches Verfahren noch näher. 1. Die Braut von Meſſina. Bald nach der Vollendung des „Don Carlos“ ſetzte Schillers Wendung zur Antike ein. Goethes „Iphigenie“, dann überhaupt die neue Anſchauung von den Griechen, die Goethe in Italien erwuchs, ſcheinen auch Schiller von den Bahnen Shakeſpeares weggelockt und in das Lager J. J. Winckelmanns geführt zu haben. Auch er beginnt dem Evangelium von der Nachahmung der Alten zu lauſchen. Er entdeckt, wie unpoetiſch die Zeit iſt, in der er lebt, wie glücklich in einer poetiſcheren Welt der an⸗ tike Künſtler ſich bewegen durfte; und er ſchreibt die „Götter Griechenlands“. Entſcheidend wirkte der Rudol⸗ ſtädter Sommer von 1788: wie Schiller, in engem Ver⸗ kehr mit der Familie Lengefeld, hier Anſätze macht, ſein Leben neu zu geſtalten, ſo wird er ſich auch bewußt, daß nicht mehr die modernen Schriftſteller, nur die Alten ihm „wahre Genüſſe“ geben. Er verſenkt ſich in Homer. Allein dem Drama, nicht dem Epos gehört ſein Anteil; raſch wird er zum Überſetzer des Euripides, und alsbald keimt auch ſchon der Plan einer antikiſierenden Tragödie „Die Malteſer“. Er iſt nie zur Ausführung gekommen, begleitet jedoch alle folgenden dramatiſchen Bemühungen Schillers und wird, enger und enger dem griechiſchen VIII Einleitung Vorbild angepaßt, dem Dichter zu einer unvergleichlichen Handhabe, die antike Bühnentechnik ſich zu erobern. Die „wahre Simplizität“ der griechiſchen Tragödie, in Rudolſtadt mehr geahnt als ergründet, enthüllte ſich dem Schöpfer der „Räuber“ aber nur, ſeitdem er Goethe nahe gekommen war. Wird er doch in den „Briefen über äſthetiſche Erziehung“ faſt zum Gräkomanen und findet erſt in der Abhandlung „Über naive und ſentimentaliſche Dichtung“ einen Standpunkt, dem eigenen künſtleriſchen Weſen trotz der überwältigenden Größe antiker Kunſt ſein Recht zu wahren. Allein der Schritt von abſtrakten äſthetiſchen Studien zu dramatiſchem Geſtalten leitete ihn von neuem in die Schule der Griechen; ihre Bühnen⸗ kunſt ward ihm zum bindenden Kanon, die Poetik des Ariſtoteles zur Fundgrube unfehlbarer Kunſtgriffe. Wie⸗ der einmal ſchlägt er Leſſings „Hamburgiſche Drama⸗ turgie“ auf, und ihre Verherrlichung des Ariſtoteles leiht ihm eine willkommene Beſtätigung der Richtigkeit ſeiner neuerworbenen Anſichten. Verknüpfung der Begebenheiten, nicht Charakter⸗ geſtaltung ſchreibt er jetzt im Sinne des Ariſtoteles der Tragödie vor. Shakeſpeare ſchätzt er höher, ſeinen werden⸗ den „Wallenſtein“ gewinnt er lieber, je ſtärker er Wirkung der Umſtände hervortreten ſieht, je weniger die eigenen Fehler des Helden die Kataſtrophe bedingen. In ſolcher Stimmung wird ihm der „König Oedipus” zur Offen⸗ barung. Richtig erkennt er (an Goethe, 2. Oktober 1797), daß das Stück des Sophokles „gleichſam nur eine tragiſche Analyſis“ ſei. Was hier vorgehe, werde lediglich aus den Umſtänden „herausgewickelt“, die vor den Anfang der Tragödie fallen. Wer gleiches verſuche, könne die Einleitung IX zuſammengeſetzteſte Handlung dichteriſch verwerten, auch wenn ſie der tragiſchen Form völlig widerſtrebe. Braucht er ſie doch nur als geſchehen anzunehmen und vor die Tragödie fallen zu laſſen, um dann auf der Bühne in einfachſter Handlung und in engumgrenzter Friſt dieſe Vorgänge zu enthüllen. Solche analytiſche Technik ſtellt Schiller um fo höher, da ja „das Geſchehene, als un- abänderlich, ſeiner Natur nach viel fürchterlicher iſt, und die Furcht, daß etwas geſchehen ſein möchte, das Gemüt ganz anders affiziert als die Furcht, daß etwas geſchehen möchte“. Zwei Momente find Vorausſetzung dieſer Anſchauung: die Vorwürfe, die Schiller wegen der ungenügenden Motivierung ſeiner Stücke hatte anhören müſſen, und ſeine aus Kantiſchem Boden gezogene An⸗ ſchauung vom Erhabenen. Zwei Jahrzehnte nach Schillers Tod äußerte Goethe zu Eckermann ſich über Schillers geringe Neigung „für vieles Motivieren“, wohl bewußt, daß ſein eigener Brauch, „oft zu viel“ zu motivieren, ſeine Stücke (etwa die „Natürliche Tochter“) vom Theater entferne, Schillers Talent hingegen „recht fürs Theater geſchaffen“ ſei. Ohne Zweifel beeinträchtigt das kühne Hantieren mit irreführenden Briefen nicht die Bühnenwirkung der „Räuber“, von „Kabale und Liebe“ oder „Don Carlos“. Nur der nachprüfende Kritiker entdeckt die ſchwachen Vorausſetzungen. Allein ebenſo gewiß mußte Schiller bemüht ſein, eine Technik zu finden, die unwiderſprech⸗ liche tragiſche Konſequenz ſicherte, auch wenn er im ein⸗ zelnen die Motivierung frei geſtaltete. Analytiſche Dra⸗ matik bot das Geſuchte. Wer ſeine Helden am Anfang des Stückes in eine Zwangſituation bringt, die tragiſche x Einleitung Wirkungen in ſich birgt, braucht ſie nur dieſer Zwang⸗ fituation bewußt werden laſſen, um eine Tragödie zu ſchaffen. Der „König Oedipus“ des Sophokles iſt in dieſem Sinne reines Enthüllungsſtück: was auf der Bühne vorgeht, iſt für die Kataſtrophe vollkommen gleichgültig. Unüberwindlich macht ein Zuſammenhang von Umſtänden, der längſt beſteht, ſeine Macht geltend. Vom Standpunkte dramatiſcher Technik kommt lediglich dieſer Zuſammen⸗ hang in Betracht. Er führt nicht zu neuen Entſchlüſſen, die von Einfluß auf die Kataſtrophe wären. Er braucht nur erkannt zu werden, und was auf der Bühne ſich ab⸗ ſpielt, iſt ausſchließlich der Erkennungsprozeß, das Auf⸗ leuchten und Wiederverſchwinden der Wahrheit, endlich ihre allmähliche, nicht mehr zu hindernde Enthüllung. Zur Motivierung der Kataſtrophe fügt der Bühnenvor⸗ gang nichts Neues hinzu. Im Banne des „König Oedipus”, iſt Schiller ſchon bei „Wallenſtein“, „Maria Stuart“ und „Jungfrau von Orleans“ bemüht, ſeine Helden in eine unüberwindliche Zwangſituation zu verſetzen. Wallenſtein iſt eine gefallene Größe, wenn das Stück beginnt, und während er noch mit dem Gedanken des Verrates ſpielt, ſieht er ſich plötz⸗ lich auf einem Punkte, von dem aus kein Zurück mehr möglich iſt. Maria Stuart wird nie lebend das Gefäng⸗ nis verlaſſen; was für fie geſchieht, kann ihr Ende nur be- ſchleunigen. Und Johanna ſteht vom Anfang des Stückes ab unter einem Zwangsgebot der Himmelskönigin, das ihr „ird'ſcher Liebe“ zu widerſtehen vorſchreibt, ihr alſo eine unlösbare Aufgabe auferlegt. In den drei Stücken iſt ſchon eingangs faſt alles getan oder geſagt, was die Kata⸗ ſtrophe bedingt. Wallenſtein erſcheint nur in ſeinen letzten Einleitung XI Tagen, Maria iſt verurteilt, wenn der Vorhang zum erſten Male aufgeht; und von dem Gebote der Jungfrau kann Johanna auf der Bühne nur noch erzählen, es liegt vor dem Anfang des Stückes. Bewußt aber, daß eine von vornherein gegebene Zwangſituation ſeine Helden ſicher dem Untergang zuführt, ſchreitet Schiller über Einzel⸗ heiten rückſichtslos weg, läßt in „Maria Stuart“ den klugen Hofmann Leiceſter einem ſchwärmeriſchen Jüngling ſofort Einblicke in ſein Herz gewähren und eine Königin demſelben Knaben in der erſten Stunde ihre Gunſt an⸗ bieten. In grandioſer Willkür trägt der kühne, ſeines unverrückbaren Zieles bewußte Dichter ſein Publikum über ſolche Untiefen hin, ſtets das Weſentliche, nie das Beiwerk im Auge. Dem Schauſpieler überläßt er, durch ſein Spiel möglich zu machen, was der nachrechnende Verſtand bemäkelt. Die Bühnenwirkung aber gibt ihm Recht. Heute freilich iſt eine pſychologiſch analyſierende Detailkunſt auf der Bühne erſtanden, neben der Schillers Freskomalerei nicht zu ihrem Rechte gelangt. Motiviert er zu wenig, ſo wird heute faſt nur motiviert; iſt ihm das Feinſte eines komplizierten Charakters auf der Bühne gleichgültig, ſo legt neuere Dramatik alles Gewicht auf Charakteranalyſe. Ibſen und ſeine Schule ſind in erſter Linie Seelenmaler. Wer von ihnen kommt, findet ſich auf Schillers Bühne ſchwer zurecht. Allein noch iſt uns dieſe neuere Tragödie nicht ſo in Fleiſch und Blut über⸗ gegangen, daß Schillers Art neben ihr nur mehr hiſtoriſch gewürdigt werden könnte, wie die tragédie classique der Franzoſen. Künftiger Zeit bleibt die Entſcheidung vor⸗ behalten, ob Schillers tragiſche Verknüpfung der Be⸗ XAT Einleitung gebenheiten, ob Ibſens Seelengemälde ihr bühnengemäßer dünken, ob ſie in Schillers Sinne da nur ein „müh⸗ ſeliges und ängſtliches“ Nachgeſtalten von „Zufälligkeiten und Nebendingen“ feſtſtellen wird, das ſich mit „Leerem und Unbedeutendem“ herumſchlägt, oder ob ſie auch bei Ibſen die „tiefliegenden Wahrheiten, worin eigentlich alles Poetiſche liegt,“ wiederfindet, die Schiller allein auf der Bühne dulden wollte. Waltet in der Charakteriſtik ein unüberbrückbarer Gegenſatz, ſo kommt Ibſen der Technik Schillers von der anderen Seite um ſo näher. Auch er verſetzt ſeine Geſtalten gern von Anfang an in eine Zwangſituation und erbaut in der Vorgeſchichte ſeiner Dramen eine un⸗ überſteigliche Mauer von Umſtänden, die alle Handlungs⸗ freiheit beeinträchtigt. Auch er iſt analytiſcher Dramatiker und läßt dann wie Schiller ſeinen Helden nur die Frei⸗ heit, einer ſchickſalartigen Verkettung von Umſtänden gegenüber ihre Perſönlichkeit zu wahren. Sich ſelbſt treu bleiben, das Beſte, das der Menſch in ſich hat, nicht aufgeben, wenn unwiderſtehlich die Verhältniſſe zum Untergang drängen, das iſt für den reifen Schiller echte Tragik, das will er auf der tra— giſchen Bühne ſehen. Der Menſch, der Schritt für Schritt auf dem Theater in einen unlösbaren Konflikt gerät, ſei's durch eigene, ſei's durch fremde Schuld, iſt nicht Schillers tragiſche Geſtalt; den vorbereitenden Pro- zeß legt er vor das Stück, um in der Bühnenhandlung allein die Hauptſache zu geben, den Menſchen, den das Schickſal erhebt, wenn es ihn zermalmt. Schillers Theorie des Pathetiſch-Erhabenen liegt dieſer Praxis zu Grunde. Tragiſch iſt nach ſeinen Ausführungen vom Einleitung XIII Jahre 1793 die Darſtellung der leidenden Natur und des moraliſchen Widerſtandes gegen das Leiden. Daß wir überhaupt an dem Leid, das auf der Bühne ein Menſch erduldet, etwas Anziehendes finden, dies eigen⸗ tümliche Phänomen kann Schiller nur durch die Teil⸗ nahme erklären, die der Zuſchauer dem ſeeliſch Unbeſieg⸗ lichen entgegenbringt, dem, der im Sinne Kants der bedrängenden Außenwelt gegenüber ſeine „Freiheit“ wahrt, der im Untergang groß bleibt. Die Größe ſeiner Helden ſucht Schiller nicht in ihrer aufſteigenden, nur in ihrer abſteigenden Bahn. Darum iſt ihm der „König Oedipus“ ſo lieb, der nicht den glückbegünſtigten Helden, den beglückenden Herrſcher Thebens vorführt, ſondern den ſtürzenden, der an ſich ſelbſt zum Richter wird. Darum hat er nicht den von Sieg zu Sieg eilenden Wallenſtein, nicht eine mächtige Königin Maria von Schottland auf die Bühne gebracht. Aſthetiſche Theorie und dramatiſche Technik, die Lehre vom Pathetiſch⸗Erhabenen und die Anſchauung vom analytiſchen Drama verbinden ſich in Schillers Poetik zu einem einheitlich gedachten Ideal tragiſcher Kunſt. Mehr oder weniger nähert er ſich ihm in „Wallenſtein“, „Maria Stuart“, „Jungfrau von Orleans“. Allein das letzte Wort wollte er noch ſprechen. Und ſo ſchrieb er die „Braut von Meſſina“. Als Schiller (am 2. Oktober 1797) ſeine Anſichten über den „König Oedipus“ entwickelte, fürchtete er, das Stück ſei einzig in ſeiner Art: „Das Orakel hat einen Anteil an der Tragödie, der ſchlechterdings durch nichts anderes zu erſetzen iſt.“ Ein hiſtoriſcher Stoff konnte ihm über⸗ haupt nicht taugen, wenn er ein modernes Seitenſtück XIV Einleitung ſchaffen wollte. Obendrein verſpürte er mehr und mehr die Bande, in die hiſtoriſche Stoffe den Dichter ſchlagen, der Allgemeinmenſchliches auf die Bühne bringen will. Schon im Frühjahr 1799 meldet denn auch Goethe von einem Verſuche Schillers, die Fabel eines neuen Stückes „in dem Feld der freien Erfindung zu ſuchen“. Zwei Jahre ſpäter teilt Schiller ſelbſt Ahnliches dem Freunde Körner mit, aber erſt im Sommer 1802 geht er an die Arbeit, die er ſchon am Silveſterabend zum größten Teile den Seinigen vorleſen konnte. Ganz eigne Erfindung nennt Schiller ſelbſt die Fabel. Er hat Naheliegendes herbeibemüht, hat ein Lieblingsmotiv ſeiner Jugendzeit, feindliche Brüder, die dasſelbe Weib lieben, zum Ausgangspunkt genommen. Näher noch als die „Räuber“ ſteht Leiſewitz' „Julius von Tarent“, der Abgott ſeiner Frühzeit, der Konzeption der „Braut von Meſſina“: auch hier wird die Geliebte aus dem Kloſter entführt. Allein diesmal macht Antikes ſich eindringlich geltend. Wie im „König Oedipus“ iſt ein Kind beſtimmt, dem fluchbeladenen Hauſe Unheil zu bringen; es ſoll ge⸗ tötet werden und wird heimlich gerettet; es wächſt un⸗ bekannt mit ſeiner Herkunft auf und wird ahnungslos zum Werkzeug der Vernichtung. Unnatürliche Liebe und Verwandtenmord kommt auf beiden Seiten hinzu. Weni⸗ ger wäre an die Söhne des Oedipus, an Eteokles und Polyneikes zu denken, die Schiller durch feine Ubertragung der „Phönizierinnen“ des Euripides nahelagen. Denn ausdrücklich meidet er in einer Tragödie, die in einem Fürſtenhauſe ſpielt, die feindlichen Brüder im Kampf um die Krone zu zeigen, auch hier bemüht, das Allgemein- menſchliche zu wahren, nicht ſo ſehr ſtreitende Fürſtenſöhne Einleitung XV als vielmehr zwei Brüder zu zeigen, die ihre Schweſter lieben. Den rührſeligen Familienſtücken ſeiner Zeit ſtellt er eine Familientragödie hohen Stils gegenüber, nicht eine dramatiſierte Staatsaktion. Dagegen verſucht er dem Orakel denſelben Anteil zu geben, den es in dem Stücke des Sophokles hat. Zwei Träume künden zweideutig genug das Kommende an. Seltſamerweiſe entfernt die Nachahmung dieſes einen charakteriſtiſchen Requiſits das Stück Schillers von ſeinem Vorbild. Denn — nochmals ſei die nicht genug zu beto⸗ nende Merkwürdigkeit hervorgehoben — „König Oedipus“ iſt fo ſehr ein rein analytiſches Drama, daß dramatiſch⸗ techniſch für die Entwicklung der Kataſtrophe das Orakel gar nicht in Betracht kommt. Nicht, daß das Orakel in Erfüllung geht, ſondern daß die Taten des Oedipus, die vor das Stück fallen, ſobald ſie in ihrer Tragweite ihm bewußt werden, zur Kataſtrophe führen müſſen, iſt das techniſch Entſcheidende. Ganz anders Schiller! Er läßt ſeine Perſonen, voran Don Ceſar, auf der Bühne noch zu Taten gelangen, die lediglich aus dem dumpfen Wahn des Fürſtenhauſes, aus dem Verheimlichen und Ver⸗ ſchweigen ſich ableiten laſſen; das Traum⸗ und Orakelhafte wirkt auf die Entſchlüſſe der auf der Bühne Handelnden faſt ebenſo ſtark wie die Vergangenheit. Reine Analyſis wäre nur zu ſtande gekommen, wenn das Stück nach der Ermordung Don Manuels begänne. Schiller alſo iſt nicht nur von dem Vorbild abgewichen, er iſt ſeiner eignen Theorie untreu geworden; nicht bloß den Menſchen, der unter einer ſchickſalartigen Verkettung von Tatſachen leidend ſeine Freiheit wahrt, auch den, der in dumpfem Wahne ſein Schickſal ſich ſelber ſchafft, hat er vorgeführt. XVI Einleitung Daher wirkt die „Braut von Meſſina“ weit ſtärker im Sinne einer Schickſalstragödie, als der „König Oedipus“. Denn das Schickſal ſehen wir am Werk, nicht ein fertiges Schickſalswerk wird zur Erkenntnis gebracht. Den Ein⸗ druck einer Schickſalstragödie verſtärkt noch der immer wiederkehrende Hinweis auf den „alten Fluch“, auf „des Geſtirnes“ oder eines „böſen Sternes Macht“, auf die „unregierſam ſtärkere Götterhand“, auf den „neidiſchen Dämon“, auf das „Verhängnis“, auf die „Himmels⸗ mächte“. Die Liebe ſelbſt, die „heiße Liebesglut“, der „mächtige Drang“, raubt den Handelnden alle Freiheit der Entſcheidung. Die Motivierung aber weiſt an eben den Stellen des Stückes angreifbare Seiten, wo die nicht der Vor⸗ geſchichte zugewieſene, ſondern in den Bühnenvorgang aufgenommene Handlung Ceſars begründet werden ſoll. Die entſcheidende Szene hat etwas ängſtlich Ausgerech— netes. Nach der Meldung, daß Beatrice geraubt ſei, darf Manuel das Geſpräch zwiſchen Diego und Don Ceſar (V. 1590 ff.) nicht hören, ſonſt wäre ſofort alles enthüllt und die Weiterentwicklung des Stückes unter⸗ brochen. Er muß um Iſabella beſchäftigt ſein, muß nach⸗ her „aus einer tiefen Zerſtreuung erwachen“ (nach V. 1628); ferner darf Iſabella ihm nicht Rede ſtehen, ſondern muß den Fragenden „forttreiben“ (nach V. 1635), damit er die Schweſter rette. Genau abgezirkelt hat Schiller das Auf- und Abgehen der Perſonen, um das folgenſchwere Geheimnis nicht vorzeitig zu lüften. Allein auch vorher darf Ceſar (V. 1162 ff.), wenn er ungeſtüm um Beatricens Hand wirbt, ihre Antwort nicht ab— warten, vielmehr muß er ihr entſetztes Schweigen Einleitung XVII für „ſchamhafte Demut“ halten. An dieſen gefährlichen Wendepunkten der Handlung überläßt Schiller wieder dem Schauſpieler, das Unwahrſcheinliche möglich zu machen. Wer da meint, ſchönreden genüge allein, um Schiller zu ſpielen, der kann das Stück zu Falle bringen. Die ſeeliſchen Stimmungen, aus denen hier alles keimt, müſſen ſtark herausgearbeitet werden; hat ſie doch Schiller dem Kundigen angedeutet. Wenn er auch auf detaillierte Seelengemälde verzichtet, er hat ausgeprägte Charakter⸗ typen vor Augen; und wenn auch ſeine Theorie den Umſtänden alles, den Charakteren nichts überlaſſen will, Manuels verſonnene und verſchloſſene Schwerfälligkeit, Ceſars ſanguiniſche Hitze allein erklären den tragiſchen Ausgang. Nur dieſer Ceſar wird hereinſtürmen und, ſobald er Beatricen in Manuels Armen ſieht, ohne ein Wort, ja nur eine deutende Gebärde abzuwarten, den Bruder niederſtechen. Dieſe unter dem Drucke des Schickſals handelnden, nicht bloß leidenden Charaktere paſſen nicht in Schillers Theorie, laſſen den Eindruck eines analytiſchen Dramas im Sinne des „König Oedipus“ nicht aufkommen. Allein der dramatiſchen Wirkung werden ſie, richtige Darſtellung vorausgeſetzt, gerecht; ja ſie ſind ein glänzender Beleg für die unaufhaltſame Kühnheit, mit der Schiller das ihm Nebenſächliche beiſeite ſchiebt, um das Weſentliche deſto kraftvoller auszuprägen. Denn von der Ermordung Don Manuels ab kommt ſeine Tragik rein zur Geltung. Don Ceſar ſteht plötzlich einem Schickſal gegenüber, das ihn zermalmt; und Schiller hat dafür geſorgt, daß ſeine moraliſche Widerſtandskraft ungebrochen bleibt, noch mehr, daß er unter dem Druck der Verhängniſſe soe ches Schillers Werke. VII. XVIII Cinleitung bewußt wird, das in ihm liegt. In meiſterhafter Stei- gerung läutert Schiller den Todesentſchluß, bis Ceſar in voller Freiheit, nicht um ſelbſtiſcher Motive willen, ſondern nur um dem Rechte ſeinen Lauf zu geben, die Strafe an ſich vollſtreckt. In dieſer abſteigenden Phaſe der Handlung läßt Schiller alles auf Ceſar einſtürmen, was dem Menſchen teuer iſt und ihn von einer rückhalt⸗ loſen Erfüllung des Pflichtgebotes abhalten kann. Ginge Ceſar im Bewußtſein dahin, daß Beatrice ganz dem toten Bruder gehöre, ſeine letzte Tat wäre nicht reiner Ausfluß der Selbſtbeſtimmung, ſie entſpränge zum Teil eiferſüchtiger Verzweiflung. Erſt wenn Beatrice die Hand zur Verſöhnung bietet, iſt Ceſar ganz frei; bewußt in ſeinen Armen zu halten, „was das irdiſche Leben zu einem Los der Götter machen kann“, erfüllt er, ledig aller irdiſchen Bande, das Pflichtgebot des Selbſtmords. Das iſt Oedipus, und das iſt mehr als Oedipus. Hier erhebt wirklich das Schickſal den Menſchen, den es ver— nichten will. Nicht nur in der Verwertung des Orakels möchte Schiller Schüler des Sophokles ſein; er holt noch ein zweites Requiſit aus der Vorratskammer des antiken Dramas: den Chor. Das einmal gewählte antike Vorbild folgerichtig nachzuſchaffen, wollte Schiller ſchon 1795 ſeinen „Malteſern“ einen Chor einfügen. Hatten ja 1787 die Brüder Stolberg Schauſpiele mit Chören vorgelegt. Wie Schiller das analytiſche Drama im Sinne ſeiner ajthe- tiſchen Grundanſchauungen faßt, ſo ſucht er auch für den Chor eine tiefere Begründung. Der dem Stücke vor— angeſtellte Aufſatz „über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ (ſ. Bd. 16) verſucht das Requiſit aus den Einleitung XIX Prinzipien der Aſthetik Schillers abzuleiten. Schiller will nicht die wirkliche, ſondern eine ideale Kunſtwelt auf der Bühne dargeſtellt ſehen. Darum iſt ihm der Chor als Mittel willkommen, den Zuſchauer dauernd in dem Be— wußtſein zu erhalten, daß auf der Bühne nicht Wirk⸗ lichkeit, ſondern Dichtung herrſche, daß nicht reale, fon- dern ſymboliſche Vorgänge ſich vor ihm abſpielen. Schiller iſt ferner Reflexionsdichter und weiß doch, daß Reflexion der reinen Poeſie widerſtreitet. So teilt er alle Reflexion dem Chor zu und „reinigt“ damit das tragiſche Gedicht. Endlich aber iſt Schiller ſich bewußt, daß die Tragödie leicht in dem Zuſchauer eine „blinde Gewalt der Affekte“ erregt, ihm die geiſtige Freiheit raubt. Nichts verpönt Schillers Aſthetik ſchärfer als ſolche Effekte. Der Chor mildert dieſe unkünſtleriſche Wirkung, indem er beruhigende Betrachtung den er— regten Leidenſchaften gegenüberſtellt und jo dem An⸗ ſturm der Affekte dämmend entgegentritt. Wiederum eine einheitlich und groß gedachte Kunſtanſchauung; aber wiederum leitet die praktiſche Ausführung auf Pfade, die von dem vorſchreibenden Ziele ablenken. Schiller macht den Chor nicht nur zum Vertreter des Idealen und Ideellen, der Poeſie und der Reflexion, nicht nur geiſtige Freiheit atmet der Chor aus: er iſt auch handelnde Perſon und „ſoll die ganze Blindheit, Be— ſchränktheit, dumpfe Leidenſchaftlichkeit der Maſſe dar- ſtellen“. Noch mehr: er wird in zwei Teile geſpalten, deren einer Manuel, deren andrer Ceſar anhängt. Der⸗ ſelbe Chor, der mit überlegener Ruhe jetzt über die Leidenſchaften der Handelnden wegblickt, bekämpft ſich ſelbſt gleich darauf mit noch geſteigerter Leidenſchaftlich— XX Einleitung keit. Ohne Zweifel verſtößt hier Schiller gegen ſeine Idee vom Chor, ſchafft auch etwas dem antiken Chor durchaus nicht Entſprechendes, ebenſo wie er dem analy- tiſchen „König Oedipus“ ein nicht rein analytiſches Drama in der „Braut von Meſſina“ folgen läßt. Allein mit Recht hat ein feinſinniger Literarhiſtoriker den Kritikern, die Goethes „Achilleis“ unhomeriſch fan- den, die Worte entgegengehalten: „Es wäre doch wohl ein ſchlechter Ruhm für Goethe geweſen, eine recht vollkom— mene Imitation zu liefern!“ Wie in dem kühnen Aufbau der „Braut von Meſſina“ die tragiſche Wucht Schillers durch alle theoretiſchen Berechnungen fährt, fo hat er ſeinem Chor, den er, als mutiger Wager, dem Publikum hinſtellte, nicht zuletzt durch die Macht ſeiner Sprache die künſtleriſche Rechtfertigung mitgegeben, durch dieſes „lyriſche Prachtgewebe“, das heute als ſelbſtverſtändlich und als Beiwerk gilt, obwohl vor und nach Schiller kein deutſcher Dichter Gleiches zu ſchaffen verſtanden hat. Die freie Behandlung antiker Form ſtimmt indes auch mit der Verknüpfung antiker und moderner Anſchauungen und Bräuche, die Schiller auf ſiziliſchem Boden ſich ge— ſtattet, „wo ſich Chriſtentum, griechiſche Mythologie und Mohammedanismus wirklich begegnet und vermiſcht haben“. „Die Vermiſchung dieſer drei Mythologien, die ſonſt den Charakter aufheben würde, wird hier ſelbſt zum Charakter“, ſagt Schiller; wir fügen hinzu: auch die Verſchmelzung moderner und antiker Kunſtform. Solche Miſchungen wagt gleichzeitig die Romantik, die durch die Verbindung aller Zeiten, Länder, Formen als „progreſſive Univerſalpoeſie“ ſich bewähren will. In romantiſchem Sinne entwirft Goethe um dieſelbe Zeit Einleitung XXI den dritten Akt ſeines zweiten Fauſtteiles, läßt antike Geſtalten ins mittelalterliche Leben treten und paart — wie die „Braut von Meſſina“ — den antiken Tri⸗ meter mit modernſten Maßen. Die Romantiker ſelbſt haben dieſen Zuſammenhang gefühlt. Aus Paris ſchreibt Friedrich Schlegel an ſeinen Bruder im Auguſt 1803: „Was für ein Weſen iſt Schillers Braut von Meſſina? Iſt ſie alarkiſch?“ Und wie eine Antwort klingt, was Brentano ſchon im April Arnim zu melden weiß: „Die Braut von Meſſina“ ſei „alarkiſch mit Chören“. Frech genug erſcheint das heute! Allein, wenn Schiller Fr. Schlegels „Alarkos“ verächtlich ein „ſeltſames Amalgama des Antiken und Neueſtmodernen“ nennt, ſo vergißt er die verwandten Bindungen ſeiner eignen Schöpfung, ebenſo wie Wilhelm Schlegel nur ſich ſelbſt und ſeine Genoſſen trifft, wenn er der „Braut von Meſſina“ vorwirft: „Die Sinnesart der dargeſtellten Menſchen kann nicht zugleich heidniſch und chriſtlich ſein.“ Den künſtleriſchen Unterſchied der beiden Stücke feſtzuſtellen, ſind wir heute nicht verlegen. Gemeinſam aber iſt ihnen und ihrer Zeit das Streben, das Ent⸗ fernteſte zu verſchmelzen, gemeinſam auch der Schickſals⸗ gedanke. Eben das Schickſalsmotiv, das im „König Oedipus“ ganz anders zur Geltung kommt, verbindet Schillers Stück mit ſeiner Epoche. 2. Wilhelm Tell. „Man muß ſich durch keinen allgemeinen Begriff (der Tragödie) feſſeln, ſondern es wagen, bei einem 8 XXII Einleitung neuen Stoff die Form neu zu erfinden, und ſich den Gattungsbegriff immer beweglich erhalten.“ Bei der Vor⸗ bereitung der „Jungfrau von Orleans“ hat Schiller dieſen Geſichtspunkt Goethe gegenüber aufgeſtellt (26. Juli 1800), bei dem Übergang von der „Braut von Meſſina“ zum „Tell“ ihn eindringlicher als je beobachtet. Die „Braut von Meſſina“ zu verſtehen, muß man die Ent⸗ wicklung, die Schillers äſthetiſche und techniſche Grund⸗ ſätze in ſeiner Reifezeit durchmachen, jederzeit ſich gegen⸗ wärtig halten; man muß dieſelben Grundſätze vergeſſen, ö um dem „Tell“ gerecht zu werden. Diesmal baut der Stoff ſich die Form. Dieſen Stoff will Goethe Schillern „überlaſſen“ haben. Sicher iſt, daß die Schweizer Reiſe von 1797 in Goethe die Idee eines epiſchen Gedichtes wachrief, das die „Fabel von Tell“ behandeln ſollte, aber unaus⸗ geführt blieb; ferner, daß Schiller von dieſem Plane wußte. Allein unzweideutig hat Schiller mehrfach in faſt wörtlich ſtimmenden Wendungen (an Cotta 16. März, an Körner 9. September 1802, an Iffland 22. April 1803) bezeugt, daß allein das falſche Gerücht, er bearbeite die Sage, ihn auf den Gegenſtand aufmerkſam gemacht, daß er dann das Chronicon Helveticum von Tſchudi vor⸗ genommen habe und ihm nun „ein Licht aufgegangen“ ſei; „denn dieſer Schriftſteller hat einen ſo treuherzig herodotiſchen, ja faſt homeriſchen Geiſt, daß er einen poetiſch zu ſtimmen im Stand iſt.“ Des „Aegidii Tſchudii geweſenen Landammanns zu Glarus Chronicon Helveticum“ hat Schiller in Joh. Rud. Iſelins Ausgabe (1734 —1736) benutzt. Als ſimpler Chroniſt erzählt Tschudi, von Jahr zu Jahr vorſchreitend, Einleitung XXIII die Schweizer Geſchichte der Zeit von 1304 —1308 in ſolcher Abfolge: 1304: Die „Waldſtett Uri, Schwitz und Underwalden“ ſenden Boten an König Albrecht, daß er einen Reichs vogt ernenne, der im Sinne ihrer alten Freiheiten des Blutbanns walte. Albrecht ſchickt indes zwei habs burgiſche Land- vögte, Geßler und Landenberg. Landenberg ſetzt auf Al⸗ brechts Befehl Wolfenſchießen auf Burg Rotzberg. 1305: Neue Boten klagen bei Albrecht über die Be⸗ drückung durch Geßler und Landenberg. Antwort: ſie ſollten zu gelegener Zeit wiederkommen. 1306: Wolfenſchießen wird wegen ſeiner ungebührlichen Forderung von Baumgarten erſchlagen. — Der 19jährige Herzog Johann bittet, ſeine Erblande regieren zu dürfen, und wird abgewieſen. 1307: Melchtal verwundet den Knecht Landenbergs; ſeinem Vater werden die Augen ausgeſtochen. — Geßler erbaut Zwing Uri und läßt den Hut aufrichten. — Geßlers Geſpräch mit Stauffacher, dem ſeine Frau rät, mit Freunden auf gemeinſame Abwehr zu ſinnen. Stauffacher beſchließt mit Walter Fürſt und Melchtal, Genoſſen zu werben. Das Rütlin ſoll der Ort ihrer Zuſammenkunft ſein. — Auch der Adel, voran Werner von Attinghauſen, iſt den Vögten feind, die ihm raten, von der Seite der Bauern auf die des Fürſten zu treten. — Johanns zweite Bitte wird höhniſch abgewieſen. — Mehrfaches Tagen auf dem Rütlin; die Haupttagung, am Mittwoch vor Sankt Martin, ſetzt auf den Vorſchlag Unter⸗ waldens feſt, bis Neujahr zu warten. — Wilhelm Tell ver⸗ weigert dem Hute die Reverenz. Apfelſchuß. Sprung auf die Platte. Ermordung Geßlers. [Tell erſcheint nur hier!] 1308, Neujahr: Eroberung Rotzbergs und Sarnens, Zerſtörung Zwing Uris. Bundesſchwur. Albrecht will gegen die Waldſtätte ziehen. Das Horniswunder. Johanns dritte Bitte. Ermordung Albrechts. Flucht Johanns. Agnes' Rache; Eliſabeths Bitte an die Waldſtätte wird abgelehnt, ebenſo Johanns Werben um Hilfe. XXIV Einleitung Seit Anfang 1802 war Schiller bemüht, dieſen Stoff zu formen. Vom September ab nahm die „Braut von Meſſina“ ſeine ganze Kraft in Anſpruch; erſt im Mai 1803 kam nach längerem Schwanken „Tell“ zu ſeinem vollen Rechte; am 18. Februar 1804 war die Dichtung beendet. Dem chronikaliſchen Bericht hat Schiller in dem endgültigen Aufbau ſeines Dramas ſich aufs engſte an⸗ geſchloſſen, ja einige Abweichungen von dieſem Nachein⸗ ander, die er während der Ausarbeitung ſich verſtattet hatte, nachträglich aufgegeben. Derſelbe Schiller, der ſonſt frei mit der Überlieferung ſchaltet und fie unbedenk⸗ lich den dramatiſch⸗techniſchen Geſichtspunkten zuliebe ummodelt! Die Ereigniſſe der Jahre 1304 und 1305 gehören allerdings der Expoſition an; dann aber ſetzt Schiller mit Baumgarten ein und läßt, indem er Melch⸗ tals Handel mit Landenberg wieder der Vorgeſchichte anheimgibt, mit leiſer Verſchiebung der Einzelheiten Stauffachers Geſpräch mit ſeiner Frau, den Bau von Zwing Uri und die Aufrichtung des Hutes, endlich den Bund Stauffachers, Walter Fürſts, Melchtals im erſten Akte folgen. Den Weg Tſchudis weitergehend, ver- wertet er am Anfang des zweiten die Bemerkungen über Attinghauſen und das Verhältnis des Adels zu den Vögten in der Szene zwiſchen Attinghauſen und Rudenz, deſſen Geftalt er aus den Andeutungen Tſchudis erſchafft; er reiht wie dieſer den Vorgang auf dem Rütli an und teilt, was Tſchudi anfügt, den Konflikt zwiſchen Tell und Geßler, den Apfelſchuß alſo, den Sprung auf die Platte und die Ermordung des Vogts, dem dritten und zum Teil dem vierten Akte zu. Im fünften Akte wird Einleitung XXV endlich erzählt, was Tſchudi von der Eroberung Rotzbergs und Sarnens und von dem Tode Albrechts berichtet. Freier eingeordnet iſt nur, was Herzog Johann betrifft (V. 1336 ff.), dann das Horniswunder (V. 2670 ff.); gänzlich fehlten bei Tſchudi das Zuſammentreffen Tells mit Parricida, ferner Berta und die Vorgänge, die ſich um ſie reihen, dann der Tod Attinghauſens. Von kleinen Epiſoden, wie von der Armgartſzene, ſei hier abgeſehen. Konnte Schiller unzweideutiger dartun, daß ihm diesmal alles an ſchonender Wiedergabe der Überlieferung und nichts an einheitlichem techniſchem Aufbau lag? Jede Erwägung der von Schiller gewählten dramatiſchen Form muß von dieſer Tatſache ausgehen. In ſchroffem Gegenſatz zu dem Brauche, den er ſonſt immer in ſeiner Reifezeit übte, ſchrieb er diesmal ein chronikaliſches Stück. Dem ausgeſprochenen Willen des Dichters gegenüber gibt es kein Drehen und Deuteln. Mit einer bei ſeinem Temperament und feiner ſouveränen Bühnenbeherrſchung doppelt wunderbaren Kraft der Einfühlung hat er dem Stoffe ſein künſtleriſches Geſetz abgelauſcht. Die Zuſätze ſcheinen auf den erſten Blick ſo gering⸗ fügig, daß ſie billigerweiſe der Phantaſie Schillers zu⸗ geſchrieben werden könnten. Um ſo auffallender wirkt die verbürgte Nachricht, daß er durchaus nicht bloß aus Tſchudi, ſondern aus einer langen Reihe weiterer Quellen ge- ſchöpft hat. Mit raſtloſem Eifer hat er ſie zuſammen⸗ geſucht, vielleicht nie vorher für eine ſeiner Dichtungen gleich viel Vorſtudien getrieben. Freilich dienten ſie ihm zumeiſt, das Lokalkolorit eines Landes zu treffen, das er nie geſehen hat. Allein über dieſe Ziele hinaus führen nicht nur die verwerteten Chroniken von Etterlin XXVI Einleitung | und Stumpf, führten vor allem Johannes Müllers „Ge⸗ ſchichten Schweizeriſcher Eidgenoſſenſchaft“, deren erſtes Hund zweites Buch, bis 1415 reichend, 1786 erſchienen war. Galt doch Müller lange Zeit als Schillers Haupt⸗ quelle; ja Wilhelm Schlegel verſtieg ſich 1806 zu der Behauptung, Schiller habe den „Tell“ mehr Johannes Müller als ſich ſelbſt zu danken. Ferner ſcheint ein guter Teil der zahlreichen Dramen, die ſeit dem alten Urner Spiel aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts in der Schweiz dem Nationalhelden gewidmet worden ſind, vielleicht weniger im Einzelnen als in der Geſamtheit ihren Einfluß ausgeübt zu haben. Klarheit in die Quellenverhältniſſe zu bringen, müſſen in erſter Linie die Abweichungen erforſcht werden, die Schiller Tſchudi gegenüber ſich erlaubt hat. Natür⸗ lich iſt ihm der Titelheld nicht bloß Epiſode. Wie die Mehrzahl der Schweizer Dramatiker hat ja auch er nicht den Rütlibund, ſondern Tell ſelbſt in den Vordergrund cgeſchoben und ſchon rein äußerlich mehr Raum im Stücke dem Konflikte zwiſchen Geßler und Tell überlaſſen, als Tſchudi in ſeiner Chronik. Er führt eindringlich Tell als Vater und Gatten uns vor: das war ſelbſtverſtänd— lich; er macht ihn auch zum Retter Baumgartens und gewinnt damit gleich am Anfang des Stückes eine ſym— boliſche Vorankündigung des kommenden Erretters der Heimat. Allein all dies tritt in den Hintergrund, ſobald erkannt iſt, daß Schiller Tells Verhältnis zu den Rütli⸗ bündlern weſentlich anders als Tſchudi, ja im Gegenſatz zu allen ſeinen gedruckten Quellen faßt. „Ein redlicher frommer Land-Mann von Uri, Wilhelm Tell genannt (der auch heimlich in des Pundts Gefell- Einleitung XXVII ſchaft was)“, ſo führt Tſchudi ihn ein. Schiller ſondert ausdrücklich Tell von dem Bunde; ja, wenn er ihn (Auf⸗ zug 1, Szene 3) mit Stauffacher in freier Erfindung auf die Bühne bringt, geſchieht dies nicht nur, damit Tell der Verkündigung des Hutbefehls anwohne, ſondern auch damit wir hören, Tell wolle von dem Rat der Genoſſen fernbleiben und erſt hervortreten, wenn ſie ſeiner zu be⸗ ſtimmter Tat bedürfen. Der Widerſpruch, der bei Tſchudi zwiſchen dem Beſchluß des Rütlibundes, erſt zu Neujahr loszuſchlagen, und Tells weit früher fallender Tat be⸗ ſteht, iſt allerdings auf ſolche Weiſe behoben, ein Wider⸗ ſpruch, den auch Johannes Müller nicht meidet. Allein Tell und die Eidgenoſſen ſind damit aus jedem Zu⸗ ſammenhang gebracht. Anders macht es die Mehrzahl der Schweizer Dramatiker. Schon das alte Urner Spiel, das Schiller wahrſcheinlich in dem Exemplare der wei⸗ mariſchen Bibliothek (von 1698) kannte, ſtellt Tell mitten hinein in die Befreiungshandlung, ja erhebt ihn zum Führer in dem Dreimännerbunde; er empört ſich gegen die Tyrannei der Vögte, ehe er unter ihr gelitten hat, er bewegt Stauffacher und Melchtal zu dem Gelöbnis gemeinſamer Abwehr. Mit ſeiner Tat iſt dann die ſieg⸗ reiche Erhebung eingeleitet, deren weiterer Verlauf ledig⸗ lich von einem Herold in Epilogform berichtet wird. Ruefs Erneuerung des alten Spiels (1555) ſchreitet auf gleicher Bahn energiſch weiter und macht Tell noch tat⸗ kräftiger und zielbewußter; ebenſo hielten es die folgen- den Dramatiker. Von dieſen Dichtungen konnte Schiller, ſoweit er ſie überhaupt geleſen hat, nur das Eine lernen, im Gegenſatz zu Tſchudi der Ermordung Geßlers eine wichtigere, ja entſcheidende Rolle innerhalb der XXVIII Einleitung Empörung zu geben; die Sonderſtellung indes, die er Tell zuweiſt, widerſpricht der dramatiſchen Tradition noch ſchärfer als der chronikaliſchen Quelle. Wir wiſſen, daß Schiller auch zu ſeiner Faſſung von Tells Verhältnis zu den Eidgenoſſen nicht ohne weiteres gelangt iſt. Zeitweilig wollte er den Plan ganz auf Tell einſchränken; das hätte die ſtärkſte Ab⸗ weichung von Tſchudi ergeben und wäre den Schweizer Dramen am nächſten gekommen. In ſeinem Nachlaß findet ſich ferner die Erwägung: „Tell könnte auch unter den Abgeſandten geweſen ſein, die man an den Kaiſer ſchickt, um den Landvogt zu verklagen.“ Alſo dachte Schiller doch auch an die Möglichkeit, Tell inner- halb der Geſamthandlung eine wichtigere Rolle zuzu⸗ teilen. Was zuletzt den Ausſchlag gegeben hat, dem Titelhelden eine Sonderſtellung zu leihen, iſt vorläufig mit Sicherheit nicht anzugeben. Ja, wenn Goethes ſpäter und drum wohl trüber Erinnerung zu trauen wäre, dann hätte er Schiller den Weg gewieſen. Die in den erſten zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts verfaßten „Annalen“ von 1804 und ein völlig mit ihnen übereinſtimmendes, von Eckermann (6. Mai 1827) ge⸗ buchtes Geſpräch berichten: Goethes Tell ſollte, ohne ſich weiter um Herrſchaft noch Knechtſchaft zu bekümmern, das Gewerbe eines Laſtträgers treiben, fähig und entſchloſſen, nur die unmittelbarſten perſönlichen übel abzuwehren. Das Höhere und Beſſere der menſchlichen Natur — das Gefühl der Freiheit und Sicherheit unter dem Schutze vaterländiſcher Geſetze, das Gefühl der Schmach, ſich unter- jocht und mißhandelt zu ſehen, die zum Entſchluß reifende Willenskraft, ein verhaßtes Joch abzuwerfen — war den Einleitung XXIX Walter Fürſt, Stauffacher, Winkelried zugeteilt, während Tell und Geßler perſönlich gegen einander ſtehen und unmittelbar auf einander wirken ſollten. Dieſer „koloſſal kräftige Laſtträger“ Tell, der feſten Fußes auf der wohl⸗ gegründeten Erde ſteht, unbekümmert um das Ideelle, das in den Eidgenoſſen wirkt, er iſt ein Seelenverwandter des Mannes, der ſagt: „Der Starke iſt am mächtigſten allein!“ Indes wie viel hat wohl Goethe ſelbſt von der Auffaſſung Schillers nachträglich in ſeine Rekonſtruktion des eigenen Planes aufgenommen? Näher läge anzu⸗ nehmen, daß der Zug nach individualiſtiſcher Ausprägung der Tellgeſtalt in der Zeit lag: Schiller verſetzt einen individualiſtiſchen Helden in ein Drama, das die ſieg⸗ reiche Erhebung eines Volkes ſchildert und dieſes Volk in ſeiner Eigenart liebevoll erfaſſen will. Goethe denkt ſpäter wenigſtens an Gleiches. Klaſſizismus und Ro⸗ mantik ſind ja einig in der Lehre von dem ſtarken In⸗ dividuum. Läßt doch gleichzeitig mit Schillers „Tell“ Friedrich Schlegel in dem ſchon oben erwähnten „Alar— kos“ das Wort erklingen: „So ſtarke Seelen ſind allein am ſtärkſten!“ Wozu alſo nach einer Quelle ſuchen, wenn das Zeitalter nach dem großen Einzelnen ruft? Dem Dichter, der Wallenſtein und Johanna zu alles⸗ beherrſchenden und ⸗bezwingenden Individuen erhob, der beide im Gegenſatz zu ihrer Umgebung groß zeigte, lag ein Tell, der ſeine Wege geht, ſicher nahe. Vielleicht indes ſind die Vorausſetzungen, auf denen der Charakter von Schillers Tell und ſeine Stellung zum Rütlibund ruht, noch an ganz anderer Stelle zu ſuchen. Seinen Schweizer Quellen folgend, legt Schiller dem Befreier die Worte in den Mund: „Wär' ich be⸗ XXX Einleitung ſonnen, hieß' ich nicht der Tell.“ Bei Tſchudi, bei Etterlin, im Urner Tellenſpiel konnte er die Wendung finden; ſicher hat fie ihn ſtark beſchäftigt (vgl. zu V. 1872). Nicht ausgeſchloſſen ſcheint, daß ſie ihm zur Keimzelle der Charakteriſtik Tells wurde, daß dieſe von der Schweizer Überlieferung hervorgehobene „Unbeſon— nenheit“ Tells den Dichter veranlaßt hat, trotz Tſchudi und den älteren Dramen ſeinen Helden nicht zum Mann des Rates, ſondern zum Mann der Tat zu machen und den handelnden Helden zu den erwägenden Eidgenoſſen in Gegenſatz zu bringen. Mag dieſe Vermutung zutreffen oder Goethes An⸗ regung doch ſtichhaltig ſein, ſicher kommt der Rütlibund durch Schillers Auffaſſung von Tells Charakter in eine üble Lage. Ein großer Aufwand wird faſt erſolglos vertan. Mächtig ſteigt die Handlung der Eidgenoſſen bis zum Rütli empor. Dann aber tritt Tell in den Vordergrund; und was nach dem Apfelſchuß von den Verbündeten ge- leiſtet wird, es wird auf der Bühne nur erzählt, nicht (wie Schiller gelegentlich plante) auch dargeſtellt und ſcheint nur ſelbſtverſtändliche Folge der Tat Tells. So endet ja auch das Urner Spiel; aber dort ijt vorher keine Verſamm⸗ lung auf dem Rütli zu machtvoller Wirkung gelangt. Ja, die Männer, die bei Schiller auf dem Rütli ſchon zum Bewußtſein ihrer Kraft gekommen ſind, geben gleich darauf zu, daß Tell nach dem Haupte ſeines Kindes ziele und dann von Geßler ins Gefängnis geſchleppt werde. Die Tatſache, daß man das Losſchlagen auf ſpätere Zeit verſchoben, die Antwort, die Stauffacher dem drän— genden Melchtal erteilt: „Es iſt umſonſt. Wir haben keine Waffen, Ihr ſeht den Wald von Lanzen um uns Einleitung XXXI her“ — fie genügen naivem Empfinden nicht. Gottfried Keller läßt denn auch, wenn er in ſeinem „Grünen Heinrich“ eine echt ſchweizeriſche Volksaufführung von Schillers „Tell“ abkonterfeit, die Rütliſzene auf den Apfelſchuß folgen. Die hier geübte naive Technik der Wiedergabe von Schillers Drama macht die Widerſprüche vergeſſen, in die eine ſolche Umſtellung ſich verwickelt. Schiller ſelbſt aber hat gefühlt, daß an dieſer Stelle etwas nicht ſtimme, und einmal die Möglichkeit erwogen: „Jünglinge wollen den gefangenen Tell gewaltſam be- freien. Die Alten verhindern es und entdecken ihnen die Verſchwörung.“ Wenn er aber nicht wie Kellers Schweizer zu dem Kraftmittel griff, die Rütliſzene hinter den Apfelſchuß zu ſtellen, ſo beſtimmte ihn neben anderen techniſchen Gründen ſicher am ſtärkſten der Wunſch, von Tſchudis Nacheinander nicht abzuweichen. Alſo auch da, wo Schiller von Tſchudi abgeht, in der Darſtellung von Tells Verhältnis zu den Eidgenoſſen, bleibt er ihm doch näher als den anderen hiſtoriſchen und dichteriſchen Berichten. Der enge Anſchluß, insbe⸗ ſondere in der Abfolge, iſt aber um ſo auffallender, als Schiller nach eigenem Bekenntnis durchaus nicht das Stück von Anfang bis zum Ende in regelmäßigem Weiterſchreiten ausgearbeitet, ſondern jede der einzelnen Handlungen für ſich geſtaltet und dann erſt ſie in Reih und Glied gebracht hat. Da mag denn wohl auch noch dies oder jenes der Schweizer Dramen einen Zug ge- liehen haben, zunächſt das Urner Spiel, kaum Ruef, ſicher nicht Stettler (1605) und Weißenbach (1672), auch nicht die franzöſiſchen Stücke des unglücklichen Henzi (1748, umgearbeitet 1762), der durch Leſſing der Nach⸗ XXXII Einleitung welt gegenwärtig bleibt, und Le Mierres (1766); weit eher Bodmers vier hergehörige Dramen (1775), dann Joh. Ludwig Ambühls „Schweizerbund“ (1779) und „Wilhelm Tell“ (1792). Allein unſicher genug bleibt alle nähere Vergleichung. Wenn das Urner Spiel in dem Aufbau der Melchtalſzene, in Stauffachers Rede auf dem Rütli, in der Konzentration der Apfelſchußſzene an Schiller erinnert, fo ergab doch ſchon die bloße drama— tiſche Umformung der hiſtoriſchen Berichte auf beiden Seiten Gleiches, und nur die Wiederholung des Eides durch den Chor auf dem Rütli (ogl. zu V. 1448) kann als zwingendere Übereinſtimmung aufgefaßt werden. Ahnliches gilt von Ambühl, der möglicherweiſe, ebenſo wie Bodmer, Schiller ein paar Namen lieh. Bodmer könnte ferner auf Rudenz' Geſtaltung gewirkt haben; allein die Vorausſetzung dieſer von Schiller erfundenen Figur war ſchon bei Tſchudi anzutreffen. Dagegen fühlte Bodmer am ſtärkſten unter allen Vorgängern Schillers die ſittlichen Zweifel, die Schiller die volle Freude an Tells Tat verkümmern; ihnen entkeimte Tells viel— beſtrittener Monolog (V. 2561 ff.), der indes, aus der Situation heraus gedacht, der alsbald gewaltig anſchwel— lenden Schlußſzene des vierten Aufzugs (ihre künſtleriſche Ausgeſtaltung iſt ganz Schillers Werk) eine wohlerwogene Stimmungsgrundlage leiht. Nicht minder entſtammt jenen Zweifeln die noch mehr angegriffene Szene zwiſchen Tell und Parrieida, zu der vielleicht A. G. Meißners „Johann von Schwaben“ (1780) beitrug. Allein dieſe mehr oder minder hypothetiſche Ab— hängigkeit von älteren Dramen, dann die ſicherere von Tſchudi und von Müller (die Anmerkungen geben Einleitung XXCIII Belege) läßt dem Genie Schillers noch immer Raum, aus eigener Kraft künſtleriſch zu walten. Wie Schiller auf der einen Seite eine von Tſchudi in Dialogform gegebene Szene, das Geſpräch Geßlers mit Stauffacher, ohne weiteres ins Epiſche umgießt und von Stauffacher erzählen läßt, ſo gehören ihm wiederum die großen dramatiſchen Momente. Armgarts leidenſchaftliche Wn- klage hat er ganz frei erfunden; eine ſeiner gewaltigſten Enſembleſzenen, das Rütli, iſt in ihrer Bühnenwirkung ſein Eigentum, und was der Dramatiker Schiller leiſten kann, bezeugt er am beſten, wo er faſt wörtlich den Dialog der Quelle entnimmt, in der Apfelſchußſzene. Da gilt wieder einmal das Wort, daß in der Kunſt die Form alles, der Stoff nichts iſt. Und dieſe Macht der Bühnenkunſt dankt Schiller nur ſeinem eigenen Können, dem diesmal Shakeſpeare zum Anreger ward. „Ein Genie,“ ſagt Leſſing, „kann nur von einem Genie entzündet werden.“ Während Schiller am „Tell“ ar— beitete, erſchien „Julius Cäſar“ in Wilhelm Schlegels Meiſterüberſetzung auf der weimariſchen Bühne; Schiller aber ſchrieb nach der Aufführung an Goethe: „Für meinen Tell iſt mir das Stück von unſchätzbarem Werte, mein Schifflein wird auch dadurch gehoben. Er hat mich gleich geſtern in die tätigſte Stimmung verſetzt.“ Nur kann ſolche Entzündung des Genies durch das Genie nicht von Stelle zu Stelle belegt werden. Künſtleriſch aber be- deutet ſie mehr als alle wörtlichen Übereinſtimmungen mit den ſtofflichen Quellen. Allerdings haben dieſe Quellen, voran die Schweizer Dramen, nicht bloß ſtofflich, auch geiſtig auf Schiller gewirkt. War es doch ſeine beſtimmte Abſicht, 1 Geiſt Schillers Werke. VII. — — ae XXXIV Einleitung des Schweizer Volkes zu treffen; und ſo nimmt er die Schweizer Dramen, zunächſt die Bodmers, zu Zeugen echt ſchweizeriſcher Auffaſſung. Lehrhaftigkeit iſt auf dieſe Weiſe in den „Tell“ gekommen, ebenſo wie ein ſtarkes Vorwalten der Erzählung. Auch das hat man Schiller vorgeworfen, doch nicht in der Schweiz. Das Land, das Peſtalozzi und Gotthelf geboren hat, deſſen größter Dichter Gottfried Keller iſt, liebt einen Tropfen Didaxis in dem Tranke, den der Künſtler ihm reicht; und ebenſo liebt es, ſeine große Vergangenheit erzählt zu hören; Stauffacher auf dem Rütli handelt echt ſchweizeriſch, wenn er des längeren im Rat von den Taten der Ahnen berichtet. Solche ſtaunenswerte Erfaſſung ſchweize⸗ riſchen Weſens hat der erſte Schweizer Rezenſent des „Tell“ im Auge, wenn er erklärt: „Man würde ſchwören, Schiller habe ſeines Lebens größten Teil in Schwyz und Uri gelebt, unter dem einfachen, anmaßungsloſen und (doch kraftvollen Hirtengeſchlecht. So ſind dieſe wenig 1 Alpler in den Stunden der Not.. .; fo denken, fo handeln fie.” Und wenn ſpätere Kritiker, voran Gott- fried Keller, bekennen, daß die Schweizer vielleicht nicht ſo ſind wie Schillers Geſtalten, ſondern nur glauben, ſo zu ſein, ſo bezeugt dieſe Einſchränkung nur von neuem, wie gut Schiller den durchaus nicht leicht zu treffenden yee gefunden hat, den der Schweizer wünſcht. Wie in das Volk, hat Schiller auch in die Land- ſchaft ſich einzuleben verſucht. Ohne je das Meer ge— ſehen zu haben, zeichnete er im „Taucher“ einen Meeresſtrudel ſo ſicher und feſt, daß Goethe alle Er— ſcheinungen, die Schiller anführt, in der Natur wieder- finden konnte; geholfen hatte ihm nur die Betrachtung Einleitung XXXV einer Mühle und Homers Schilderung der Charybde. Ahnliches leiſtete Schillers Phantaſie im „Tell“. „Was in ſeinem „Tell“ von Schweizer Lokalität ijt, habe ich ihm alles erzählt; aber er war ein ſo bewunderungs⸗ würdiger Geiſt, daß er ſelbſt nach ſolchen Erzählungen etwas machen konnte, das Realität hatte“; ſo äußerte ſich Goethe (18. Januar 1827) zu Eckermann. Abermals muß einſchränkend bemerkt werden, daß Schiller nicht nur auf Goethes Kenntnis der Gegend weiterbaut. Das Lokal der Handlung ſich zu vergegenwärtigen, hat er Mühe und Unkoſten nicht geſcheut. Karten und Anſichten, dann Scheuchzers „Natur-Geſchichte des Schweitzerlandes“ (zumeiſt wohl in Sulzers Bearbeitung von 1746), Fäſis „Staats⸗ und Erdbeſchreibung der Helvetiſchen Eid⸗ genoſſenſchaft“ (1766), Ebels „Schilderung der Gebirgs- völker der Schweiz“ (1798) boten ihm das Geſuchte. Gewiß hat er eine naturaliſtiſche Wiedergabe trotzdem nicht angeſtrebt, ſondern eine heroiſche Landſchaft ge— ſchaffen. Allein er bewegte ſich ſo ſicher in der nie geſchauten Gegend, daß heute Reiſehandbücher das Gebiet der Tellhandlung durch ſeine Verſe erläutern. Kleine Verſtöße konnten ja nicht ausbleiben. Derſelbe Rezen⸗ ſent, der Schillers Urſchweizer echt nannte, warf ihm vor, er „desorientiere“ die Schweizer in ihrer eigenen Heimat: nie hätten Reiter, Baumgarten zu verfolgen, zur Treib heranſprengen können, denn nie ſei dahin ein ordentlicher Weg gegangen; auch ſei von Attinghauſen hinauf durchs Waldnachter Tal bis auf den Gipfel der Surennenalpen kein „weit verbreitet ödes Eiſesfeld“ (V. 999) zu paſſieren. Ahnliche Vorwürfe erklingen auch heute noch hie und da. Immerhin durfte Schiller — XXXVI Einleitung ſich auf Fäſi (II, 342 f.) berufen, wenn er die Surennen ins Grauſige hinüberſpielen ließ. Im ganzen aber hat er ſich wohl gehütet, in Verſen die Landſchaft zu malen; eingedenk ſeiner Rezenſion von Matthiſſons Gedichten, die Leſſings „Laokoon“ weiterſpinnt und dem Dichter auch bei der Wiedergabe landſchaftlicher Motive das Geſchäft des Malers verbietet, liefert er wohl in der Szenen⸗ angabe eine Schilderung, begnügt ſich aber ſonſt, geo— graphiſch genau die Dinge zu benennen und ſie dann nicht den Sinnen, ſondern dem Gefühl nahezubringen, weniger Anſchauung als Ideen zu erwecken. Scheuch⸗ zers Karte des Urnerſees läßt genau verfolgen, wie Geßlers Fahrt von Flüelen zur Tellsplatte in Schillers Phantaſie erſtand; aus Fäſi (II, 136 f.) holte er ſich hier den Gefühlsgehalt. Ebenſo arbeitet die Schilderung der Gotthardſtraße (V. 3242 ff.) zunächſt mit den ſprechen⸗ den Namen der Lokalitäten und entnimmt der gleichen Quelle die Stimmung der Situation und das Ideelle. Die Fülle der Naturanſchauung, die etwa Fauſts erſter Monolog im zweiten Teil bekundet (ſie iſt „aus dem Golde der Tell-Lokalitäten gemünzt“), kommt ſelbſtver⸗ ſtändlich bei ſolcher Technik nicht zu ſtande. Allein wirk— ſamer, weil weit weniger mühſam für die nachſchaffende Phantaſie des Leſers und Zuhörers, bleibt Schillers Vorgang. Fauſts Monolog fühlt nur der ganz nach, der Ahnliches ſchon geſehen hat. Schillers Schilderungen geben einen ſtarken Gefühlseindruck auch dem, der nie Alpenlandſchaft geſchaut hat; wer den Urnerſee und die Gotthardſtraße, Schillers „Tell“ in der Hand, beſucht, kann Stimmungs- und Ideengehalt ſeiner Verſe leicht auf die exakt bezeichnete Lokalität übertragen. Einleitung XXXVII Ahnlich macht es Schillers Liebling Matthiſſon. Sein „Genferſee“ ſkizziert nur flüchtig die Orte, 155 Rouſſeaus „Neue Heloiſe“ geheiligt hat, verweilt dafür um ſo länger bei der Ausſchöpfung ihres Gefühlsinhalts. Seiner „Alpenreiſe“ rühmt Schiller ſelbſt nach: „Man glaubt einen Tonkünſtler zu hören, der verſuchen will, wie weit ſeine Macht über unſere Gefühle reicht.“ Und er betont den Wechſel des Großen mit dem Schönen, des Grauenvollen mit dem Lachenden, den Matthiſſon hier zur Geltung bringt. Gleiches aber leiſtet Schiller ſelbſt in einzelnen der Alpenſtimmungsbilder des „Tell“. Das Intimſte des Matthiſſonſchen Tons gibt ſich im „Tell“ kund, wenn man etwa neben die Schilderung der Su⸗ rennen ein paar Strophen der „Alpenreiſe“ legt: Nun ſterben die Laute beſeelter Natur; Dumpftoſend umſchäumen Gewäſſer mich nur, Die hoch an ſchwarzen Gehölzen Dem Gletſcher entſchmelzen .. Hier wandelte nimmer der Odem des Mais; Hier wiegt ſich kein Vogel auf duftendem Reis; Nur Mooſ' und Flechten entgrünen Den wilden Ruinen. Jetzt neigt ſich allmählich von eiſigem Plan An brauner Granitwand hinunter die Bahn, Wie dräun, halb dunſtig umfloſſen, Die Felſenkoloſſen ... In Schillers „Berglied“ kehrt dieſelbe Stimmung wieder. Hier wie im „Tell“ hat Schiller dem Dichter, der die Schweiz aus eigener Anſchauung kannte, die Stimmung nachempfunden. — Die Romantik, die noch der „Braut von Meſſina“ —— eee: XXXVIII Einleitung gerade das zum Vorwurf machte, was dem ſpäten Be⸗ trachter als ihr romantiſcher Zug erſcheint, hat im „Tell“ das „vortrefflichſte“ von Schillers Werken gefunden. „Hier iſt er ganz zur Poeſie der Geſchichte zurückgekehrt; die Behandlung iſt treu, herzlich, und bei Schillers Unbe⸗ kanntſchaft mit der ſchweizeriſchen Natur und Landes- fitte von bewunderns würdiger örtlicher Wahrheit.“ Sol- chem Lobe fügte Wilhelm Schlegel die Mahnung an: „Im Angeſichte von Tells Kapelle am Ufer des Vier⸗ waldſtätter⸗Sees, unter freiem Himmel, die Alpen zum Hintergrunde, hätte dieſe herzerhebende, altdeutſche Sitte, Frömmigkeit und biedern Heldenmut atmende Darſtellung verdient, zur halbtauſendjährigen Feier der Gründung ſchweizeriſcher Freiheit aufgeführt zu werden.“ Wie im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts das Schwei⸗ zer Volk ſeinen „Tell“ aus der Enge des Bühnenraumes in freie Luft hinauszutragen gelernt hat, zeigt Kellers „Grüner Heinrich“. Voller noch kündet Kellers Weck— ruf „Am Mytenſtein“, was Schiller und ſein „Tell“ der Schweizer Kunſt bedeute. Daß dem Schweizer noch Größeres aus Schillers Dichtung entkeimt, hat Keller zum Schillertag des Jahres 1859 bekundet: Iſt uns ein Stern und Führer nun vonnöten, Des Schönen Schule ſtattlich aufzubau'n: Er iſt der Mann! ihn führen wir herein In unſ're Berge, deren reine Luft Im Geiſt in vollen Zügen er geatmet Und ſterbend in ein Lied hat ausgeſtrömt, Das uns allein ſchon eine hohe Schule Der wahren Schönheit iſt, wie wir ſie brauchen! Die das Gewordene als edles Spiel verklärt, Das ſeelenſtärkend neuem Werden ruft, Einleitung XXI Daß Dichtung ſich und kräft'ge Wirklichkeit In reger Gegenſpieglung ſo durchdringen, Wie ſich, wo eine wärm're Sonne ſcheint, Am ſelben Baume Frucht und Blüten mengen, Bis einſt die Völker ſelbſt die Meiſter ſind, Die dicht'riſch handelnd ihr Geſchick vollbringen. 3. Semele. Der Menſchenfeind. Die Huldigung der Künſte. Nur mit wenigen Worten kann der drei dramatiſchen Verſuche gedacht werden, die am Ende des vorliegenden Bandes, zwiſchen den nach ihrer Entſtehungsfolge ge⸗ ordneten großen Dramen und dem dramatiſchen Nachlaß (Bd. 8), vereinigt ſind. Den weiten Weg, den Schiller zurücklegen mußte, um die antike Form der „Braut von Meſſina“ ſich zu erobern, beleuchtet vielleicht am beſten der Jugendverſuch „Semele“, draſtiſcher freilich noch in der älteſten Ge- ſtalt, die er in der erſten Sammlung ſeiner Lyrik, in der „Anthologie für das Jahr 1782“ vorlegte, als in der ſpäten Umarbeitung, die nach ſeinem Tode erſt im 5. Bande des „Theater von Schiller“ (1807) hervortrat. Zuerſt „eine lyriſche Operette von zwo Scenen”, iſt „Semele“ in endgültiger Faſſung aller rein theatermäßigen Bühnen⸗ anweiſungen entkleidet, und nicht mehr hat Juno jetzt die „Arie“ zu ſingen, die beginnt: „Götterbrot und Nektarpunſch Überflügeln meinen Wunſch, Reichlich dampfen mir Altäre“ — nicht mehr der Titelheldin vorzuwerfen: XL Einleitung „Ha, der Würmerfraß! — auf ein lakiertes Geſichtgen Aufgebläht, wagt's — das Ding von geſtern und heute Wagt's, um den Rang zu buhlen mit Göttern?“ Auch befreit von dieſen Wendungen, die bedenklich an die traveſtierte Antike Blumauers gemahnen, bleibt „Semele“ noch meilenfern von dem Renaiſſaneeſtil, den Schiller an Goethes Seite zuletzt pflegt. „Semele“ iſt Sturm⸗ und Drang⸗Antike, ebenſo wie das Gedicht „Hektors Abſchied“. Der Sturm und Drang, innerlich der Antike fremd, offenbart ja auch in Goethes Schaffen ſtarke Vor⸗ liebe, antiken Figuren die Gefühle der Genieperiode an- zudichten; Prometheus wird da geradezu zum Symbol der Zeittendenz des Titanismus. Dem von Winckelmann feſtgeſtellten Ideal der Einfalt und ſtillen Größe griechi— ſcher Art und Kunſt kommt indes der junge Schiller noch lange nicht ſo nah wie der junge Goethe. Ovids „Meta— morphoſen“ (III, 260 ff.) boten ihm den effektreichen Stoff, vielleicht trug noch ein Handbuch wie Hederichs vielbenutztes „Lexicon mythologicum“ (1724) mythologiſche Einzelzüge bei. Schon Ovids Juno ergeht ſich in leidenſchaftlichen Reden, die Schiller nur weiter ausdehnen konnte. Wohl mit Abſicht iſt der ganze Vorgang in die Stimmung verſetzt, die durch Philippe Quinaults Götteropern den Libretti des 17. und 18. Jahrhunderts, insbeſondere denen Wielands eigen iſt: nicht Vertiefung der Charaktere, aber unverkennbare Aufnahme moderner Empfindung, kein Verſuch ſtrenger Motivierung, dafür unzweideutige Hin- weiſe auf verwandte Vorgänge im Leben der Gegenwart. Schillers Zeus iſt der Fürſt des ancien régime, der aus legitimen Banden zur Favoritin flüchtet, deſſen Laune jetzt das Glück, gleich darauf das Verderben ſeiner Unter— Einleitung XLI tanen will. Mag immerhin Schiller dem Gotte gelegent- lich Worte leihen, die im Sinne ſeiner erſten philoſophi⸗ ſchen Konſtruktionen das Thema von H. v. Kleiſts Am⸗ phitryon: „Auch der Olymp iſt öde ohne Liebe“ berühren, tatſächlich hat er hier nur in leichtgeſchürzte Operetten⸗ form gefaßt, was „Kabale und Liebe“ in ſozial anklagen⸗ der, ja revolutionärer Tragik zur Darſtellung bringen ſollte: die Frivolität der Deſpoten ſeines Zeitalters. Allein noch fehlt ihm, der gleich darauf in den „Räubern“ angeborenes ſzeniſches Geſchick bewähren ſollte, der ſichere Blick für Bühnenwirkung. Zwar ſetzt er die Maſchinerie weit mehr in Bewegung als etwa Wieland, ja Regen- bogen, Erdbeben, Verſchwinden der Sonne ſchreibt er dem Regiſſeur vor und erweiſt damit, daß er franzöſiſche und italieniſche Prunkopern in Ludwigsburg oder Stuttgart nicht vergebens angehört und angeſehen hat. Aber er wählt einen Stoff, deſſen höchſter Augenblick auf dem Theater nicht darſtellbar iſt; und da auf der Bühne Semeles „ſterblicher Leib unter des Feuertriefenden Armen“ nicht „niederſchmelzen“ kann, muß die Heldin kurz vor dem Ende abtreten, ein epigrammatiſch zugeſpitztes Schlußwort aber den verfehlten Ausgang decken. Dieſem Schlußepigramm zuliebe, das doch wieder an die „Räuber“ und an „Fiesco“ gemahnt, ward als Zeus' Begleiter Merkur eingeführt, der bei Ovid fehlt, ebenſo wie die Peſt in Epidaurus. Doch nicht in dieſen Zutaten, ſondern in der Auffaſſung und Ausgeſtaltung der Rolle des Zeus hat das Dramolett ſeine charakteriſtiſche Note erhalten. Liegt „Semele“ ſchon vermöge der Auffaſſung der Antike weitab von den Dramen aus Schillers reifer Zeit, ſo beſteht vollends zwiſchen der ſpäteren Kunſtanſchauung XLIT Einleitung Schillers und dem Fragment „Der Menſchenfeind“ ein unüberbrückbarer Gegenſatz. Den Familienſtücken Schrö⸗ ders und Ifflands ift eine gepfefferte Xenienreihe (Bd. 1, S. 129) beſtimmt; vom Standpunkt ſeiner groß gedachten Tragik brach da Schiller über das Kompromißweſen ihres ſeichten „Naturalismus“ den Stab. Der „Menſchenfeind“ aber bewegt ſich ohne Bedenken in den Bahnen des Fa— milienſtücks und ſeiner feſtſtehenden, dem Publikum der Zeit unentbehrlichen Effekte. Nur in „Kabale und Liebe“ war Schiller dem Typus des Familienſtücks noch nahe ge- kommen; aber die erſchütternde Tragik dieſes Kampfſtücks arbeitete diskreter mit einem Zug, der in den wenigen ver- öffentlichten Szenen des „Menſchenfeinds“ bis zum Über⸗ druß ſich wiederholt, mit dem Edelmut in Geldangelegen— heiten, der dem Familienſtück zum unentbehrlichen Requiſit geworden war. Auch Sprache, Szenenführung, äußere Handlung halten bis ins Kleinſte an dem Brauche des Vorbilds feſt. Sollte doch Schröder ſelbſt die Hauptrolle des Stückes auf der Bühne ſchaffen. Einen Menſchenfeind wollte Schiller mit der Welt verſöhnen. Tief genug wurzelt das Motiv in ſeiner eigenen Perſönlichkeit; darum hat Schiller auch jahrelang mit dem Stoffe ſich bemüht, ehe er ihn „nach der reifſten kritiſchen überlegung“ aufgab. Das Problem der Miſan⸗ thropie, ſchon von der Antike dichteriſch verwertet, vom ſpä— teren Drama nie aufgegeben, von Shakeſpeare in „Timon“, von Moliere in einem ans Tragiſche ſtreifenden Luſtſpiel feſtgehalten, fand in dem Fragment eine neue Ausprägung, die dem ſentimentalen Weſen von Rouſſeaus Zeit wie den ſittlichen Forderungen Schillers entſprach. Weihevoll kniet der Sohn des achtzehnten Jahrhunderts vor dem Einleitung XILIII Menſchen, dem erhabenſten Geſchöpfe Gottes; und un⸗ nachſichtlich verſtößt er die Menſchen, die den „ſchönſten von allen Gedanken des Schöpfers“ entwürdigt und ent⸗ ſtellt haben. Dieſe Anſchauung leiht Schiller ſeinem Titelhelden, Schiller, der im Jahre 1784 kein Stück Shakeſpeares zu nennen wußte, in dem der Menſch wahrhafter daſtünde, lauter und beredter zum Herzen ſpräche, als „Timon von Athen“. Die Niederſchrift des Fragments fällt in die Jahre 1786—1788, die letzte Hand ward 1790 angelegt. Den finſteren Peſſimismus ſeines Karl Moor hatte Schiller inzwiſchen überwunden. Schottiſche Glückſeligkeitsphiloſophie und die liebevolle Fürſorge Körners hatten ihn — nicht ohne Rückfälle in „philoſophiſche Hypochondrie“ — menſchenfreundlichere Anſchauungen gelehrt. Nicht unverſöhnt mit der Welt, wie Shakeſpeares Timon und Molieres WAlcejte, ſollte darum ſein Menſchenfeind bleiben. Nur mühſam indes läßt ſich aus dem Fragmente erraten, wie Schillers Held mit den Menſchen ausgeſöhnt werden ſollte. Ja die Vorſicht, mit der alle den ſpäte⸗ ren Verlauf der Handlung bedingenden Vorausſetzungen (etwa was der fehlende Anfang der 3. Szene mitzu⸗ teilen hatte) unterdrückt ſind, offenbart deutlich, daß er zu einer endgültigen Entſcheidung noch nicht gelangt war. Wirklich wendet er alle Sorgfalt nur auf die Charakteriſtik der Hauptfigur und läßt das Gegenſpiel (Angelika und Roſenberg) nirgends unverkennbar hervor⸗ treten. Nur vermuten können wir, daß der Menſchen⸗ feind, der an den Menſchen durch ſeine Tochter ſich rächen wollte, mit ihr ſelbſt in einen tragiſchen Konflikt kommt, aus dem ſeine Bekehrung erwachſen ſollte. XLIV Einleitung „Vielleicht dürfte die Geſchichte dieſes Menſchenfein⸗ des und dieſes ganze Charaktergemälde dem Publikum einmal in einer andern Form vorgelegt werden, welche dem Gegenſtand günſtiger iſt als die dramatiſche.“ Mit dieſem nie erfüllten Verſprechen veröffentlichte 1790 Schiller das Fragment. Daß dieſe Art von Menſchen⸗ haß für eine tragiſche Behandlung „viel zu allgemein und philoſophiſch“ ſei, hatte er damals ſchon erkannt. Dem lang' erwogenen, nie vollendeten Familienſtück folgt in der „Huldigung der Künſte“ eine raſch hin⸗ geworfene Probe klaſſiſchen Stils aus Schillers letzter Lebenszeit: die letzte Dichtung, die er vollendet hat. Ein Renaiſſancefeſtſpiel mit typiſch gehaltenen Figuren, das ſymboliſch die Künſte aufruft, eine junge Fürſtin zu feiern. Das „lyriſche Spiel“ wurde am 12. November 1804 zu Weimar auf dem Hoftheater aufgeführt; es galt, die Ankunft der Großfürſtin Maria Paulowna feſtlich zu begehen, die kurz vorher mit dem Erbprinzen Karl Friedrich, Karl Auguſts älteſtem Sohne, ſich vermählt hatte. Die Künſte ſollen helfen, daß die neue Heimat der jungen Fürſtin zum Vaterlande werde. So iſt die Symbolik des Feſtſpiels gedacht. Oskar Walzel. Die Braut von Meſſina oder Die feindlichen Brüder Ein Trauerſpiel mit Chören Schillers Werke. VII. 1 Perſonen Donna Iſabella, Fürſtin von Meſſina. 6 o } ihre Söhne. Beatrice. Diego. Boten. Chor, beſteht aus dem Gefolge der Brüder. Die Alteſten von Meſſina, reden nicht. Die Szene iſt eine geräumige Säulenhalle, auf beiden Seiten ſind Eingänge, eine große Flügeltüre in der Tiefe führt zu einer Kapelle. Donna Iſabella in tiefer Trauer, die Alteſten von Meſſina ſtehn um ſie her. Zſabella. Der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb, Tret' ich, ihr greiſen Häupter dieſer Stadt, Heraus zu euch aus den verſchwiegenen Gemächern meines Frauenſaals, das Antlitz Vor euren Männerblicken zu entſchleiern. Denn es geziemt der Witwe, die den Gatten Verloren, ihres Lebens Licht und Ruhm, Die ſchwarzumflorte Nachtgeſtalt dem Aug' Der Welt in ſtillen Mauern zu verbergen; Doch unerbittlich, allgewaltig treibt Des Augenblicks Gebieterſtimme mich An das entwohnte Licht der Welt hervor. Nicht dreimal hat der Mond die Lichtgeſtalt Erneut, ſeit ich den fürſtlichen Gemahl Zu ſeiner letzten Ruheſtätte trug, Der mächtigwaltend dieſer Stadt gebot, Mit ſtarkem Arme gegen eine Welt Euch ſchützend, die euch feindlich rings umlagert. 20 25 30 35 40 50 Die Braut von Meſſina Er ſelber iſt dahin, doch lebt ſein Geiſt In einem tapfern Heldenpaare fort Glorreicher Söhne, dieſes Landes Stolz. Ihr habt ſie unter euch in freud'ger Kraft Aufwachſen ſehen, doch mit ihnen wuchs Aus unbekannt verhängnisvollem Samen Auch ein unſel'ger Bruderhaß empor, Der Kindheit frohe Einigkeit zerreißend, Und reifte furchtbar mit dem Ernſt der Jahre. Nie hab' ich ihrer Eintracht mich erfreut; An dieſen Brüſten nährt' ich beide gleich, Gleich unter fie verteil' ich Lieb' und Sorge, Und beide weiß ich kindlich mir geneigt. In dieſem einz'gen Triebe ſind ſie Eins, In allem andern trennt ſie blut'ger Streit. Zwar, weil der Vater noch gefürchtet herrſchte, Hielt er durch gleicher Strenge furchtbare Gerechtigkeit die Heftigbrauſenden im Zügel, Und unter eines Joches Eiſenſchwere Bog er vereinend ihren ſtarren Sinn. Nicht waffentragend durften ſie ſich nahn, Nicht in denſelben Mauern übernachten; So hemmt' er zwar mit ſtrengem Machtgebot Den rohen Ausbruch ihres wilden Triebs, Doch ungebeſſert in der tiefen Bruſt Ließ er den Haß — Der Starke achtet es Gering, die leiſe Quelle zu verſtopfen, Weil er dem Strome mächtig wehren kann. Was kommen mußte, kam. Als er die Augen Im Tode ſchloß, und ſeine ſtarke Hand Sie nicht mehr bändigt, bricht der alte Groll, Gleichwie des Feuers eingepreßte Glut, Zur offnen Flamme ſich entzündend los. Ich ſag' euch, was ihr alle ſelbſt bezeugt: 55 60 65 70 80 85 [Erſter Aufzug. 1. Auftritt! 7 Meſſina teilte ſich, die Bruderfehde Loft’ alle heil’gen Bande der Natur, Dem allgemeinen Streit die Loſung gebend; Schwert traf auf Schwert, zum Schlachtfeld ward die Stadt. Ja dieſe Hallen ſelbſt beſpritzte Blut. Des Staates Bande ſahet ihr zerreißen, Doch mir zerriß im Innerſten das Herz — Ihr fühltet nur das öffentliche Leiden Und fragtet wenig nach der Mutter Schmerz. Ihr kamt zu mir und ſpracht dies harte Wort: „Du ſiehſt, daß deiner Söhne Bruderzwiſt Die Stadt empört in bürgerlichem Streit, Die, von dem böſen Nachbar rings umgarnt, Durch Eintracht nur dem Feinde widerſteht. — Du biſt die Mutter! Wohl, ſo ſiehe zu, Wie du der Söhne blut'gen Hader ſtillſt. Was kümmert uns, die Friedlichen, der Zank Der Herrſcher? Sollen wir zu Grunde gehn, Weil deine Söhne wütend ſich befehden? Wir wollen uns ſelbſt raten ohne ſie Und einem andern Herrn uns übergeben, Der unſer Beſtes will und ſchaffen kann!“ So ſpracht ihr rauhen Männer, mitleidlos, Für euch nur ſorgend und für eure Stadt, Und wälztet noch die öffentliche Not Auf dieſes Herz, das von der Mutter Angſt Und Sorgen ſchwer genug belaſtet war. Ich unternahm das nicht zu Hoffende, Ich warf mit dem zerrißnen Mutterherzen Mich zwiſchen die Ergrimmten, Friede rufend — Unabgeſchreckt, geſchäftig, unermüdlich Beſchickt' ich ſie, den einen um den andern, Bis ich erhielt durch mütterliches Flehn, 8 Die Braut von Meſſina Daß ſie's zufrieden ſind, in dieſer Stadt Meſſina, in dem väterlichen Schloß, Unfeindlich ſich von Angeſicht zu ſehn, Was nie geſchah, ſeitdem der Fürſt verſchieden. 90 Dies ift der Tag! Des Boten harr' ich ſtündlich, Der mir die Kunde bringt von ihrem Anzug. — Seid denn bereit, die Herrſcher zu empfangen Mit Ehrfurcht, wie's dem Untertanen ziemt. Nur eure Pflicht zu leiſten ſeid bedacht, 95 Fürs andre laßt uns andere gewähren. Verderblich dieſem Land, und ihnen ſelbſt Verderbenbringend war der Söhne Streit; Verſöhnt, vereinigt, ſind ſie mächtig gnug, Euch zu beſchützen gegen eine Welt 100 Und Recht ſich zu verſchaffen — gegen euch! (Die Alteſten entfernen ſich ſchweigend, die Hand auf der Bruſt. Sie winkt einem alten Diener, der zurückbleibt.) Iſabella. Diego. Diner Jſabella. iego! Diego. Was gebietet meine Fürſtin? Isabella. Bewährter Diener! Redlich Herz! Tritt näher! Mein Leiden haſt du, meinen Schmerz geteilt, So teil' auch jetzt das Glück der Glücklichen. 1os Verpfändet hab' ich deiner treuen Bruſt Mein ſchmerzlich ſüßes, heiliges Geheimnis. Der Augenblick iſt da, wo es ans Licht Des Tages ſoll hervorgezogen werden. 110 120 125 130 [Erſter Aufzug. 2. Auftritt! 9 Zu lange ſchon erſtickt' ich der Natur Gewalt'ge Regung, weil noch über mich Ein fremder Wille herriſch waltete; Jetzt darf ſich ihre Stimme frei erheben, Noch heute ſoll dies Herz befriedigt ſein, Und dieſes Haus, das lang' verödet war, Verſammle alles, was mir teuer iſt. So lenke denn die alterſchweren Tritte Nach jenem wohlbekannten Kloſter hin, Das einen teuren Schatz mir aufbewahrt. Du warſt es, treue Seele, der ihn mir Dorthin geflüchtet hat auf beßre Tage, Den traur'gen Dienſt der Traurigen erzeigend. Du bringe fröhlich jetzt der Glücklichen Das teure Pfand zurück. (Man hört in der Ferne blaſen.) O eile, eile Und laß die Freude deinen Schritt verjüngen! Ich höre kriegeriſcher Hörner Schall, Der meiner Söhne Einzug mir verkündigt. (Diego geht ab. Die Muſik läßt ſich noch von einer entgegengeſetzten Seite immer näher und näher hören.) Jſabella. Erregt iſt ganz Meſſina — Horch! ein Strom Verworrner Stimmen wälzt ſich brauſend her — Sie ſind's! Das Herz der Mutter, mächtig ſchlagend, Empfindet ihrer Nähe Kraft und Zug. Sie ſind's! O meine Kinder, meine Kinder! (Sie eilt hinaus.) 135 140 145 150 10 Die Braut von Meſſina Chor tritt auf. Er beſteht aus zwei Halbchören, welche zu gleicher Zeit, von zwei ents gegengeſetzten Seiten, der eine aus der Tiefe, der andere aus dem Vordergrund eintreten, rund um die Bühne gehen und ſich alsdann auf derſelben Seite, wo jeder eingetreten, in eine Reihe ſtellen. Den einen Halbchor bilden die ältern, den andern die jüngern Ritter; beide ſind durch Farbe und Abzeichen verſchieden. Wenn beide Chöre einander gegenüberſtehen, ſchweigt der Marſch, und die beiden Chorführer reden. Erſter Chor. Dich begrüß' ich in Ehrfurcht, Prangende Halle, Dich, meiner Herrſcher Fürſtliche Wiege, Säulengetragenes herrliches Dach. Tief in der Scheide Ruhe das Schwert, Vor den Toren gefeſſelt Liege des Streits ſchlangenhaarigtes Scheuſal. Denn des gaſtlichen Hauſes Unverletzliche Schwelle Hütet der Eid, der Erinnyen Sohn, Der furchtbarſte unter den Göttern der Hölle! Zweiter Chor. Zürnend ergrimmt mir das Herz im Buſen, Zu dem Kampf iſt die Fauſt geballt, Denn ich ſehe das Haupt der Meduſen, Meines Feindes verhaßte Geſtalt. Kaum gebiet' ich dem kochenden Blute. Gönn' ich ihm die Ehre des Worts? Oder gehorch' ich dem zürnenden Mute? Aber mich ſchreckt die Eumenide, Die Beſchirmerin dieſes Orts, Und der waltende Gottesfriede. 155 160 165 170 175 180 [Erſter Aufzug. 3. Auftritt! Erſter Chor. Weiſere Faſſung Ziemet dem Alter, Ich, der Vernünftige, grüße zuerſt. (Zu dem zweiten Chor.) Sei mir willkommen, Der du mit mir, Gleiche Gefühle Brüderlich teilend, Dieſes Palaſtes Schützende Götter Fürchtend verehrſt! Weil ſich die Fürſten gütlich beſprechen, Wollen auch wir jetzt Worte des Friedens Harmlos wechſeln mit ruhigem Blut, Denn auch das Wort iſt, das heilende, gut. Aber treff' ich dich draußen im Freien, Da mag der blutige Kampf ſich erneuen, Da erprobe das Eiſen den Mut. Der ganze Chor. Aber treff' ich dich draußen im Freien, Da mag der blutige Kampf ſich erneuen, Da erprobe das Eiſen den Mut. Erſter Chor. Dich nicht haſſ' ich! Nicht du biſt mein Feind! Eine Stadt ja hat uns geboren, Jene ſind ein fremdes Geſchlecht. Aber wenn ſich die Fürſten befehden, Müſſen die Diener ſich morden und töten, Das iſt die Ordnung, ſo will es das Recht. Zweiter Chor. Mögen ſie's wiſſen, Warum ſie ſich blutig 11 185 190 195 200 205 210 Die Braut von Meſſina Haſſend bekämpfen! Mich ficht es nicht an. Aber wir fechten ihre Schlachten, Der iſt kein Tapfrer, kein Ehrenmann, Der den Gebieter läßt verachten. Der ganze Chor. Aber wir fechten ihre Schlachten, Der iſt kein Tapfrer, kein Ehrenmann, Der den Gebieter läßt verachten. Einer aus dem Chor. Hört, was ich bei mir ſelbſt erwogen, Als ich müßig dahergezogen Durch des Korns hochwallende Gaſſen, Meinen Gedanken überlaſſen. Wir haben uns in des Kampfes Wut Nicht beſonnen und nicht beraten, Denn uns betörte das brauſende Blut. Sind ſie nicht unſer, dieſe Saaten? Dieſe Ulmen, mit Reben umſponnen, Sind ſie nicht Kinder unſrer Sonnen? Könnten wir nicht in frohem Genuß Harmlos vergnügliche Tage ſpinnen, Luſtig das leichte Leben gewinnen? Warum ziehn wir mit raſendem Beginnen Unſer Schwert für das fremde Geſchlecht? Es hat an dieſen Boden kein Recht. Auf dem Meerſchiff iſt es gekommen Von der Sonne rötlichtem Untergang; Gaſtlich haben wir's aufgenommen (Unſre Väter! die Zeit iſt lang), Und jetzt ſehen wir uns als Knechte Untertan dieſem fremden Geſchlechte! 215 225 230 235 240 [Erſter Aufzug. 3. Auftritt! go: Ein zweiter. Wohl! Wir bewohnen ein glückliches Land, Das die himmelumwandelnde Sonne Anſieht mit immer freundlicher Helle, Und wir könnten es fröhlich genießen; Aber es läßt ſich nicht ſperren und ſchließen, Und des Meers rings umgebende Welle, Sie verrät uns dem kühnen Korſaren, Der die Küſte verwegen durchkreuzt. Einen Segen haben wir zu bewahren, Der das Schwert nur des Fremdlings reizt. Sklaven ſind wir in den eigenen Sitzen, Das Land kann ſeine Kinder nicht ſchützen. Nicht, wo die goldene Ceres lacht Und der friedliche Pan, der Flurenbehüter — Wo das Eiſen wächſt in der Berge Schacht, Da entſpringen der Erde Gebieter. Erſter Chor. Ungleich verteilt ſind des Lebens Güter Unter der Menſchen flücht'gem Geſchlecht, Aber die Natur, ſie iſt ewig gerecht. Uns verlieh ſie das Mark und die Fülle, Die ſich immer erneuend erſchafft, Jenen ward der gewaltige Wille Und die unzerbrechliche Kraft. Mit der furchtbaren Stärke gerüſtet, Führen ſie aus, was dem Herzen gelüſtet, Füllen die Erde mit mächtigem Schall; Aber hinter den großen Höhen Folgt auch der tiefe, der donnernde Fall. Darum lob' ich mir, niedrig zu ſtehen, Mich verbergend in meiner Schwäche! Jene gewaltigen Wetterbäche, 245 250 255 265 14 Die Braut von Meſſina Aus des Hagels unendlichen Schloßen, Aus den Wolkenbrüchen zuſammen gefloſſen, Kommen finſter gerauſcht und geſchoſſen, Reißen die Brücken und reißen die Dämme Donnernd mit fort im Wogengeſchwemme, Nichts iſt, das die gewaltigen hemme. Doch nur der Augenblick hat ſie geboren, Ihres Laufes furchtbare Spur Geht verrinnend im Sande verloren, Die Zerſtörung verkündigt ſie nur. — Die fremden Eroberer kommen und gehen, Wir gehorchen, aber wir bleiben ſtehen. Die hintere Türe öffnet ſich, Donna Iſabella erſcheint zwiſchen ihren Söhnen Don Manuel und Don Ceſar. Beide Chöre. Preis ihr und Ehre, Die uns dort aufgeht, Eine glänzende Sonne! Knieend verehr' ich dein herrliches Haupt. Erſter Chor. Schön iſt des Mondes Mildere Klarheit Unter der Sterne blitzendem Glanz, Schön iſt der Mutter Liebliche Hoheit Zwiſchen der Söhne feuriger Kraft, Nicht auf der Erden Iſt ihr Bild und ihr Gleichnis zu ſehn. Hoch auf des Lebens Gipfel geſtellt, Schließt ſie blühend den Kreis des Schönen, Mit der Mutter und ihren Söhnen Krönt ſich die herrlich vollendete Welt. 275 280 285 290 295 [Erſter Aufzug. 4. Auftritt] Selber die Kirche, die göttliche, ſtellt nicht Schöneres dar auf dem himmliſchen Thron, Höheres bildet Selber die Kunſt nicht, die göttlich geborne, Als die Mutter mit ihrem Sohn. Zweiter Chor. Freudig ſieht ſie aus ihrem Schoße Einen blühenden Baum ſich erheben, Der ſich ewig ſproſſend erneut. Denn ſie hat ein Geſchlecht geboren, Welches wandeln wird mit der Sonne Und den Namen geben der rollenden Zeit. Völker verrauſchen, Namen verklingen, Finſtre Vergeſſenheit Breitet die dunkelnachtenden Schwingen Über ganzen Geſchlechtern aus. Aber der Fürſten Einſame Häupter Glänzen erhellt, Und Aurora berührt ſie Mit den ewigen Strahlen Als die ragenden Gipfel der Welt. Aſabella (mit ihren Söhnen hervortretend). Blick' nieder, hohe Königin des Himmels, Und halte deine Hand auf dieſes Herz, Daß es der Übermut nicht ſchwellend hebe, Denn leicht vergäße ſich der Mutter Freude, Wenn ſie ſich ſpiegelt in der Söhne Glanz; 15 300 305 310 315 825 16 Die Braut von Meſſina Zum erſtenmal, ſeitdem ich ſie geboren, Umfaſſ' ich meines Glückes Fülle ganz. Denn bis auf dieſen Tag mußt' ich gewaltſam Des Herzens fröhliche Ergießung teilen, Vergeſſen ganz mußt' ich den einen Sohn, Wenn ich der Nähe mich des andern freute. O meine Mutterliebe iſt nur eine, Und meine Söhne waren ewig zwei! — Sagt, darf ich ohne Zittern mich der ſüßen Gewalt des trunknen Herzens überlaſſen? (Zu Don Manuel.) Wenn ich die Hand des Bruders freundlich drücke, Stoß' ich den Stachel nicht in deine Bruſt? (Zu Don Eeſar.) Wenn ich das Herz an ſeinem Anblick weide, Iſt's nicht ein Raub an dir? — O, ich muß zittern, Daß meine Liebe ſelbſt, die ich euch zeige, Nur eures Haſſes Flammen heft'ger ſchüre. (Nachdem ſie beide fragend angeſehen.) Was darf ich mir von euch verſprechen? Redet! Mit welchem Herzen kamet ihr hieher? Iſt's noch der alte unverſöhnte Haß, Den ihr mit herbringt in des Vaters Haus, Und wartet draußen vor des Schloſſes Toren Der Krieg, auf Augenblicke nur gebändigt Und knirſchend in das eherne Gebiß, Um alſobald, wenn ihr den Rücken mir Gekehrt, mit neuer Wut ſich zu entfeſſeln? Chor. Krieg oder Frieden! Noch liegen die Loſe Dunkel verhüllt in der Zukunft Schoße! Doch es wird ſich, noch eh' wir uns trennen, entſcheiden, Wir ſind bereit und gerüſtet zu beiden. 330 335 340 345 350 355 360 [Erſter Aufzug. 4. Auftritt! 17 Afabella (im ganzen Kreis umherſchauend). Und welcher furchtbar kriegeriſche Anblick! Was ſollen dieſe hier? Iſt's eine Schlacht, Die ſich in dieſen Sälen zubereitet? Wozu die fremde Schar, wenn eine Mutter Das Herz aufſchließen will vor ihren Kindern? Bis in den Schoß der Mutter fürchtet ihr Der Argliſt Schlingen, tückiſchen Verrat, Daß ihr den Rücken euch beſorglich deckt? — O dieſe wilden Banden, die euch folgen, Die raſchen Diener eures Zorns — ſie ſind Nicht eure Freunde! Glaubet nimmermehr, Daß ſie euch wohlgeſinnt zum Beſten raten! Wie könnten ſie's von Herzen mit euch meinen, Den Fremdlingen, dem eingedrungnen Stamm, Der aus dem eignen Erbe ſie vertrieben, Sich über ſie der Herrſchaft angemaßt? Glaubt mir! Es liebt ein jeder, frei ſich ſelbſt Zu leben nach dem eigenen Geſetz, Die fremde Herrſchaft wird mit Neid ertragen. Von eurer Macht allein und ihrer Furcht Erhaltet ihr den gern verſagten Dienſt. Lernt dies Geſchlecht, das herzlos falſche, kennen! Die Schadenfreude iſt's, wodurch ſie ſich An eurem Glück, an eurer Größe rächen. Der Herrſcher Fall, der hohen Häupter Sturz Iſt ihrer Lieder Stoff und ihr Geſpräch, Was ſich vom Sohn zum Enkel fort erzählt, Womit ſie ſich die Winternächte kürzen. — O meine Söhne! Feindlich iſt die Welt Und falſch geſinnt! Es liebt ein jeder nur Sich ſelbſt; unſicher, los und wandelbar Sind alle Bande, die das leichte Glück Geflochten — Laune löſt, was Laune knüpfte — Schillers Werke. VII. 2 365 370 375 380 385 390 18 Die Braut von Meſſina Nur die Natur iſt redlich! Sie allein Liegt an dem ew'gen Ankergrunde feſt, Wenn alles andre auf den ſturmbewegten Wellen Des Lebens unſtet treibt — Die Neigung gibt Den Freund, es gibt der Vorteil den Gefährten; Wohl dem, dem die Geburt den Bruder gab, Ihn kann das Glück nicht geben! Anerſchaffen Iſt ihm der Freund, und gegen eine Welt Voll Kriegs und Truges ſteht er zweifach da! Chor. Ja, es iſt etwas Großes, ich muß es verehren, Um einer Herrſcherin fürſtlichen Sinn, Über der Menſchen Tun und Verkehren Blickt ſie mit ruhiger Klarheit hin. Uns aber treibt das verworrene Streben Blind und ſinnlos durchs wüſte Leben. Aſabella (zu Don Ceſar). Du, der das Schwert auf ſeinen Bruder zückt, Sieh dich umher in dieſer ganzen Schar, Wo iſt ein edler Bild als deines Bruders? (Zu Don Manuel.) Wer unter dieſen, die du Freunde nennſt, Darf deinem Bruder ſich zur Seite ſtellen? Ein jeder iſt ein Muſter ſeines Alters, Und keiner gleicht und keiner weicht dem andern. Wagt es, euch in das Angeſicht zu ſehn! O Raſerei der Eiferſucht, des Neides! Ihn würdeſt du aus Tauſenden heraus Zum Freunde dir gewählt, ihn an dein Herz Geſchloſſen haben als den einzigen; Und jetzt, da ihn die heilige Natur Dir gab, dir in der Wiege ſchon ihn ſchenkte, Trittſt du, ein Frevler an dem eignen Blut, 395 400 405 410 415 [Erſter Aufzug. 4. Auftritt! 19 Mit ſtolzer Willkür ihr Geſchenk mit Füßen, Dich wegzuwerfen an den ſchlechtern Mann, Dich an den Feind und Fremdling anzuſchließen! Don Manuel. Höre mich, Mutter. Don Ceſar. Mutter, höre mich. Iſabella. Nicht Worte ſind's, die dieſen traur'gen Streit Erledigen — Hier iſt das Mein und Dein, Die Rache von der Schuld nicht mehr zu ſondern. — Wer möchte noch das alte Bette finden Des Schwefelſtroms, der glühend ſich ergoß? Des unterird'ſchen Feuers ſchreckliche Geburt iſt alles, eine Lavarinde Liegt aufgeſchichtet über dem Geſunden, Und jeder Fußtritt wandelt auf Zerſtörung. — Nur dieſes Eine leg' ich euch ans Herz: Das Böſe, das der Mann, der mündige, Dem Manne zufügt, das, ich will es glauben, Vergibt ſich und verſöhnt ſich ſchwer. Der Mann Will ſeinen Haß, und keine Zeit verändert Den Ratſchluß, den er wohlbeſonnen faßt. Doch eures Haders Urſprung ſteigt hinauf In unverſtänd'ger Kindheit frühe Zeit, Sein Alter iſt's, was ihn entwaffnen ſollte. Fraget zurück, was euch zuerſt entzweite: Ihr wißt es nicht, ja, fändet ihr's auch aus, Ihr würdet euch des kind'ſchen Haders ſchämen. Und dennoch iſt's der erſte Kinderſtreit, Der, fortgezeugt in unglückſel'ger Kette, Die neuſte Unbill dieſes Tags geboren. Denn alle ſchwere Taten, die bis jetzt geſchahn, 420 425 430 435 440 445 20 Die Braut von Meſſina Sind nur des Argwohns und der Rache Kinder. — Und jene Knabenfehde wolltet ihr Noch jetzt fortkämpfen, da ihr Männer ſeid? (Beider Hände faſſend.) O meine Söhne! Kommt, entſchließet euch, Die Rechnung gegenſeitig zu vertilgen, Denn gleich auf beiden Seiten iſt das Unrecht. Seid edel, und großherzig ſchenkt einander Die unabtragbar ungeheure Schuld. Der Siege göttlichſter iſt das Vergeben! In eures Vaters Gruft werft ihn hinab, Den alten Haß der frühen Kinderzeit! Der ſchönen Liebe ſei das neue Leben, Der Eintracht, der Verſöhnung ſei's geweiht. (Sie tritt einen Schritt zwiſchen beiden zurück, als wollte ſie ihnen Raum geben, ſich einander zu nähern. Beide blicken zur Erde, ohne einander anzuſehen.) Chor. Höret der Mutter vermahnende Rede, Wahrlich, ſie ſpricht ein gewichtiges Wort! Laßt es genug ſein und endet die Fehde, Oder gefällt's euch, ſo ſetzet ſie fort. Was euch genehm iſt, das iſt mir gerecht, Ihr ſeid die Herrſcher, und ich bin der Knecht. Dfabella (nachdem fie einige Beit innegehalten und vergebens eine Außerung der Brüder erwartet, mit unterdrücktem Schmerz). Jetzt weiß ich nichts mehr. Ausgeleert hab' ich Der Worte Köcher und erſchöpft der Bitten Kraft — Im Grabe ruht, der euch gewaltſam bändigte, Und machtlos ſteht die Mutter zwiſchen euch. — Vollendet! Ihr habt freie Macht! Gehorcht Dem Dämon, der euch ſinnlos wütend treibt, Ehrt nicht des Hausgotts heiligen Altar, Laßt dieſe Halle ſelbſt, die euch geboren, 450 455 460 465 [Erſter Aufzug. 5. Auftritt 21 Den Schauplatz werden eures Wechſelmords. Vor eurer Mutter Aug' zerſtöret euch Mit euren eignen, nicht durch fremde Hände. Leib gegen Leib, wie das thebaniſche Paar, Rückt aufeinander an und, wutvoll ringend, Umfanget euch mit eherner Umarmung. Leben um Leben tauſchend ſiege jeder, Den Dolch einbohrend in des andern Bruſt, Daß ſelbſt der Tod nicht eure Zwietracht heile, Die Flamme ſelbſt, des Feuers rote Säule, Die ſich von eurem Scheiterhaufen hebt, Sich zweigeſpalten von einander teile, Ein ſchaudernd Bild, wie ihr geſtorben und gelebt. (Sie geht ab. Die Brüder bleiben noch in der vorigen Entfernung von einander ſtehen.) Beide Brüder. Beide Chöre. Chor. Es ſind nur Worte, die ſie geſprochen, Aber ſie haben den fröhlichen Mut In der felſigten Bruſt mir gebrochen! Ich nicht vergoß das verwandte Blut. Rein zum Himmel erheb' ich die Hände, Ihr ſeid Brüder! Bedenket das Ende! Don Ceſar (ohne Don Manuel anzuſehen). Du biſt der ältre Bruder, rede du! Dem Erſtgebornen weich' ich ohne Schande. Don Manuel (in derſelben Stellung). Sag' etwas Gutes, und ich folge gern Dem edeln Beiſpiel, das der Jüngre gibt. 470 475 480 485 Die Braut von Meſſina Don Ceſar. Nicht, weil ich für den Schuldigeren mich Erkenne, oder ſchwächer gar mich fühle — Don Manuel. Nicht Kleinmuts zeiht Don Ceſarn, wer ihn kennt: Fühlt' er ſich ſchwächer, würd' er ſtolzer reden. Don Ceſar. Denkſt du von deinem Bruder nicht geringer? Don Manuel. Du biſt zu ſtolz zur Demut, ich zur Lüge. Don Ceſar. Verachtung nicht erträgt mein edles Herz. Doch in des Kampfes heftigſter Erbittrung Gedachteſt du mit Würde deines Bruders. Don Manuel. Du willſt nicht meinen Tod, ich habe Proben. Ein Mönch erbot ſich dir, mich meuchleriſch Zu morden; du beſtrafteſt den Verräter. Don Ceſar (tritt etwas näher). Hätt' ich dich früher ſo gerecht erkannt, Es wäre vieles ungeſchehn geblieben. Don Manuel. Und hätt' ich dir ein ſo verſöhnlich Herz Gewußt, viel Mühe ſpart' ich dann der Mutter. Don Ceſar. Du wurdeſt mir viel ſtolzer abgeſchildert. Don Manuel. Es iſt der Fluch der Hohen, daß die Niedern Sich ihres offnen Ohrs bemächtigen. 490 495 500 [Erſter Aufzug. 5. Auftritt! 23 Don Ceſar (lebhaft). So iſt's, die Diener tragen alle Schuld! Don Manuel. Die unſer Herz in bitterm Haß entfremdet. Don Ceſar. Die böſe Worte hin und wider trugen. Don Manuel. Mit falſcher Deutung jede Tat vergiftet. Don Ceſar. Die Wunde nährten, die ſie heilen ſollten. Don Manuel. Die Flamme ſchürten, die ſie löſchen konnten. Don Ceſar. Wir waren die Verführten, die Betrognen! Don Manuel. Das blinde Werkzeug fremder Leidenſchaft! Don Ceſar. Iſt's wahr, daß alles andre treulos iſt — Don Manuel. Und falſch! Die Mutter ſagt's, du darfſt es glauben! Don Ceſar. So will ich dieſe Bruderhand ergreifen — (Er reicht ihm die Hand hin.) Don Manuel (ergreift ſie lebhaft). Die mir die nächſte iſt auf dieſer Welt. (Beide ſtehen Hand in Hand und betrachten einander eine Zeitlang ſchweigend.) 505 510 515 24 Die Braut von Meſſina Don Ceſar. Ich ſeh' dich an, und überraſcht, erſtaunt Find' ich in dir der Mutter teure Züge. Don Nfanuel. Und eine Ahnlichkeit entdeckt ſich mir In dir, die mich noch wunderbarer rühret. Don Ceſar. Biſt du es wirklich, der dem jüngern Bruder So hold begegnet und ſo gütig ſpricht? Don Manuel. Iſt dieſer freundlich ſanftgeſinnte Jüngling Der übelwollend mir gehäſſ'ge Bruder? (Wiederum Stillſchweigen; jeder ſteht in den Anblick des andern ver- loren.) Don Ceſar. Du nahmſt die Pferde von arab'ſcher Zucht In Anſpruch aus dem Nachlaß unſers Vaters. Den Rittern, die du ſchickteſt, ſchlug ich's ab. Don Manuel. Sie ſind dir lieb. Ich denke nicht mehr dran. Don Ceſar. Nein, nimm die Roſſe, nimm den Wagen auch Des Vaters, nimm ſie, ich beſchwöre dich. Don Manuel. Ich will es tun, wenn du das Schloß am Meere Beziehen willſt, um das wir heftig ſtritten. Don Ceſar. Ich nehm' es nicht, doch bin ich's wohl zufrieden, Daß wir's gemeinſam brüderlich bewohnen. 520 525 530 535 [Erſter Aufzug. 6. Auftritt! 25 Don Manuel. So ſei's! Warum ausſchließend Eigentum Beſitzen, da die Herzen einig ſind? Don Ceſar. Warum noch länger abgeſondert leben, Da wir, vereinigt, jeder reicher werden? Don Manuel. Wir ſind nicht mehr getrennt, wir ſind vereinigt. (Er eilt in ſeine Arme.) Erſter Chor (um zweiten). Was ſtehen wir hier noch feindlich geſchieden, Da die Fürſten ſich liebend umfaſſen? Ihrem Beiſpiel folg' ich und biete dir Frieden, Wollen wir einander denn ewig haſſen? Sind ſie Brüder durch Blutes Bande, Sind wir Bürger und Söhne von einem Lande. (Beide Chöre umarmen ſich.) Ein Bote tritt auf. Zweiter Chor (zu Don Cefar). Den Späher, den du ausgeſendet, Herr, Erblick' ich wiederkehrend. Freue dich, Don Ceſar! Gute Botſchaft harret dein, Denn fröhlich ſtrahlt der Blick des Kommenden. Bote. Heil mir und Heil der fluchbefreiten Stadt! Des ſchönſten Anblicks wird mein Auge froh. Die Söhne meines Herrn, die Fürſten ſeh' ich In friedlichem Geſpräche, Hand in Hand, Die ich in heißer Kampfeswut verlaſſen. 26 Die Braut von Meſſina Don Ceſar. Du ſiehſt die Liebe aus des Haſſes Flammen 5410 Wie einen neu verjüngten Phönix ſteigen. Bote. Ein zweites leg' ich zu dem erſten Glück! Mein Botenſtab ergrünt von friſchen Zweigen! Don Ceſar (ihn beiſeite führend). Laß hören, was du bringſt. Bote. Ein einz' ger Tag Will alles, was erfreulich iſt, verſammeln. 545 Auch die Verlorene, nach der wir ſuchten, Sie iſt gefunden, Herr, ſie iſt nicht weit. Don Ceſar. Sie iſt gefunden! O wo iſt ſie? Sprich! Bote. Hier in Meſſina, Herr, verbirgt ſie ſich. Don Manuel (zu dem erſten Halbchor gewendet). Von hoher Röte Glut ſeh' ich die Wangen 550 Des Bruders glänzen, und ſein Auge blitzt. Ich weiß nicht, was es iſt, doch iſt's die Farbe Der Freude, und mitfreuend teil' ich ſie. Don Ceſar (zu dem Boten). Komm, führe mich — Leb wohl, Don Manuel! Im Arm der Mutter finden wir uns wieder, 558 Jetzt fordert mich ein dringend Werk von hier. (Er will gehen.) Don Manuel. Verſchieb es nicht. Das Glück begleite dich. 565 570 575 580 [Erſter Aufzug. 6. Auftritt! 27 Don Ceſar (beſinnt ſich und kommt zurüch). Don Manuel! Mehr, als ich ſagen kann, Freut mich dein Anblick — Ja mir ahnet ſchon, Wir werden uns wie Herzensfreunde lieben, Der lang' gebundne Trieb wird freud'ger nur Und mächt'ger ſtreben in der neuen Sonne, Nachholen werd' ich das verlorne Leben. Don Manuel. Die Blüte deutet auf die ſchöne Frucht. Don Ceſar. Es iſt nicht recht, ich fühl's und tadle mich, Daß ich mich jetzt aus deinen Armen reiße. Denk nicht, ich fühle weniger als du, Weil ich die feſtlich ſchöne Stunde raſch zerſchneide. Don Manuel (mit ſichtbarer Zerſtreuung). Gehorche du dem Augenblick! Der Liebe Gehört von heute an das ganze Leben. Don Ceſar. Entdeckt' ich dir, was mich von hinnen ruft — Don Manuel. Laß mir dein Herz — dir bleibe dein Geheimnis. Don Ceſar. Auch kein Geheimnis trenn' uns ferner mehr, Bald ſoll die letzte dunkle Falte ſchwinden! (Zu dem Chor gewendet.) Euch künd' ich's an, damit ihr's alle wiſſet! Der Streit iſt abgeſchloſſen zwiſchen mir Und dem geliebten Bruder! Den erklär' ich Für meinen Todfeind und Beleidiger Und werd' ihn haſſen wie der Hölle Pforten, Der den erloſchnen Funken unſers Streits Aufbläſt zu neuen Flammen — Hoffe keiner 585 590 595 600 605 28 Die Braut von Meſſina Mir zu gefallen oder Dank zu ernten, Der von dem Bruder Böſes mir berichtet, Mit falſcher Dienſtbegier den bittern Pfeil Des raſchen Worts geſchäftig weiterſendet. — Nicht Wurzeln auf der Lippe ſchlägt das Wort, Das unbedacht dem ſchnellen Zorn entflohen, Doch, von dem Ohr des Argwohns aufgefangen, Kriecht es wie Schlingkraut endlos treibend fort Und hängt ans Herz ſich an mit tauſend Aſten: So trennen endlich in Verworrenheit Unheilbar ſich die Guten und die Beſten! (Er umarmt den Bruder noch einmal und geht ab, von dem zweiten Chore begleitet.) Don Manuel und der erſte Chor. Chor. Verwundrungsvoll, o Herr, betracht' ich dich, Und faſt muß ich dich heute ganz verkennen. Mit karger Rede kaum erwiderſt du Des Bruders Liebesworte, der gutmeinend Mit offnem Herzen dir entgegenkommt. Verſunken in dich ſelber ſtehſt du da, Gleich einem Träumenden, als wäre nur Dein Leib zugegen und die Seele fern. Wer ſo dich ſähe, möchte leicht der Kälte Dich zeihn und ſtolz unfreundlichen Gemüts, Ich aber will dich drum nicht fühllos ſchelten, Denn heiter blickſt du wie ein Glücklicher Um dich, und Lächeln ſpielt um deine Wangen. Don Manuel. Was ſoll ich ſagen? Was erwidern? Mag Der Bruder Worte finden! Ihn ergreift 610 615 620 625 630 635 [Erſter Aufzug. 7. Auftritt! 29 Ein überraſchend neu Gefühl, er ſieht Den alten Haß aus ſeinem Buſen ſchwinden, Und wundernd fühlt er ſein verwandelt Herz. Ich — habe keinen Haß mehr mitgebracht, Kaum weiß ich noch, warum wir blutig ſtritten. Denn über allen ird'ſchen Dingen hoch Schwebt mir auf Freudenfittichen die Seele, Und in dem Glanzesmeer, das mich umfängt, Sind alle Wolken mir und finſtre Falten Des Lebens ausgeglättet und verſchwunden. — Ich ſehe dieſe Hallen, dieſe Säle Und denke mir das freudige Erſchrecken Der überraſchten, hocherſtaunten Braut, Wenn ich als Fürſtin ſie und Herrſcherin Durch dieſes Hauſes Pforten führen werde. — Noch liebt ſie nur den Liebenden! Dem Fremdling, Dem Namenloſen hat ſie ſich gegeben. Nicht ahnet ſie, daß es Don Manuel, Meſſinas Fürſt iſt, der die goldne Binde Ihr um die ſchöne Stirne flechten wird. Wie ſüß iſt's, das Geliebte zu beglücken Mit ungehoffter Größe Glanz und Schein! Längſt ſpart' ich mir dies höchſte der Entzücken: Wohl bleibt es ſtets ſein höchſter Schmuck allein, Doch auch die Hoheit darf das Schöne ſchmücken, Der goldne Reif erhebt den Edelſtein. Chor. Ich höre dich, o Herr, vom langen Schweigen Zum erſtenmal den ſtummen Mund entſiegeln. Mit Späheraugen folgt' ich dir ſchon längſt, Ein ſeltſam wunderbar Geheimnis ahnend, Doch nicht erkühnt' ich mich, was du vor mir In tiefes Dunkel hüllſt, dir abzufragen. Dich reizt nicht mehr der Jagden muntre Luſt, 640 645 650 655 660 665 670 30 Die Braut von Meſſina Der Roſſe Wettlauf und des Falken Sieg. Aus der Gefährten Aug' verſchwindeſt du, So oft die Sonne ſinkt zum Himmelsrande, Und keiner unſers Chors, die wir dich ſonſt In jeder Kriegs- und Jagdgefahr begleiten, Mag deines ſtillen Pfads Gefährte ſein. Warum verſchleierſt du bis dieſen Tag Dein Liebesglück mit dieſer neid'ſchen Hülle? Was zwingt den Mächtigen, daß er verhehle? Denn Furcht iſt fern von deiner großen Seele. Don Manuel. Geflügelt iſt das Glück und ſchwer zu binden, Nur in verſchloßner Lade wird's bewahrt, Das Schweigen iſt zum Hüter ihm geſetzt, Und raſch entfliegt es, wenn Geſchwätzigkeit Voreilig wagt, die Decke zu erheben. Doch jetzt, dem Ziel ſo nahe, darf ich wohl Das lange Schweigen brechen, und ich will's. Denn mit der nächſten Morgenſonne Strahl Iſt ſie die Meine, und des Dämons Neid Wird keine Macht mehr haben über mich. Nicht mehr verſtohlen werd' ich zu ihr ſchleichen, Nicht rauben mehr der Liebe goldne Frucht, Nicht mehr die Freude haſchen auf der Flucht, Das Morgen wird dem ſchönen Heute gleichen, Nicht Blitzen gleich, die ſchnell vorüber ſchießen Und plötzlich von der Nacht verſchlungen ſind, Mein Glück wird ſein gleichwie des Baches Fließen, Gleichwie der Sand des Stundenglaſes rinnt! Chor. So nenne ſie uns, Herr, die dich im ſtillen Beglückt, daß wir dein Los beneidend rühmen Und würdig ehren unſers Fürſten Braut. 675 680 685 690 695 700 [Erſter Aufzug. 7. Auftritt! 31 Sag' an, wo du ſie fandeſt, wo verbirgſt, In welches Orts verſchwiegner Heimlichkeit? Denn wir durchziehen ſchwärmend weit und breit Die Inſel auf der Jagd verſchlungnen Pfaden, Doch keine Spur hat uns dein Glück verraten, So daß ich bald mich überreden möchte, Es hülle ſie ein Zaubernebel ein. Don Manuel. Den Zauber löſ' ich auf, denn heute noch Soll, was verborgen war, die Sonne ſchauen. Vernehmet denn und hört, wie mir geſchah. Fünf Monde ſind's, es herrſchte noch im Lande Des Vaters Macht und beugete gewaltſam Der Jugend ſtarren Nacken in das Joch — Nichts kannt' ich als der Waffen wilde Freuden Und als des Weidwerks kriegeriſche Luſt. — Wir hatten ſchon den ganzen Tag gejagt Entlang des Waldgebirges — da geſchah's, Daß die Verfolgung einer weißen Hindin Mich weit hinweg aus eurem Haufen riß. Das ſcheue Tier floh durch des Tales Krümmen, Durch Buſch und Kluft und bahnenlos Geſtrüpp, Auf Wurfes Weite ſah ich's ſtets vor mir, Doch konnt' ich's nicht erreichen noch erzielen, Bis es zuletzt an eines Gartens Pforte mir Verſchwand. Schnell von dem Roß herab mich werfend, Dring' ich ihm nach, ſchon mit dem Speere zielend, Da ſeh' ich wundernd das erſchrockne Tier Zu einer Nonne Füßen zitternd liegen, Die es mit zarten Händen ſchmeichelnd koſt. Bewegungslos ſtarr' ich das Wunder an, Den Jagdſpieß in der Hand, zum Wurf ausholend — Sie aber blickt mit großen Augen flehend Mich an, ſo ſtehn wir ſchweigend gegeneinander — 706 710 715 720 725 730 32 Die Braut von Meſſina Wie lange Friſt, das kann ich nicht ermeſſen, Denn alles Maß der Zeiten war vergeſſen. Tief in die Seele drückt ſie mir den Blick, Und umgewandelt ſchnell iſt mir das Herz. — Was ich nun ſprach, was die Holdſel'ge mir Erwidert, möge niemand mich befragen, Denn wie ein Traumbild liegt es hinter mir Aus früher Kindheit dämmerhellen Tagen; An meiner Bruſt fühlt' ich die ihre ſchlagen, Als die Beſinnungskraft mir wieder kam. Da hört' ich einer Glocke helles Läuten, Den Ruf zur Hora ſchien es zu bedeuten, Und ſchnell, wie Geiſter in die Luft verwehen, Entſchwand ſie mir und ward nicht mehr geſehen. Chor. Mit Furcht, o Herr, erfüllt mich dein Bericht. Raub haſt du an dem Göttlichen begangen, Des Himmels Braut berührt mit ſündigem Verlangen, Denn furchtbar heilig iſt des Kloſters Pflicht. Don Manuel. Jetzt hatt' ich eine Straße nur zu wandeln, Das unſtet ſchwanke Sehnen war gebunden, Dem Leben war ſein Inhalt ausgefunden. Und wie der Pilger ſich nach Oſten wendet, Wo ihm die Sonne der Verheißung glänzt, So kehrte ſich mein Hoffen und mein Sehnen Dem einen hellen Himmelspunkte zu. Kein Tag entſtieg dem Meer und ſank hinunter, Der nicht zwei glücklich Liebende vereinte; Geflochten ſtill war unſrer Herzen Bund, Nur der allſehnde Ather über uns War des verſchwiegnen Glücks vertrauter Zeuge, Es brauchte weiter keines Menſchen Dienſt. [Erſter Aufzug. 7. Auftritt] 33 735 Das waren goldne Stunden, ſel'ge Tage! — Nicht Raub am Himmel war mein Glück, denn noch Durch kein Gelübde war das Herz gefeſſelt, Das ſich auf ewig mir zu eigen gab. Chor. So war das Kloſter eine Freiſtatt nur 740 Der zarten Jugend, nicht des Lebens Grab? Don Manuel. Ein heilig Pfand ward ſie dem Gotteshaus Vertraut, das man zurück einſt werde fordern. Chor. Doch welches Blutes rühmt ſie ſich zu ſein? Denn nur vom Edeln kann das Edle ſtammen. Don Manuel. 745 Sich ſelber ein Geheimnis wuchs fie auf, Nicht kennt ſie ihr Geſchlecht noch Vaterland. Chor. Und leitet keine dunkle Spur zurück Zu ihres Daſeins unbekannten Quellen? Don Manuel. Daß ſie von edelm Blut, geſteht der Mann, 750 Der einz'ge, der um ihre Herkunft weiß. Chor. Wer iſt der Mann? Nichts halte mir zurück, Denn wiſſend nur kann ich dir nützlich raten. Don Manuel. Ein alter Diener naht von Zeit zu Zeit, Der einz'ge Bote zwiſchen Kind und Mutter. Schillers Werke. VII. 3 755 760 765 770 Die Braut von Meſſina Chor. Von dieſem Alten haſt du nichts erforſcht? Feigherzig und geſchwätzig iſt das Alter. Don Manuel. Nie wagt' ich's, einer Neugier nachzugeben, Die mein verſchwiegnes Glück gefährden konnte. Chor. Was aber war der Inhalt ſeiner Worte, Wenn er die Jungfrau zu beſuchen kam? Don Manuel. Auf eine Zeit, die alles löſen werde, Hat er von Jahr zu Jahren ſie vertröſtet. Chor. Und dieſe Zeit, die alles löſen ſoll, Hat er ſie näher deutend nicht bezeichnet? Don Manuel. Seit wenig Monden drohete der Greis Mit einer nahen Andrung ihres Schickſals. Chor. Er drohte, ſagſt du? Alſo fürchteſt du Ein Licht zu ſchöpfen, das dich nicht erfreut? Don Manuel. Ein jeder Wechſel ſchreckt den Glücklichen, Wo kein Gewinn zu hoffen, droht Verluſt. Chor. Doch konnte die Entdeckung, die du fürchteſt, Auch deiner Liebe günſt'ge Zeichen bringen. Don Manuel. Auch ſtürzen konnte ſie mein Glück, drum wählt' ich Das Sicherſte, ihr ſchnell zuvorzukommen. 775 780 785 790 795 800 [Erſter Aufzug. 7. Auftritt! 35 Chor. Wie das, o Herr? Mit Furcht erfüllſt du mich, Und eine raſche Tat muß ich beſorgen. Don Manuel. Schon ſeit den letzten Monden ließ der Greis Geheimnisvolle Winke ſich entfallen, Daß nicht mehr ferne ſei der Tag, der ſie Den Ihrigen zurücke geben werde. Seit geſtern aber ſprach er's deutlich aus, Daß mit der nächſten Morgenſonne Strahl — Dies aber iſt der Tag, der heute leuchtet — Ihr Schickſal ſich entſcheidend werde löſen. Kein Augenblick war zu verlieren, ſchnell War mein Entſchluß gefaßt und ſchnell vollſtreckt. In dieſer Nacht raubt' ich die Jungfrau weg Und brachte ſie verborgen nach Meſſina. Chor. Welch kühn verwegen⸗xäuberiſche Tat! — Verzeih, o Herr, die freie Tadelrede! Doch ſolches iſt des weiſern Alters Recht, Wenn ſich die raſche Jugend kühn vergißt. Don Manuel. Unfern vom Kloſter der Barmherzigen, In eines Gartens abgeſchiedner Stille, Der von der Neugier nicht betreten wird, Trennt' ich mich eben jetzt von ihr, hieher Zu der Verſöhnung mit dem Bruder eilend. In banger Furcht ließ ich ſie dort allein Zurück, die ſich nichts weniger erwartet, Als in dem Glanz der Fürſtin eingeholt Und auf erhabnem Fußgeſtell des Ruhms Vor ganz Meſſina ausgeſtellt zu werden. 805 810 815 820 825 36 Die Braut von Meſſina Denn anders nicht ſoll ſie mich wiederſehn Als in der Größe Schmuck und Staat und feſtlich Von eurem ritterlichen Chor umgeben. Nicht will ich, daß Don Manuels Verlobte Als eine Heimatloſe, Flüchtige Der Mutter nahen ſoll, die ich ihr gebe; Als eine Fürſtin fürſtlich will ich ſie Einführen in die Hofburg meiner Väter. Chor. Gebiete, Herr! Wir harren deines Winks. Don Manuel. Ich habe mich aus ihrem Arm geriſſen, Doch nur mit ihr werd' ich beſchäftigt ſein. Denn nach dem Bazar ſollt ihr mich anjetzt Begleiten, wo die Mohren zum Verkauf Ausſtellen, was das Morgenland erzeugt An edelm Stoff und feinem Kunſtgebild. Erſt wählet aus die zierlichen Sandalen, Der zartgeformten Füße Schutz und Zier, Dann zum Gewande wühlt das Kunſtgewebe Des Indiers, hellglänzend wie der Schnee Des Atna, der der nächſte iſt dem Licht — Und leicht umfließ' es, wie der Morgenduft, Den zarten Bau der jugendlichen Glieder. Von Purpur ſei, mit zarten Fäden Goldes Durchwirkt der Gürtel, der die Tunika Unter dem zücht'gen Buſen reizend knüpft. Dazu den Mantel wählt, von glänzender Seide gewebt, in bleichem Purpur ſchimmernd, Über der Achſel heft' ihn eine goldne Zikade — Auch die Spangen nicht vergeßt, Die ſchönen Arme reizend zu umzirken, Auch nicht der Perlen und Korallen Schmuck, 835 840 845 850 855 860 [Erſter Aufzug. 7. Auftritt] 37 Der Meeresgöttin wunderſame Gaben. Um die Locken winde ſich ein Diadem, Gefüget aus dem köſtlichſten Geſtein, Worin der feurig glühende Rubin Mit dem Smaragd die Farbenblitze kreuze, Oben im Haarſchmuck ſei der lange Schleier Befeſtigt, der die glänzende Geſtalt Gleich einem hellen Lichtgewölk umfließe, Und mit der Myrte jungfräulichem Kranze Vollende krönend ſich das ſchöne Ganze. Chor. Es ſoll geſchehen, Herr! wie du gebieteſt, Denn fertig und vollendet findet ſich Dies alles auf dem Bazar ausgeſtellt. Don Manuel. Den ſchönſten Zelter führet dann hervor Aus meinen Ställen; ſeine Farbe ſei Lichtweiß, gleichwie des Sonnengottes Pferde, Von Purpur ſei die Decke, und Geſchirr Und Zügel reich beſetzt mit edeln Steinen, Denn tragen ſoll er meine Königin. Ihr ſelber haltet euch bereit, im Glanz Des Ritterſtaates, unterm freud'gen Schall Der Hörner eure Fürſtin heimzuführen. Dies alles zu beſorgen geh' ich jetzt, Zwei unter euch erwähl' ich zu Begleitern, Ihr andern wartet mein — Was ihr vernahmt, Bewahrt's in eures Buſens tiefem Grunde, Bis ich das Band gelöſt von eurem Munde. (Er geht ab, von zweien aus dem Chor begleitet.) 2 Pg Se 865 870 875 880 885 38 Die Braut von Meſſina Chor. Sage, was werden wir jetzt beginnen, Da die Fürſten ruhen vom Streit, Auszufüllen die Leere der Stunden Und die lange unendliche Zeit? Etwas fürchten und hoffen und ſorgen Muß der Menſch für den kommenden Morgen, Daß er die Schwere des Daſeins ertrage Und das ermüdende Gleichmaß der Tage, Und mit erfriſchendem Windesweben Kräuſelnd bewege das ſtockende Leben. Einer aus dem Chor. Schön iſt der Friede! Ein lieblicher Knabe Liegt er gelagert am ruhigen Bach, Und die hüpfenden Lämmer graſen Luſtig um ihn auf dem ſonnigten Raſen; Süßes Tönen entlockt er der Flöte, Und das Echo des Berges wird wach, Oder im Schimmer der Abendröte Wiegt ihn in Schlummer der murmelnde Bach — Aber der Krieg auch hat ſeine Ehre, Der Beweger des Menſchengeſchicks; Mir gefällt ein lebendiges Leben, Mir ein ewiges Schwanken und Schwingen und Schweben Auf der ſteigenden, fallenden Welle des Glücks. Denn der Menſch verkümmert im Frieden, Müßige Ruh' iſt das Grab des Muts. Das Geſetz iſt der Freund des Schwachen, Alles will es nur eben machen, Möchte gern die Welt verflachen, Aber der Krieg läßt die Kraft erſcheinen, 890 895 900 905 910 915 [Erſter Aufzug. 8. Auftritt] Alles erhebt er zum Ungemeinen, Selber dem Feigen erzeugt er den Mut. Ein zweiter. Stehen nicht Amors Tempel offen? Wallet nicht zu dem Schönen die Welt? Da iſt das Fürchten! Da iſt das Hoffen! König iſt hier, wer den Augen gefällt! Auch die Liebe beweget das Leben, Daß ſich die graulichten Farben erheben, Reizend betrügt ſie die glücklichen Jahre, Die gefällige Tochter des Schaums, In das Gemeine und Traurigwahre Webt ſie die Bilder des goldenen Traums. Ein dritter. Bleibe die Blume dem blühenden Lenze, Scheine das Schöne! Und flechte ſich Kränze, Wem die Locken noch jugendlich grünen, Aber dem männlichen Alter ziemt's, Einem ernſteren Gott zu dienen. Erſter. Der ſtrengen Diana, der Freundin der Jagden, Laſſet uns folgen ins wilde Gehölz, Wo die Wälder am dunkelſten nachten, Und den Springbock ſtürzen vom Fels. Denn die Jagd iſt ein Gleichnis der Schlachten, Des ernſten Kriegsgotts luſtige Braut — Man iſt auf mit dem Morgenſtrahl, Wenn die ſchmetternden Hörner laden Luſtig hinaus in das dampfende Tal, Über Berge, über Klüfte, Die ermatteten Glieder zu baden In den erfriſchenden Strömen der Lüfte! 39 920 925 930 935 940 945 950 40 Die Braut von Meſſina Zweiter. Oder wollen wir uns der blauen Göttin, der ewig bewegten, vertrauen, Die uns mit freundlicher Spiegelhelle Ladet in ihren unendlichen Schoß? Bauen wir auf der tanzenden Welle Uns ein luſtig ſchwimmendes Schloß? Wer das grüne kriſtallene Feld Pflügt mit des Schiffes eilendem Kiele, Der vermählt ſich das Glück, dem gehört die Welt, Ohne die Saat erblüht ihm die Ernte! Denn das Meer iſt der Raum der Hoffnung Und der Zufälle launiſch Reich, Hier wird der Reiche ſchnell zum Armen, Und der Armſte dem Fürſten gleich. Wie der Wind mit Gedankenſchnelle Läuft um die ganze Windesroſe, Wechſeln hier des Geſchickes Loſe, Dreht das Glück ſeine Kugel um, Auf den Wellen iſt alles Welle, Auf dem Meer iſt kein Eigentum. Dritter. Aber nicht bloß im Wellenreiche, Auf der wogenden Meeresflut, Auch auf der Erde, ſo feſt ſie ruht Auf den ewigen, alten Säulen, Wanket das Glück und will nicht weilen. — Sorge gibt mir dieſer neue Frieden, Und nicht fröhlich mag ich ihm vertrauen, Auf der Lava, die der Berg geſchieden, Möcht' ich nimmer meine Hütte bauen. Denn zu tief ſchon hat der Haß gefreſſen, Und zu ſchwere Taten ſind geſchehn, Die ſich nie vergeben und vergeſſen, 955 960 965 970 975 980 [Erſter Aufzug. 8. Auftritt! Noch hab' ich das Ende nicht geſehn, Und mich ſchrecken ahnungsvolle Träume! Nicht Wahrſagung reden ſoll mein Mund, Aber ſehr mißfällt mir dies Geheime, Dieſer Ehe ſegenloſer Bund, Dieſe lichtſcheu krummen Liebespfade, Dieſes Kloſterraubs verwegne Tat, Denn das Gute liebt ſich das Gerade, Böſe Früchte trägt die böſe Saat. Auch ein Raub war's, wie wir alle wiſſen, Der des alten Fürſten ehliches Gemahl In ein frevelnd Ehebett geriſſen, Denn ſie war des Vaters Wahl. Und der Ahnherr ſchüttete im Zorne Grauenvoller Flüche ſchrecklichen Samen Auf das fündige Ehebett aus. Greueltaten ohne Namen, Schwarze Verbrechen verbirgt dies Haus. Chor. Ja, es hat nicht gut begonnen, Glaubt mir, und es endet nicht gut, Denn gebüßt wird unter der Sonnen Jede Tat der verblendeten Wut. Es iſt kein Zufall und blindes Los, Daß die Brüder ſich wütend ſelbſt zerſtören, Denn verflucht ward der Mutter Schoß, Sie ſollte den Haß und den Streit gebären. — Aber ich will es ſchweigend verhüllen, Denn die Rachgötter ſchaffen im Stillen; Zeit iſt's, die Unfälle zu beweinen, Wenn ſie nahen und wirklich erſcheinen. (Der Chor geht ab.) 985 990 995 1000 42 Die Braut von Meſſina Die Szene verwandelt ſich in einen Garten, der die Aus— ſicht auf das Meer eröffnet. Aus einem anſtoßenden Garten⸗ ſaale tritt Beatrice (geht unruhig auf und nieder, nach allen Seiten umherſpähend. Plötzlich ſteht ſie ſtill und horcht). Er iſt es nicht — Es war der Winde Spiel, Die durch der Pinie Wipfel ſauſend ſtreichen; Schon neigt die Sonne ſich zu ihrem Ziel, Mit trägem Schritt ſeh' ich die Stunden ſchleichen, Und mich ergreift ein ſchauderndes Gefühl, Es ſchreckt mich ſelbſt das weſenloſe Schweigen. Nichts zeigt ſich mir, wie weit die Blicke tragen, Er läßt mich hier in meiner Angſt verzagen. Und nahe hör' ich wie ein rauſchend Wehr Die Stadt, die völkerwimmelnde, ertoſen, Ich höre fern das ungeheure Meer An ſeine Ufer dumpferbrandend ſtoßen, Es ſtürmen alle Schrecken auf mich her, Klein fühl' ich mich in dieſem Furchtbargroßen, Und fortgeſchleudert, wie das Blatt vom Baume, Verlier' ich mich im grenzenloſen Raume. Warum verließ ich meine ſtille Zelle? Da lebt' ich ohne Sehnſucht, ohne Harm! Das Herz war ruhig wie die Wieſenquelle, An Wünſchen leer, doch nicht an Freuden arm. Ergriffen jetzt hat mich des Lebens Welle, Mich faßt die Welt in ihren Rieſenarm, Zerriſſen hab' ich alle frühern Bande, Vertrauend eines Schwures leichtem Pfande. 1005 1010 1015 1020 1030 [Zweiter Aufzug. 1. Auftritt] Wo waren die Sinne? Was hab' ich getan? Ergriff mich betörend Ein raſender Wahn? Den Schleier zerriß ich Jungfräulicher Zucht, Die Pforten durchbrach ich der heiligen Zelle — Umſtrickte mich blendend ein Zauber der Hölle? Dem Manne folgt' ich, Dem kühnen Entführer in ſträflicher Flucht. O komm, mein Geliebter! Wo bleibſt du und ſäumeſt? Befreie, befreie Die kämpfende Seele! Mich naget die Reue, Es faßt mich der Schmerz. Mit liebender Nähe verſichre mein Herz! Und ſollt' ich mich dem Manne nicht ergeben, Der in der Welt allein ſich an mich ſchloß? Denn ausgeſetzt ward ich ins fremde Leben, Und frühe ſchon hat mich ein ſtrenges Los (Ich darf den dunkeln Schleier nicht erheben) Geriſſen von dem mütterlichen Schoß. Nur einmal ſah ich ſie, die mich geboren, Doch wie ein Traum ging mir das Bild verloren. Und ſo erwuchs ich ſtill am ſtillen Orte, In Lebens Glut den Schatten beigeſellt, — Da ſtand er plötzlich an des Kloſters Pforte, Schön wie ein Gott und männlich wie ein Held. O mein Empfinden nennen keine Worte! Fremd kam er mir aus einer fremden Welt, Und ſchnell, als wär' es ewig ſo geweſen, Schloß ſich der Bund, den keine Menſchen löſen. Vergib, du Herrliche, die mich geboren, Daß ich, vorgreifend den verhängten Stunden, Mir eigenmächtig mein Geſchick erkoren — 43 1040 1045 1050 1055 1060 1065 1070 44 Die Braut von Meſſina Nicht frei erwählt' ich's, es hat mich gefunden; Eindringt der Gott auch zu verſchloßnen Toren, Zu Perſeus' Turm hat er den Weg gefunden, Dem Dämon iſt ſein Opfer unverloren. Wär' es an öde Klippen angebunden Und an des Atlas himmeltragende Säulen, So wird ein Flügelroß es dort ereilen. Nicht hinter mich begehr' ich mehr zu ſchauen, In keine Heimat ſehn' ich mich zurück, Der Liebe will ich liebend mich vertrauen: Gibt es ein ſchönres als der Liebe Glück? Mit meinem Los will ich mich gern beſcheiden, Ich kenne nicht des Lebens andre Freuden. Nicht kenn' ich ſie und will ſie nimmer kennen, Die ſich die Stifter meiner Tage nennen, Wenn ſie von dir mich, mein Geliebter, trennen, Ein ewig Rätſel bleiben will ich mir, Ich weiß genug, ich lebe dir! (Aufmerkend.) Horch, der lieben Stimme Schall! — Nein, es war der Widerhall Und des Meeres dumpfes Brauſen, Das ſich an den Ufern bricht, Der Geliebte iſt es nicht! Weh mir! Weh mir! Wo er weilet? Mich umſchlingt ein kaltes Grauſen! Immer tiefer Sinkt die Sonne! Immer öder Wird die Ode! Immer ſchwerer Wird das Herz — Wo zögert er? (Sie geht unruhig umher.) Aus des Gartens ſichern Mauern Wag' ich meinen Schritt nicht mehr. Kalt ergriff mich das Entſetzen, 1076 1080 1085 1090 1095 1100 [Zweiter Aufzug. 1. Auftritt! Als ich in die nahe Kirche Wagte meinen Fuß zu ſetzen, Denn mich trieb's mit mächt'gem Drang, Aus der Seele tiefſten Tiefen, Als ſie zu der Hora riefen, Hinzuknien an heil'ger Stätte, Zu der Göttlichen zu flehn, Nimmer konnt' ich widerſtehn. Wenn ein Lauſcher mich erſpähte? Voll von Feinden iſt die Welt, Argliſt hat auf allen Pfaden, Fromme Unſchuld zu verraten, Ihr betrüglich Netz geſtellt. Einmal hab' ich's ſchon erfahren, Als ich aus des Kloſters Hut In die fremden Menſchenſcharen Mich gewagt mit frevelm Mut. Dort bei jenes Feſtes Feier, Da der Fürſt begraben ward, Mein Erkühnen büßt' ich teuer, — Nur ein Gott hat mich bewahrt — Da der Jüngling mir, der fremde, Nahte, mit dem Flammenauge, Und mit Blicken, die mich ſchreckten, Mir das Innerſte durchzuckten, In das tiefſte Herz mir ſchaute — Noch durchſchauert kaltes Grauen, Da ich's denke, mir die Bruſt! Nimmer, nimmer kann ich ſchauen In die Augen des Geliebten, Dieſer ſtillen Schuld bewußt! (Aufhorchend.) Stimmen im Garten! Er iſt's, der Geliebte! 45 1105 1110 1116 1120 46 Die Braut von Meſſina Er ſelber! Jetzt täuſchte Kein Blendwerk mein Ohr, Es naht, es vermehrt ſich! In ſeine Arme! An ſeine Bruſt! (Sie eilt mit ausgebreiteten Armen nach der Tiefe des Gartens, Don Ceſar tritt ihr entgegen.) Don Ceſar. Beatrice. Der Chor. Beatrice (mit Schrecken zurückfliehend). Weh mir! Was ſeh' ich! (In demſelben Augenblick tritt auch der Chor ein.) Don Ceſar. Holde Schönheit, fürchte nichts! (Zu dem Chor.) Der rauhe Anblick eurer Waffen ſchreckt Die zarte Jungfrau — Weicht zurück und bleibt In ehrerbiet'ger Ferne! (Zu Seatricen.) Fürchte nichts! Die holde Scham, die Schönheit iſt mir heilig. (Der Chor hat ſich zurückgezogen. Er tritt ihr näher und ergreift ihre Hand. Wo warſt du? Welches Gottes Macht entrückte, Verbarg dich dieſe lange Zeit? Dich hab' ich Geſucht, nach dir geforſchet, wachend, träumend Warſt du des Herzens einziges Gefühl, Seit ich bei jenem Leichenfeſt des Fürſten Wie eines Engels Lichterſcheinung dich Zum erſtenmal erblickte — Nicht verborgen Blieb dir die Macht, mit der du mich bezwangſt. Der Blicke Feuer und der Lippe Stammeln, 1125 1130 1135 1140 1145 1150 [Zweiter Aufzug. 2. Auftritt! 47 Die Hand, die in der deinen zitternd lag, Verriet ſie dir — ein kühneres Geſtändnis Verbot des Ortes ernſte Majeſtät. — Der Meſſe Hochamt rief mich zum Gebet, Und da ich von den Knieen jetzt erſtanden, Die erſten Blicke ſchnell auf dich ſich heften, Warſt du aus meinen Augen weggerückt, Doch nachgezogen mit allmächt'gen Zaubers Banden Haſt du mein Herz mit allen ſeinen Kräften. Seit dieſem Tage ſuch' ich raſtlos dich An aller Kirchen und Paläſte Pforten, An allen offnen und verborgnen Orten, Wo ſich die ſchöne Unſchuld zeigen kann, Hab' ich das Netz der Späher ausgebreitet, Doch meiner Mühe ſah ich keine Frucht, Bis endlich heut', von einem Gott geleitet, Des Splähers glückbekrönte Wachſamkeit In dieſer nächſten Kirche dich entdeckte. (Hier macht Beatrice, welche in dieſer ganzen Zeit zitternd und abgewandt geſtanden, eine Bewegung des Schreckens.) Ich habe dich wieder, und der Geiſt verlaſſe Eher die Glieder, eh' ich von dir ſcheide! Und daß ich feſt ſogleich den Zufall faſſe Und mich verwahre vor des Dämons Neide, So red' ich dich vor dieſen Zeugen allen Als meine Gattin an und reiche dir Zum Pfande des die ritterliche Rechte. (Er ſtellt ſie dem Chor dar.) Nicht forſchen will ich, wer du biſt — Ich will Nur dich von dir, nichts frag' ich nach dem andern. Daß deine Seele wie dein Urſprung rein, Hat mir dein erſter Blick verbürget und beſchworen, Und wärſt du ſelbſt die Niedrigſte geboren, Du müßteſt dennoch meine Liebe ſein, Die Freiheit hab' ich und die Wahl verloren. 1155 1160 1165 1170 1175 48 Die Braut von Meſſina Und daß du wiſſen mögeſt, ob ich auch Herr meiner Taten ſei und hoch genug Geſtellt auf dieſer Welt, auch das Geliebte Mit ſtarkem Arm zu mir emporzuheben, Bedarf's nur, meinen Namen dir zu nennen. — Ich bin Don Ceſar, und in dieſer Stadt Meſſina iſt kein Größrer über mir. (Beatrice ſchaudert zurück; er bemerkt es und fährt nach einer kleinen Weile fort.) Dein Staunen lob' ich und dein ſittſam Schweigen, Schamhafte Demut iſt der Reize Krone, Denn ein Verborgenes iſt ſich das Schöne, Und es erſchrickt vor ſeiner eignen Macht. — Ich geh' und überlaſſe dich dir ſelbſt, Daß ſich dein Geiſt von ſeinem Schrecken löſe, Denn jedes Neue, auch das Glück, erſchreckt. (Zu dem Chor.) Gebt ihr — ſie iſt's von dieſem Augenblick! Die Ehre meiner Braut und eurer Fürſtin, Belehret ſie von ihres Standes Größe. Bald kehr' ich ſelbſt zurück, ſie heimzuführen, Wie's meiner würdig iſt und ihr gebührt. (Er geht ab.) Beatrice und der Chor. Chor. Heil dir, o Jungfrau, Liebliche Herrſcherin! Dein iſt die Krone, Dein iſt der Sieg! Als die Erhalterin Dieſes Geſchlechtes, [Zweiter Aufzug. 3. Auftritt] 1180 Künftiger Helden Blühende Mutter begrüß' ich dich! Dreifaches Heil dir! Mit glücklichen Zeichen, Glückliche, trittſt du 1185 In ein götterbegünſtigtes, glückliches Haus, Wo die Kränze des Ruhmes hängen Und das goldene Zepter in ſtetiger Reihe Wandert vom Ahnherrn zum Enkel hinab. Deines lieblichen Eintritts 1190 Werden ſich freuen Die Penaten des Hauſes, Die hohen, die ernſten, Verehrten Alten; An der Schwelle empfangen 1195 Wird dich die immer blühende Hebe Und die goldne Victoria, Die geflügelte Göttin, Die auf der Hand ſchwebt des ewigen Vaters, Ewig die Schwingen zum Siege geſpannt. 1200 Nimmer entweicht Die Krone der Schönheit Aus dieſem Geſchlechte, Scheidend reicht Eine Fürſtin der andern 1205 Den Gürtel der Anmut Und den Schleier der züchtigen Scham. Aber das Schönſte Erlebt mein Auge, Denn ich ſehe die Blume der Tochter, 1210 Ehe die Blume der Mutter verblüht. Beatrice (aus ihrem Schrecken erwachend). Wehe mir! In welche Hand Hat das Unglück mich gegeben! Schillers Werke. VII. 4 1216 1220 1230 1235 1240 50 Die Braut von Meſſina Unter allen, Welche leben, Nicht in dieſe ſollt' ich fallen! Jetzt verſteh' ich das Entſetzen, Das geheimnisvolle Grauen, Das mich ſchaudernd ſtets gefaßt, Wenn man mir den Namen nannte Dieſes furchtbaren Geſchlechtes, Das ſich ſelbſt vertilgend haßt, Gegen ſeine eignen Glieder Wütend mit Erbittrung raſt! Schaudernd hört' ich oft und wieder Von dem Schlangenhaß der Brüder, Und jetzt reißt mein Schreckenſchickſal Mich die Arme, Rettungsloſe In den Strudel dieſes Haſſes, Dieſes Unglücks mich hinein! (Sie flieht in den Gartenſaal.) Chor. Den begünſtigten Sohn der Götter beneid' ich, Den beglückten Beſitzer der Macht! Immer das Köſtlichſte iſt ſein Anteil, Und von allem, was hoch und herrlich Von den Sterblichen wird geprieſen, Bricht er die Blume ſich ab. Von den Perlen, welche der tauchende Fiſcher Auffängt, wählt er die reinſten für ſich. Für den Herrſcher legt man zurück das Beſte, Was gewonnen ward mit gemeinſamer Arbeit; Wenn ſich die Diener durchs Los vergleichen, Ihm iſt das Schönſte gewiß. 1245 1250 1255 1260 1265 [Zweiter Aufzug. 5. Auftritt! 51 Aber eines doch iſt ſein köſtlichſtes Kleinod, Jeder andre Vorzug ſei ihm gegönnt, Dieſes beneid' ich ihm unter allem: Daß er heimführt die Blume der Frauen, Die das Entzücken iſt aller Augen, Daß er ſie eigen beſitzt. Mit dem Schwerte ſpringt der Korſar an die Küſte In dem nächtlich ergreifenden Überfall; Männer führt er davon und Frauen Und erſättigt die wilde Begierde, Nur die ſchönſte Geſtalt darf er nicht berühren, Die iſt des Königes Gut. Aber jetzt folgt mir, zu bewachen den Eingang Und die Schwelle des heiligen Raums, Daß kein Ungeweihter in dieſes Geheimnis Dringe und der Herrſcher uns lobe, Der das Köſtlichſte, was er beſitzet, Unſrer Bewahrung vertraut. (Der Chor entfernt ſich nach dem Hintergrunde.) Die Szene verwandelt ſich in ein Zimmer im Innern des Palaſtes. Donna Iſabella ſteht zwiſchen Don Manuel und Don Ceſar. Isabella. Nun endlich iſt mir der erwünſchte Tag, Der langerſehnte, feſtliche erſchienen — Vereint ſeh' ich die Herzen meiner Kinder, Wie ich die Hände leicht zuſammenfüge, Und im vertrauten Kreis zum erftenmal Kann ſich das Herz der Mutter freudig öffnen. 52 Die Braut von Meſſina Fern iſt der fremden Zeugen rohe Schar, Die zwiſchen uns ſich kampfgerüſtet ſtellte — Der Waffen Klang erſchreckt mein Ohr nicht mehr, Und wie der Eulen nachtgewohnte Brut 1270 Von der zerſtörten Brandſtatt, wo fie lang’ Mit altverjährtem Eigentum geniſtet, Auffliegt in düſterm Schwarm, den Tag verdunkelnd, Wenn ſich die lang' vertriebenen Bewohner Heimkehrend nahen mit der Freude Schall, 1275 Den neuen Bau lebendig zu beginnen, So flieht der alte Haß mit ſeinem nächtlichen Gefolge, dem hohläugigten Verdacht, Der ſcheelen Mißgunſt und dem bleichen Neide, Aus dieſen Toren murrend zu der Hölle, 12860 Und mit dem Frieden zieht geſelliges Vertraun und holde Eintracht lächelnd ein. (Sie hält inne.) — Doch nicht genug, daß dieſer heut'ge Tag Jedem von beiden einen Bruder ſchenkt, Auch eine Schweſter hat er euch geboren. 1286 — Ihr ſtaunt? Ihr ſeht mich mit Verwundrung an? Ja, meine Söhne! Es iſt Zeit, daß ich Mein Schweigen breche und das Siegel löſe Von einem lang' verſchloſſenen Geheimnis. — Auch eine Tochter hab' ich eurem Vater 120 Geboren — eine jüngre Schweſter lebt Euch noch — Ihr ſollt noch heute ſie umarmen. Don Ceſar. Was ſagſt du, Mutter? Eine Schweſter lebt uns, Und nie vernahmen wir von dieſer Schweſter! Don Manuel. Wohl hörten wir in früher Kinderzeit, 1295 Daß eine Schweſter uns geboren worden, 1300 1305 1310 1315 [Zweiter Aufzug. 5. Auftritt! Doch in der Wiege ſchon, ſo ging die Sage, Nahm ſie der Tod hinweg. Aſabella. Die Sage lügt! Sie lebt! Don Ceſar. Sie lebt, und du verſchwiegeſt uns? Isabella. Von meinem Schweigen geb' ich Rechenſchaft. Hört, was geſäet ward in frührer Zeit Und jetzt zur frohen Ernte reifen ſoll. — Ihr wart noch zarte Knaben, aber ſchon Entzweite euch der jammervolle Zwiſt, Der ewig nie mehr wiederkehren möge, Und häufte Gram auf eurer Eltern Herz, Da wurde eurem Vater eines Tages Ein ſeltſam wunderbarer Traum. Ihm deuchte, Er ſäh' aus ſeinem hochzeitlichen Bette Zwei Lorbeerbäume wachſen, ihr Gezweig Dicht ineinander flechtend — zwiſchen beiden Wuchs eine Lilie empor — Sie ward Zur Flamme, die, der Bäume dicht Gezweig Und das Gebälk ergreifend, praſſelnd aufſchlug Und um ſich wütend, ſchnell, das ganze Haus In ungeheurer Feuerflut verſchlang. Erſchreckt von dieſem ſeltſamen Geſichte Befragt' der Vater einen ſternekundigen Arabier, der ſein Orakel war, An dem fein Herz mehr hing, als mir gefiel, Um die Bedeutung. Der Arabier Erklärte: wenn mein Schoß von einer Tochter Entbunden würde, töten würde ſie ihm Die beiden Söhne, und ſein ganzer Stamm 53 54 Die Braut von Meſſina Durch ſie vergehn — Und ich ward Mutter einer Tochter. 1325 Der Vater aber gab den graujamen Befehl, die Neugeborene alsbald Ins Meer zu werfen. Ich vereitelte Den blut'gen Vorſatz und erhielt die Tochter Durch eines treuen Knechts verſchwiegnen Dienſt. Don Ceſar. 1330 Geſegnet fet er, der dir hilfreich war, O nicht an Rat gebricht's der Mutterliebe! Aſabella. Der Mutterliebe mächt'ge Stimme nicht Allein trieb mich, das Kindlein zu verſchonen. Auch mir ward eines Traumes ſeltſames 1335 Orakel, als mein Schoß mit dieſer Tochter Geſegnet war: Ein Kind, wie Liebesgötter ſchön, Sah ich im Graſe ſpielen, und ein Löwe Kam aus dem Wald, der in dem blut'gen Rachen Die friſch gejagte Beute trug, und ließ 1340 Sie ſchmeichelnd in den Schoß des Kindes fallen. Und aus den Lüften ſchwang ein Adler ſich Herab, ein zitternd Reh in ſeinen Fängen, Und legt' es ſchmeichelnd in den Schoß des Kindes, Und beide, Löw' und Adler, legen fromm 1345 Gepaart ſich zu des Kindes Füßen nieder. — Des Traums Verſtändnis löſte mir ein Mönch, Ein gottgeliebter Mann, bei dem das Herz Rat fand und Troſt in jeder ird'ſchen Not. Der ſprach: „Geneſen würd' ich einer Tochter, 1350 Die mir der Söhne ſtreitende Gemüter In heißer Liebesglut vereinen würde.“ — Im Innerſten bewahrt' ich mir dies Wort, Dem Gott der Wahrheit mehr als dem der Lüge Vertrauend, rettet' ich die Gottverheißne, [Zweiter Aufzug. 5. Auftritt] 55 1256 Des Segens Tochter, meiner Hoffnung Pfand, Die mir des Friedens Werkzeug ſollte ſein, Als euer Haß ſich wachſend ſtets vermehrte. Don Manuel (seinen Bruder umarmend). Nicht mehr der Schweſter braucht's, der Liebe Band Zu flechten, aber feſter ſoll ſie's knüpfen. Aſabella. 1360 So ließ ich an verborgner Stätte fie, Von meinen Augen fern, geheimnisvoll, Durch fremde Hand erziehn — den Anblick ſelbſt Des lieben Angeſichts, den heißerflehten, Verſagt' ich mir, den ſtrengen Vater ſcheuend, 1386 Der, von des Argwohns ruheloſer Pein Und finſter grübelndem Verdacht genagt, Auf allen Schritten mir die Späher pflanzte. Don Ceſar. Drei Monde aber deckt den Vater ſchon Das ſtille Grab — Was wehrte dir, o Mutter, 1370 Die lang' Verborgne an das Licht hervor Zu ziehn und unſre Herzen zu erfreuen? Isabella. Was ſonſt als euer unglückſel'ger Streit, Der, unauslöſchlich wütend, auf dem Grab Des kaum entſeelten Vaters ſich entflammte, 1375 Nicht Raum noch Stätte der Verſöhnung gab? Konnt' ich die Schweſter zwiſchen eure wild Entblößten Schwerter ſtellen? Konntet ihr In dieſem Sturm die Mutterſtimme hören? Und ſollt' ich ſie, des Friedens teures Pfand, 1380 Den letzten heil'gen Anker meiner Hoffnung, An eures Haſſes Wut unzeitig wagen? — Erſt mußtet ihr's ertragen, euch als Brüder 56 Die Braut von Meſſina Zu ſehn, eh' ich die Schweſter zwiſchen euch Als einen Friedensengel ſtellen konnte. 1385 Jetzt kann ich's, und ich führe fie euch zu. Den alten Diener hab' ich ausgeſendet, Und ſtündlich harr' ich ſeiner Wiederkehr, Der, ihrer ſtillen Zuflucht ſie entreißend, Zurück an meine mütterliche Bruſt 130 Sie führt und in die brüderlichen Arme. Don Manuel. Und ſie iſt nicht die einz'ge, die du heut' In deine Mutterarme ſchließen wirſt. Es zieht die Freude ein durch alle Pforten, Es füllt ſich der verödete Palaſt 1395 Und wird der Sitz der blühnden Anmut werden. — Vernimm, o Mutter, jetzt auch mein Geheimnis. Eine Schweſter gibſt du mir — Ich will dafür Dir eine zweite liebe Tochter ſchenken. Ja, Mutter! Segne deinen Sohn! — Dies Herz, 1400 Es hat gewählt; gefunden hab' ich fie, Die mir durchs Leben ſoll Gefährtin ſein. Eh' dieſes Tages Sonne ſinkt, führ' ich Die Gattin dir Don Manuels zu Füßen. Isabella. An meine Bruſt will ich ſie freudig ſchließen, 1405 Die meinen Erſtgebornen mir beglückt, Auf ihren Pfaden ſoll die Freude ſprießen, Und jede Blume, die das Leben ſchmückt, Und jedes Glück ſoll mir den Sohn belohnen, Der mir die ſchönſte reicht der Mutterkronen! Don Ceſar. 1410 Verſchwende, Mutter, deines Segens Fülle Nicht an den einen erſtgebornen Sohn! [Zweiter Aufzug. 5. Auftritt! 57 Wenn Liebe Segen gibt, ſo bring' auch ich Dir eine Tochter, ſolcher Mutter wert, Die mich der Liebe neu Gefühl gelehrt. 1416 Eh' dieſes Tages Sonne ſinkt, führt auch Don Ceſar ſeine Gattin dir entgegen. Don Manuel. Allmächt'ge Liebe! Göttliche! Wohl nennt Man dich mit Recht die Königin der Seelen! Dir unterwirft ſich jedes Element, 1420 Du kannſt das feindlich Streitende vermählen, Nichts lebt, was deine Hoheit nicht erkennt, Und auch des Bruders wilden Sinn haſt du Beſiegt, der unbezwungen ſtets geblieben. (Don Ceſar umarmend.) Jetzt glaub' ich an dein Herz und ſchließe dich 1425 Mit Hoffnung an die brüderliche Bruſt, Nicht zweifl' ich mehr an dir, denn du kannſt lieben. ſabella. Dreimal geſegnet ſei mir dieſer Tag, Der mir auf einmal jede bange Sorge Vom ſchwerbeladnen Buſen hebt — Gegründet 1430 Auf feſten Säulen ſeh' ich mein Geſchlecht, Und in der Zeiten Unermeßlichkeit Kann ich hinabſehn mit zufriednem Geiſt. Noch geſtern ſah ich mich im Witwenſchleier, Gleich einer Abgeſchiednen, kinderlos, 1435 In dieſen öden Sälen ganz allein, Und heute werden in der Jugend Glanz Drei blühnde Töchter mir zur Seite ſtehen. Die Mutter zeige ſich, die glückliche, Von allen Weibern, die geboren haben, 1440 Die ſich mit mir an Herrlichkeit vergleicht! — Doch welcher Fürſten königliche Töchter 58 Die Braut von Meffina Erblühen denn an dieſes Landes Grenzen, Davon ich Kunde nie vernahm? — denn nicht Unwürdig wählen konnten meine Söhne! Don Manuel. 1445 Nur heute, Mutter, fordre nicht, den Schleier Hinwegzuheben, der mein Glück bedeckt. Es kommt der Tag, der alles löſen wird; Am beſten mag die Braut ſich ſelbſt verkünden, Des ſei gewiß, du wirſt ſie würdig finden. Isabella. 1450 Des Vaters eignen Sinn und Geiſt erkenn' ich In meinem erſtgebornen Sohn! Der liebte Von jeher, ſich verborgen in ſich ſelbſt Zu ſpinnen und den Ratſchluß zu bewahren Im unzugangbar feſt verſchloſſenen Gemüt! 1455 Gern mag ich dir die kurze Friſt vergönnen, Doch mein Sohn Ceſar, des bin ich gewiß, Wird jetzt mir eine Königstochter nennen. Don Ceſar. Nicht meine Weiſe iſt's, geheimnisvoll Mich zu verhüllen, Mutter. Frei und offen 14660 Wie meine Stirne trag' ich mein Gemüt; Doch was du jetzt von mir begehrſt zu wiſſen, Das, Mutter — laß mich's redlich dir geſtehn, Hab' ich mich ſelbſt noch nicht gefragt. Fragt man, Woher der Sonne Himmelsfeuer flamme? 1465 Die alle Welt verklärt, erklärt ſich ſelbſt, Ihr Licht bezeugt, daß ſie vom Lichte ſtamme. Ins klare Auge ſah ich meiner Braut, Ins Herz des Herzens hab' ich ihr geſchaut, Am reinen Glanz will ich die Perle kennen, 1 Doch ihren Namen kann ich dir nicht nennen. 1475 1480 1485 1490 1495 1500 Zweiter Aufzug. 5. Auftritt! 59 Aſabella. Wie, mein Sohn Ceſar? Kläre mir das auf. Zu gern dem erſten mächtigen Gefühl Vertrauteſt du, wie einer Götterſtimme. Auf raſcher Jugendtat erwart' ich dich, Doch nicht auf törigt kindiſcher — Laß hören, Was deine Wahl gelenkt. Don Ceſar. Wahl, meine Mutter? Iſt's Wahl, wenn des Geſtirnes Macht den Menſchen Ereilt in der verhängnisvollen Stunde? Nicht eine Braut zu ſuchen, ging ich aus, Nicht wahrlich ſolches Eitle konnte mir Zu Sinne kommen in dem Haus des Todes, Denn dorten fand ich, die ich nicht geſucht. Gleichgültig war und nichts bedeutend mir Der Frauen leer geſchwätziges Geſchlecht, Denn eine zweite ſah ich nicht wie dich, Die ich gleich wie ein Götterbild verehre. Es war des Vaters ernſte Totenfeier, Im Volksgedräng verborgen wohnten wir Ihr bei, du weißt's, in unbekannter Kleidung: So hatteſt du's mit Weisheit angeordnet, Daß unſers Haders wild ausbrechende Gewalt des Feſtes Würde nicht verletze. — Mit ſchwarzem Flor behangen war das Schiff Der Kirche, zwanzig Genien umſtanden Mit Fackeln in den Händen den Altar, Vor dem der Totenſarg erhaben ruhte, Mit weißbekreuztem Grabestuch bedeckt. Und auf dem Grabtuch ſahe man den Stab Der Herrſchaft liegen und die Fürſtenkrone, Den ritterlichen Schmuck der goldnen Sporen, 60 Die Braut von Meſſina Das Schwert mit diamantenem Gehäng. — Und alles lag in ſtiller Andacht knieend, Als ungeſehen jetzt vom hohen Chor Herab die Orgel anfing, ſich zu regen, 1505 Und hundertſtimmig der Geſang begann — Und als der Chor noch fortklung, ſtieg der Sarg Mitſamt dem Boden, der ihn trug, allmählich Verſinkend in die Unterwelt hinab, Das Grabtuch aber überſchleierte 1510 Weit ausgebreitet die verborgne Mündung, Und auf der Erde blieb der ird'ſche Schmuck Zurück, dem Niederfahrenden nicht folgend — Doch auf den Seraphsflügeln des Geſangs Schwang die befreite Seele ſich nach oben, 1516 Den Himmel ſuchend und den Schoß der Gnade. — Dies alles, Mutter, ruf' ich dir, genau Beſchreibend, ins Gedächtnis jetzt zurück, Daß du erkenneſt, ob zu jener Stunde Ein weltlich Wünſchen mir im Herzen war. 1520 Und dieſen feſtlich ernſten Augenblick Erwählte ſich der Lenker meines Lebens, Mich zu berühren mit der Liebe Strahl — Wie es geſchah, frag' ich mich ſelbſt vergebens. Dfabella, Vollende dennoch! Laß mich alles hören. Don Ceſar. 1525 Woher ſie kam, und wie fie ſich zu mir Gefunden, dieſes frage nicht — Als ich Die Augen wandte, ſtand ſie mir zur Seite, Und dunkel mächtig, wunderbar, ergriff Im tiefſten Innerſten mich ihre Nähe. 1530 Nicht ihres Weſens ſchöner Außenſchein, Nicht ihres Lächelns holder Zauber war's, 1535 1540 1545 1550 1555 1560 [Zweiter Aufzug. 5. Auftritt 61 Die Reize nicht, die auf der Wange ſchweben, Selbſt nicht der Glanz der göttlichen Geſtalt — Es war ihr tiefſtes und geheimſtes Leben, Was mich ergriff mit heiliger Gewalt; Wie Zaubers Kräfte unbegreiflich weben — Die Seelen ſchienen ohne Worteslaut Sich ohne Mittel geiſtig zu berühren, Als ſich mein Atem miſchte mit dem ihren, Fremd war ſie mir und innig doch vertraut, Und klar auf einmal fühlt' ich's in mir werden, Die iſt es oder keine ſonſt auf Erden! Don Manuel (mit Feuer einfallend). Das iſt der Liebe heil'ger Götterſtrahl, Der in die Seele ſchlägt und trifft und zündet, Wenn ſich Verwandtes zum Verwandten findet, Da iſt kein Widerſtand und keine Wahl, Es löſt der Menſch nicht, was der Himmel bindet. — Dem Bruder fall' ich bei, ich muß ihn loben, Mein eigen Schickſal iſt's, was er erzählt, Den Schleier hat er glücklich aufgehoben Von dem Gefühl, das dunkel mich beſeelt. Zſabella. Den eignen freien Weg, ich ſeh' es wohl, Will das Verhängnis gehn mit meinen Kindern. Vom Berge ſtürzt der ungeheure Strom, Wühlt ſich ſein Bette ſelbſt und bricht ſich Bahn, Nicht des gemeßnen Pfades achtet er, Den ihm die Klugheit vorbedächtig baut. So unterwerf' ich mich — wie kann ich's ändern? — Der unregierſam ſtärkern Götterhand, Die meines Hauſes Schickſal dunkel ſpinnt; Der Söhne Herz iſt meiner Hoffnung Pfand, Sie denken groß, wie ſie geboren ſind. 62 Die Braut von Meſſina Sfabella. Don Manuel. Don Ceſar. Diego zeigt ſich an der Türe. Isabella. Doch ſieh! Da kommt mein treuer Knecht zurück! Nur näher, näher, redlicher Diego! 155 Wo iſt mein Kind? — Sie wiſſen alles! Hier Iſt kein Geheimnis mehr — Wo iſt fie? Sprich! Verbirg ſie länger nicht, wir ſind gefaßt, Die höchſte Freude zu ertragen. Komm! (Sie will mit ihm nach der Türe gehen.) Was iſt das? Wie? Du zögerſt? Du verſtummſt? 1570 Das iſt kein Blick, der Gutes mir verkündet! Was iſt dir? Sprich! Ein Schauder faßt mich an. Wo iſt fie? Wo iſt Beatrice? (Wil hinaus.) Don Manuel (für ſich, betroffen). Beatrice! Diego (hält fie guriid). Bleib! ſabella. Wo iſt ſie? Mich entſeelt die Angſt. Diego. Sie folgt Mir nicht. Ich bringe dir die Tochter nicht. Isabella. 157 Was iſt geſchehn? Bei allen Heil'gen, rede! Don Ceſar. Wo iſt die Schweſter? Unglückſel'ger, rede! Diego. Sie iſt geraubt! Geſtohlen von Korſaren! O hätt' ich nimmer dieſen Tag geſehn! [Zweiter Aufzug. 6. Auftritt! 63 Don Manuel. Faſſ' dich, o Mutter! Don Ceſar. Mutter, ſei gefaßt! 1880 Bezwinge dich, bis du ihn ganz vernommen! Diego. Ich machte ſchnell mich auf, wie du befohlen, Die oft betretne Straße nach dem Kloſter Zum letztenmal zu gehn — Die Freude trug mich Auf leichten Flügeln fort. Don Ceſar. Zur Sache! on Manuel. . Rede! / Diego. 18686 Und da ich in die wohlbekannten Höfe Des Kloſters trete, die ich oft betrat, Nach deiner Tochter ungeduldig frage, Seh' ich des Schreckens Bild in jedem Auge, Entſetzt vernehm' ich das Entſetzliche. (Iſabella ſinkt bleich und zitternd auf einen Seſſel, Don Manuel iſt um fie beſchäftigt.) Don Ceſar. 150 Und Mauren, ſagſt du, raubten fie hinweg? Sah man die Mauren? Wer bezeugte dies? Diego. Ein mauriſch Räuberſchiff gewahrte man In einer Bucht, unfern dem Kloſter ankernd. Don Ceſar. Manch Segel rettet ſich in dieſe Buchten 1598 Vor des Orkanes Wut — Wo iſt das Schiff? 1600 1605 1610 1616 Die Braut von Meſſina Diego. Heut' frühe ſah man es in hoher See Mit voller Segel Kraft das Weite ſuchen. Don Ceſar. Hört man von anderm Raub noch, der geſchehn? Dem Mauren gnügt einfache Beute nicht. Diego. Hinweggetrieben wurde mit Gewalt Die Rinderherde, die dort weidete. Don Ceſar. Wie konnten Räuber aus des Kloſters Mitte Die Wohlverſchloßne heimlich raubend ſtehlen? Diego. Des Kloſtergartens Mauern waren leicht Auf hoher Leiter Sproſſen überſtiegen. Don Ceſar. Wie brachen ſie ins Innerſte der Zellen? Denn fromme Nonnen hält der ſtrenge Zwang. Diego. Die noch durch kein Gelübde ſich gebunden, Sie durfte frei im Freien ſich ergehen. Don Ceſar. Und pflegte ſie des freien Rechtes oft Sich zu bedienen? Dieſes ſage mir. Diego. Oft Jah man fie des Gartens Stille ſuchen, Der Wiederkehr vergaß ſie heute nur. Don Ceſar (nachdem er ſich eine Weile bedacht). Raub ſagſt du? War ſie frei genug dem Räuber, So konnte ſie in Freiheit auch entfliehen. 1620 1625 1630 [Zweiter Aufzug. 6. Auftritt! 65 Dfabella (ſteht auß). Es iſt Gewalt! Es iſt verwegner Raub! Nicht pflichtvergeſſen konnte meine Tochter Aus freier Neigung dem Entführer folgen! — Don Manuel! Don Ceſar! Eine Schweſter Dacht' ich euch zuzuführen, doch ich ſelbſt Soll jetzt ſie eurem Heldenarm verdanken! In eurer Kraft erhebt euch, meine Söhne! Nicht ruhig duldet es, daß eure Schweſter Des frechen Diebes Beute ſei — Ergreift Die Waffen! Rüſtet Schiffe aus! Durchforſcht Die ganze Küſte! Durch alle Meere ſetzt Dem Räuber nach! Erobert euch die Schweſter! Don Ceſar. Leb' wohl! Zur Rache flieg' ich, zur Entdeckung! (Er geht ab. Don Manuel, aus einer tiefen Zerſtreuung erwachend, wendet ſich beunruhigt zu Diego.) Don Manuel. Wann, ſagſt du, ſei ſie unſichtbar geworden? Diego. Seit dieſem Morgen erſt ward ſie vermißt. Don Manuel (zu Donna Iſabella). Und Beatrice nennt ſich deine Tochter? Aſabella. Dies iſt ihr Name! Eile! Frage nicht! Don Manuel. Nur eines noch, o Mutter, laß mich wiſſen — Aſabella. Fliege zur Tat! Des Bruders Beiſpiel folge! Schillers Werke. VII. 5 66 1635 1640 1645 Die Braut von Meſſina Don Manuel. In welcher Gegend, ich beſchwöre dich — Aſabella (ihn forttreibend). Sieh meine Tränen! Meine Todesangſt! Don Manuel. In welcher Gegend hieltſt du ſie verborgen? Favela. Verborgner nicht war fie im Schoß der Erde! Diego. O jetzt ergreift mich plötzlich bange Furcht. Don Manuel. Furcht, und worüber? Sage, was du weißt. Diego. Daß ich des Raubs unſchuldig Urſach ſei. Iſabella. Unglücklicher, entdecke, was geſchehn. Diego. Ich habe dir's verhehlt, Gebieterin, Dein Mutterherz mit Sorge zu verſchonen. Am Tage, als der Fürſt beerdigt ward Und alle Welt, begierig nach dem Neuen, Der ernſten Feier ſich entgegendrängte, Lag deine Tochter — denn die Kunde war Auch in des Kloſters Mauern eingedrungen — Lag ſie mir an mit unabläſſ'gem Flehn, Ihr dieſes Feſtes Anblick zu gewähren. Ich Unglückſeliger ließ mich bewegen, Verhüllte ſie in ernſte Trauertracht, Und alſo war ſie Zeugin jenes Feſtes. 1655 1660 1665 1670 1675 [Zweiter Aufzug. 6. Auftritt! 67 Und dort, befürcht' ich, in des Volks Gewühl, Das ſich herbeigedrängt von allen Enden, Ward ſie vom Aug' des Räubers ausgeſpäht, Denn ihrer Schönheit Glanz birgt keine Hülle. Don Manuel por ſich, erleichtert). Glückſel'ges Wort, das mir das Herz befreit! Das gleicht ihr nicht! Dies Zeichen trifft nicht zu. Zſabella. Wahnſinn'ger Alter! So verrietſt du mich! Diego. Gebieterin, ich dacht' es gut zu machen. Die Stimme der Natur, die Macht des Bluts Glaubt' ich in dieſem Wunſche zu erkennen; Ich hielt es für des Himmels eignes Werk, Der mit verborgen ahnungsvollem Zuge Die Tochter hintrieb zu des Vaters Grab! Der frommen Pflicht wollt' ich ihr Recht erzeigen, Und ſo, aus guter Meinung, ſchafft' ich Böſes! Don Manuel (vor fis). Was ſteh' ich hier in Furcht und Zweifels Qualen? Schnell will ich Licht mir ſchaffen und Gewißheit. (Will gehen.) Don Ceſar (der zurückkommt). Verzieh, Don Manuel, gleich folg' ich dir. Don Manuel. Folge mir nicht, hinweg, mir folge niemand! (Er geht ab.) Don Ceſar (ſieht ihm verwundert nach). Was iſt dem Bruder? Mutter, ſage mir's. Isabella. Ich kenn' ihn nicht mehr. Ganz verkenn' ich ihn. 68 Die Braut von Meſſina Don Ceſar. Du ſiehſt mich wiederkehren, meine Mutter, Denn in des Eifers heftiger Begier Vergaß ich, um ein Zeichen dich zu fragen, Woran man die verlorne Schweſter kennt. 1680 Wie find' ich ihre Spuren, eh' ich weiß, Aus welchem Ort die Räuber ſie geriſſen? Das Kloſter nenne mir, das ſie verbarg. Isabella. Der heiligen Cäcilia iſt's gewidmet, Und hinterm Waldgebirge, das zum Atna 1088 Sich langſam ſteigend hebt, liegt es verſteckt, Wie ein verſchwiegner Aufenthalt der Seelen. Don Ceſar. Sei gutes Muts. Vertraue deinen Söhnen. Die Schweſter bring' ich dir zurück, müßt' ich Durch alle Länder ſie und Meere ſuchen. 100 Doch eines, Mutter, ijt es, was mich kümmert: Die Braut verließ ich unter fremdem Schutz — Nur dir kann ich das teure Pfand vertrauen, Ich ſende ſie dir her, du wirſt ſie ſchauen, An ihrer Bruſt, an ihrem lieben Herzen 105 Wirſt du des Grams vergeſſen und der Schmerzen. (Er geht ab.) Iſabella. Wann endlich wird der alte Fluch ſich löſen, Der über dieſem Hauſe laſtend ruht? Mit meiner Hoffnung ſpielt ein tückiſch Weſen, Und nimmer ſtillt ſich ſeines Neides Wut. 170 So nahe glaubt' ich mich dem ſichern Hafen, So ſeſt vertraut' ich auf des Glückes Pfand, [Dritter Aufzug. 1. Auftritt! 69 Und alle Stürme glaubt' ich eingeſchlafen, Und freudig winkend ſah ich ſchon das Land Im Abendglanz der Sonne ſich erhellen — i706 Da kommt ein Sturm, aus heitrer Luft geſandt, Und reißt mich wieder in den Kampf der Wellen! (Sie geht nach dem innern Hauſe, wohin ihr Diego folgt.) Die Szene verwandelt ſich in den Garten. Beide Chöre. Zuletzt Beatrice. (Der Chor des Don Manuel kommt in feſtlichem Aufzug, mit Kränzen geſchmückt und die oben beſchriebnen Brautgeſchenke begleitend; der Chor des Don Ceſar will ihm den Eintritt verwehren.) Grfter Chor. Du würdeſt wohl tun, dieſen Platz zu leeren. Zweiter Chor. Ich will's, wenn beßre Männer es begehren. Erſter Chor. Du könnteſt merken, daß du läſtig biſt. Zweiter Chor. 1710 Deswegen bleib' ich, weil es dich verdrießt. Erſter Chor. Hier iſt mein Platz. Wer darf zurück mich halten? Zweiter Chor. Ich darf es tun, ich habe hier zu walten. 1715 1720 1725 70 Die Braut von Meffina Grier Chor. Mein Herrſcher ſendet mich, Don Manuel! Zweiter Chor. Ich ſtehe hier auf meines Herrn Befehl. Erſter Chor. Dem ältern Bruder muß der jüngre weichen. Zweiter Chor. Dem Erſtbeſitzenden gehört die Welt. Erſter Chor. Verhaßter, geh und räume mir das Feld. Zweiter Chor. Nicht, bis ſich unſre Schwerter erſt vergleichen. Erſter Chor. Find' ich dich überall in meinen Wegen? Zweiter Chor. Wo mir's gefällt, da tret' ich dir entgegen. Erſter Chor. Was haſt du hier zu horchen und zu hüten? Zweiter Chor. Was haſt du hier zu fragen, zu verbieten? Erſter Chor. Dir ſteh' ich nicht zu Red' und Antwort hier. Zweiter Chor. Und nicht des Wortes Ehre gönn' ich dir. Erſter Chor. Ehrfurcht gebührt, o Jüngling, meinen Jahren. 1730 1735 [Dritter Aufzug. 1. Auftritt] Zweiter Chor. In Tapferkeit bin ich, wie du, erfahren! Beatrice (ſtürzt heraus). Weh mir, was wollen dieſe wilden Scharen? Erſter Chor (zum zweiten). Nichts acht' ich dich und deine ſtolze Miene! Zweiter Chor. Ein beßrer iſt der Herrſcher, dem ich diene! Beatrice. O weh mir, weh mir, wenn er jetzt erſchiene! Erſter Chor. Du lügſt! Don Manuel beſiegt ihn weit! Zweiter Chor. Den Preis gewinnt mein Herr in jedem Streit. Beatrice. Jetzt wird er kommen, dies iſt ſeine Zeit! Erſter Chor. Wäre nicht Friede, Recht verſchafft' ich mir! Zweiter Chor. Wär's nicht die Furcht, kein Friede wehrte dir. Beatrice. O wär' er tauſend Meilen weit von hier! Erſter Chor. Das Geſetz fürcht' ich, nicht deiner Blicke Trutz. Zweiter Chor. Wohl tuſt du dran, es iſt des Feigen Schutz. 71 72 Die Braut von Meſſina Erſter Chor. Fang an, ich folge! Zweiter Chor. Mein Schwert iſt heraus! Beatrice (in der heftigſten Beängſtigung). 1740 Sie werden handgemein, die Degen blitzen! Ihr Himmelsmächte, haltet ihn zurück! Werft euch in ſeinen Weg, ihr Hinderniſſe, Eine Schlinge legt, ein Netz um ſeine Füße, Daß er verfehle dieſen Augenblick! 1745 Ihr Engel alle, die ich flehend bat, Ihn herzuführen, täuſchet meine Bitte, Weit, weit von hier entfernet ſeine Schritte! (Sie eilt hinein. Indem die Chöre einander anfallen, erſcheint Don Manuel.) Don Manuel. Der Chor. Don Manuel. Was ſeh' ich! Haltet ein! Erſter Chor (zum zweiten). Komm an! Komm an! Zweiter Chor. Nieder mit ihnen! Nieder! Don Manuel (tritt zwiſchen ſie mit gezognem Schwert). Haltet ein! Erſter Chor. 1750 Es iſt der Fürſt. 1765 1760 1765 1770 [Dritter Aufzug. 2. Auftritt! Zweiter Chor. Der Bruder! Haltet Friede! Don Manuel. Den ſtreck' ich tot auf dieſes Raſens Grund, Der mit gezuckter Augenwimper nur Die Fehde fortſetzt und dem Gegner droht! Raſt ihr? Was für ein Dämon reizt euch an, Des alten Zwiſtes Flammen aufzublaſen, Der zwiſchen uns, den Fürſten, abgetan Und ausgeglichen iſt auf immerdar? 73 — Wer fing den Streit an? Redet! Ich will's wiſſen. Erſter Chor. Sie ſtanden hier — Zweiter Chor (unterbrechend). Sie kamen — Don Manuel (zum erſten Chor). Rede du! Erſter Chor. Wir kamen her, mein Fürſt, die Hochzeitgaben Zu überreichen, wie du uns befahlſt. Geſchmückt zu einem Feſte, keineswegs Zum Krieg bereit, du ſiehſt es, zogen wir In Frieden unſern Weg, nichts Arges denkend Und trauend dem beſchworenen Vertrag, Da fanden wir ſie feindlich hier gelagert Und uns den Eingang ſperrend mit Gewalt. Don Manuel. Unſinnige, iſt keine Freiſtatt ſicher Genug vor eurer blinden, tollen Wut? Auch in der Unſchuld ſtill verborgnen Sitz Bricht euer Hader friedeſtörend ein? 1775 1780 1785 1790 74 Die Braut von Meffina (Zum zweiten Chor.) Weiche zurück! Hier ſind Geheimniſſe, Die deine kühne Gegenwart nicht dulden. (Da derſelbe zögert.) Zurück! Dein Herr gebietet dir's durch mich, Denn wir ſind jetzt ein Haupt und ein Gemüt, Und mein Befehl iſt auch der ſeine. Geh! (Zum erſten Chor.) Du bleibſt und wahrſt des Eingangs. Zweiter Chor. Was beginnen? Die Fürſten ſind verſöhnt, das iſt die Wahrheit, Und in der hohen Häupter Span und Streit Sich unberufen, vielgeſchäftig drängen Bringt wenig Dank und öfterer Gefahr. Denn wenn der Mächtige des Streits ermüdet, Wirft er behend auf den geringen Mann, Der arglos ihm gedient, den blut'gen Mantel Der Schuld, und leicht gereinigt ſteht er da. Drum mögen ſich die Fürſten ſelbſt vergleichen, Ich acht' es für geratner, wir gehorchen. (Der zweite Chor geht ab, der erſte zieht ſich nach dem Hintergrund der Szene zurück. In demſelben Augenblicke ſtürzt Beatrice heraus und wirft ſich in Don Manuels Arme.) Beatrice. Don Manuel. Beatrice. Du biſt's. Ich habe dich wieder — Grauſamer! Du haſt mich lange, lange ſchmachten laſſen, Der Furcht und allen Schreckniſſen zum Raub Dahin gegeben — Doch nichts mehr davon! Ich habe dich — in deinen lieben Armen [Dritter Aufzug. 3. Auftritt! 75 Iſt Schutz und Schirm vor jeglicher Gefahr. Komm! Sie ſind weg! Wir haben Raum zur Flucht, 175 Fort, laß uns keinen Augenblick verlieren. (Sie will ihn mit ſich fortziehen und ſieht ihn jetzt erſt genauer an.) Was iſt dir? So verſchloſſen feierlich Empfängſt du mich — entziehſt dich meinen Armen, Als wollteſt du mich lieber ganz verſtoßen? Ich kenne dich nicht mehr — Iſt dies Don Manuel, 1800 Mein Gatte, mein Geliebter? Don Manuel. Beatrice! Beatrice. Nein, rede nicht! Jetzt iſt nicht Zeit zu Worten! Fort laß uns eilen, ſchnell, der Augenblick Iſt koſtbar — Don Manuel. Bleib! Antworte mir! Beatrice. Fort! Fort! Eh' dieſe wilden Männer wiederkehren! Don Manuel. 1805 Bleib! Jene Männer werden uns nicht ſchaden. Beatrice. Doch, doch, du kennſt ſie nicht, o komm! Entfliehe! Don Manuel. Von meinem Arm beſchützt, was kannſt du fürchten? Beatrice. O glaube mir, es gibt hier mächt'ge Menſchen! Don Manuel. Geliebte, keinen mächtigern als mich. 1810 1815 1820 1825 76 Die Braut von Meſſina Beatrice. Du gegen dieſe vielen ganz allein? Don Manuel. Ich ganz allein! Die Männer, die du fürchteſt — Beatrice. Du kennſt ſie nicht, du weißt nicht, wem ſie dienen. Don Manuel. Mir dienen ſie, und ich bin ihr Gebieter. Beatrice. Du biſt — Ein Schrecken fliegt durch meine Seele! Don Manuel. Lerne mich endlich kennen, Beatrice! Ich bin nicht der, der ich dir ſchien zu ſein, Der arme Ritter nicht, der unbekannte, Der liebend nur um deine Liebe warb. Wer ich wahrhaftig bin, was ich vermag, Woher ich ſtamme, hab' ich dir verborgen. Beatrice. Du biſt Don Manuel nicht! Weh mir, wer biſt du? Don Manuel. Don Manuel heiß' ich — doch ich bin der Höchſte, Der dieſen Namen führt in dieſer Stadt, Ich bin Don Manuel, Fürſt von Meſſina. Beatrice. Du wärſt Don Manuel, Don Ceſars Bruder? Don Manuel. Don Ceſar iſt mein Bruder. 1830 1835 1840 [Dritter Aufzug. 3. Auftritt] 7 Beatrice. Iſt dein Bruder! Don Manuel. 2 Wie? dies erſchreckt dich? Kennſt du den Don Ceſar? Kennſt du noch ſonſten jemand meines Bluts? Beatrice. Du biſt Don Manuel, der mit dem Bruder In Haſſe lebt und unverſöhnter Fehde? Don Manuel. Wir ſind verſöhnt, ſeit heute ſind wir Brüder, Nicht von Geburt nur, nein von Herzen auch. Beatrice. Verſöhnt, ſeit heute! Don Manuel. Sage mir, was iſt das? Was bringt dich ſo in Aufruhr? Kennſt du mehr Als nur den Namen bloß von meinem Hauſe? Weiß ich dein ganz Geheimnis? Haſt du nichts, Nichts mir verſchwiegen oder vorenthalten? Beatrice. Was denkſt du? Wie? Was hätt' ich zu geſtehen? Don Manuel. Von deiner Mutter haſt du mir noch nichts Geſagt. Wer iſt ſie? Würdeſt du ſie kennen, Wenn ich ſie dir beſchriebe — dir ſie zeigte? Beatrice. Du kennſt ſie — kennſt ſie und verbargeſt mir? 78 Die Braut von Meſſina Don Manuel. Weh dir und wehe mir, wenn ich ſie kenne! Beatrice. O, ſie iſt gütig wie das Licht der Sonne! 1845 Ich ſeh' fie vor mir, die Erinnerung Belebt ſich wieder, aus der Seele Tiefen Erhebt ſich mir die göttliche Geſtalt. Der braunen Locken dunkle Ringe ſeh' ich Des weißen Halſes edle Form beſchatten, 180 Ich ſeh' der Stirne rein gewölbten Bogen, Des großen Auges dunkelhellen Glanz, Auch ihrer Stimme ſeelenvolle Töne Erwachen mir — Don Manuel. Weh mir! Du ſchilderſt ſie! Beatrice. Und ich entfloh ihr! Konnte ſie verlaſſen, 1885 Vielleicht am Morgen eben dieſes Tags, Der mich auf ewig ihr vereinen ſollte! O ſelbſt die Mutter gab ich hin für dich! Don Manuel. Meſſinas Fürſtin wird dir Mutter ſein, Zu ihr bring' ich dich jetzt, ſie wartet deiner. Beatrice. 1800 Was ſagſt du? Deine Mutter und Don Ceſars? Zu ihr mich bringen? Nimmer, nimmermehr. Don Manuel. Du ſchauderſt? Was bedeutet dies Entſetzen? Iſt meine Mutter keine Fremde dir? 1865 1870 1875 1880 [Dritter Aufzug. 3. Auftritt] 79 Beatrice. O unglückſelig traurige Entdeckung, O hätt' ich nimmer dieſen Tag geſehn! Don Manuel. Was kann dich ängſtigen, nun du mich kennſt, Den Fürſten findeſt in dem Unbekannten? Beatrice. O gib mir dieſen Unbekannten wieder, Mit ihm auf ödem Eiland wär' ich ſelig! Don Ceſar (hinter der Szene). Zurück! Welch vieles Volk iſt hier verſammelt? Beatrice. Gott! Dieſe Stimme! Wo verberg' ich mich? Don Manuel. Erkennſt du dieſe Stimme? Nein, du haſt Sie nie gehört und kannſt ſie nicht erkennen! Beatrice. O laß uns fliehen, komm und weile nicht. Don Manuel. Was fliehn? Es iſt des Bruders Stimme, der Mich ſucht; zwar wundert mich, wie er entdeckte — Beatrice. Bei allen Heiligen des Himmels, meid ihn! Begegne nicht dem heftig Stürmenden, Laß dich von ihm an dieſem Ort nicht finden. Don Manuel. Geliebte Seele, dich verwirrt die Furcht! Du hörſt mich nicht, wir ſind verſöhnte Brüder! 80 Die Braut von Meſſina Beatrice. O Himmel, rette mich aus dieſer Stunde! Don Manuel. Was ahnet mir! Welch ein Gedanke faßt Mich ſchaudernd? — Wär' es möglich — Wäre dir 1886 Die Stimme keine fremde? — Beatrice! Du warſt — Mir grauet, weiter fort zu fragen! Du warſt — bei meines Vaters Leichenfeier? Beatrice. Weh mir! Don Manuel. Du warſt zugegen? Beatrice. Zürne nicht! Don Manuel. Unglückliche, du warſt? Beatrice. Ich war zugegen. Don Manuel. isso Entſetzen! Beatrice. Die Begierde war zu mächtig! Vergib mir! Ich geſtand dir meinen Wunſch, Doch plötzlich ernſt und finſter ließeſt du Die Bitte fallen, und ſo ſchwieg auch ich. Doch weiß ich nicht, welch böſen Sternes Macht 188 Mich trieb mit unbezwinglichem Gelüſten. Des Herzens heißen Drang mußt' ich vergnügen, Der alte Diener lieh mir ſeinen Beiſtand, Ich war dir ungehorſam, und ich ging. (Sie ſchmiegt ſich an ihn; indem tritt Don Ceſar herein, von dem ganzen Chor begleitet.) [Dritter Aufzug. 4. Auftritt] 81 Beide Brüder. Beide Chöre. Beatrice. Zweiter Chor (zu Don Ceſar). Du glaubſt uns nicht — Glaub' deinen eignen Augen. Don Ceſar (tritt heftig ein und fährt beim Anblick ſeines Bruders mit Entſetzen zurück). 1900 Blendwerk der Hölle! Was? In ſeinen Armen! (Näher tretend, zu Don Manuel.) Giftvolle Schlange! Das iſt deine Liebe! Deswegen logſt du tückiſch mir Verſöhnung! O, eine Stimme Gottes war mein Haß! Fahre zur Hölle, falſche Schlangenſeele! (Er erſticht ihn.) Don Manuel. 15 Ich bin des Todes — Beatrice — Bruder! (Er ſinkt und ſtirbt. Beatrice fällt neben ihm ohnmächtig nieder.) Erſter Chor. Mord! Mord! Herbei! Greift zu den Waffen alle! Mit Blut gerächet ſei die blut'ge Tat! (Alle ziehen die Degen.) Zweiter Chor. Heil uns! Der lange Zwieſpalt ijt geendigt. Nur einem Herrſcher jetzt gehorcht Meſſina. Erſter Chor. 1910 Rache! Rache! Der Mörder falle! falle! Ein ſühnend Opfer dem Gemordeten! Zweiter Chor. Herr, fürchte nichts, wir ſtehen treu zu dir. Schillers Werke. VII. 1915 1920 1925 1930 82 Die Braut von Meſſina Don Ceſar (mit Anſehen zwiſchen ſie tretend). Zurück — Ich habe meinen Feind getötet, Der mein vertrauend redlich Herz betrog, Die Bruderliebe mir zum Fallſtrick legte. Ein furchtbar gräßlich Anſehn hat die Tat, Doch der gerechte Himmel hat gerichtet. Erſter Chor. Weh dir, Meſſina! Wehe! Wehe! Wehe! Das gräßlich Ungeheure iſt geſchehn In deinen Mauern — Wehe deinen Müttern Und Kindern, deinen Jünglingen und Greiſen, Und wehe der noch ungebornen Frucht. Don Ceſar. Die Klage kommt zu ſpät — Hier ſchaffet Hilfe! (Auf Beatricen zeigend.) Ruft ſie ins Leben! Schnell entfernet ſie Von dieſem Ort des Schreckens und des Todes. — Ich kann nicht länger weilen, denn mich ruft Die Sorge fort um die geraubte Schweſter. — Bringt ſie in meiner Mutter Schloß und ſprecht, Es fei ihr Sohn Don Ceſar, der fie ſende! (Er geht ab; die ohnmächtige Beatrice wird von dem zweiten Chor auf eine Bank geſetzt und ſo hinweggetragen; der erſte Chor bleibt bei dem Leichnam zurück, um welchen auch die Knaben, die die Brautgeſchenke tragen, in einem Halbkreis herumſtehen.) Chor. Sagt mir! Ich kann's nicht faſſen und deuten, Wie es ſo ſchnell ſich erfüllend genaht. Längſt wohl ſah ich im Geiſt mit weiten Schritten das Schreckensgeſpenſt herſchreiten Dieſer entſetzlichen, blutigen Tat. 1935 1940 1946 1950 1955 1960 [Dritter Aufzug. 5. Auftritt] Dennoch übergießt mich ein Grauen, Da ſie vorhanden iſt und geſchehen, Da ich erfüllt muß vor Augen ſchauen, Was ich in ahnender Furcht nur geſehen; All mein Blut in den Adern erſtarrt Vor der gräßlich entſchiedenen Gegenwart. Einer aus dem Chor. Laſſet erſchallen die Stimme der Klage! Holder Jüngling, Da liegt er entſeelt, Hingeſtreckt in der Blüte der Tage! Schwer umfangen von Todesnacht, An der Schwelle der bräutlichen Kammer! Aber über dem Stummen erwacht Lauter, unermeßlicher Jammer. Ein zweiter. Wir kommen, wir kommen, Mit feſtlichem Prangen Die Braut zu empfangen, Es bringen die Knaben Die reichen Gewande, die bräutlichen Gaben, Das Feſt iſt bereitet, es warten die Zeugen; Aber der Bräutigam höret nicht mehr, Nimmer erweckt ihn der fröhliche Reigen, Denn der Schlummer der Toten iſt ſchwer. Ganzer Chor. Schwer und tief iſt der Schlummer der Toten, Nimmer erweckt ihn die Stimme der Braut, Nimmer des Hifthorns fröhlicher Laut, Starr und fühllos liegt er am Boden! 83 1965 1970 1975 1980 1985 1990 84 Die Braut von Meſſina Ein dritter. Was ſind Hoffnungen, was ſind Entwürfe, Die der Menſch, der vergängliche, baut? Heute umarmtet ihr euch als Brüder, Einig geſtimmt mit Herzen und Munde, Dieſe Sonne, die jetzo nieder Geht, ſie leuchtete eurem Bunde! Und jetzt liegſt du, dem Staube vermählt, Von des Brudermords Händen entſeelt, In dem Buſen die gräßliche Wunde! Was ſind Hoffnungen, was ſind Entwürfe, Die der Menſch, der flüchtige Sohn der Stunde, Aufbaut auf dem betrüglichen Grunde? Chor. Zu der Mutter will ich dich tragen, Eine unbeglückende Laſt! Dieſe Zupreſſe laßt uns zerſchlagen Mit der mördriſchen Schneide der Axt, Eine Bahre zu flechten aus ihren Zweigen; Nimmer ſoll ſie Lebendiges zeugen, Die die tödliche Frucht getragen, Nimmer in fröhlichem Wuchs ſich erheben, Keinem Wandrer mehr Schatten geben; Die ſich genährt auf des Mordes Boden, Soll verflucht ſein zum Dienſt der Toten! Erſter. Aber wehe dem Mörder, wehe, Der dahingeht in törigtem Mut! Hinab, hinab in der Erde Ritzen Rinnet, rinnet, rinnet dein Blut. Drunten aber im Tiefen ſitzen Lichtlos, ohne Geſang und Sprache, 1995 2000 2005 2010 2015 [Dritter Aufzug. 5. Auftritt] Der Themis Töchter, die nie vergeſſen, Die Untrüglichen, die mit Gerechtigkeit meſſen, Fangen es auf in ſchwarzen Gefäßen, Rühren und mengen die ſchreckliche Rache. Zweiter. Leicht verſchwindet der Taten Spur Von der ſonnenbeleuchteten Erde, Wie aus dem Antlitz die leichte Gebärde — Aber nichts iſt verloren und verſchwunden, Was die geheimnisvoll waltenden Stunden In den dunkel ſchaffenden Schoß aufnahmen Die Zeit iſt eine blühende Flur, Ein großes Lebendiges iſt die Natur, Und alles iſt Frucht, und alles iſt Samen. Dritter. Wehe, wehe dem Mörder, wehe, Der ſich geſät die tödliche Saat! Ein andres Antlitz, eh' ſie geſchehen, Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat. Mutvoll blickt fie und kühn dir entgegen, Wenn der Rache Gefühle den Buſen bewegen, Aber iſt ſie geſchehn und begangen, Blickt ſie dich an mit erbleichenden Wangen. Selber die ſchrecklichen Furien ſchwangen Gegen Oreſtes die hölliſchen Schlangen, Reizten den Sohn zu dem Muttermord an; Mit der Gerechtigkeit heiligen Zügen Wußten ſie liſtig ſein Herz zu betrügen, Bis er die tödliche Tat nun getan — Aber, da er den Schoß jetzt geſchlagen, Der ihn empfangen und liebend getragen, Siehe, da kehrten ſie Gegen ihn ſelber 86 Die Braut von Meſſina Schrecklich ſich um — Und er erkannte die furchtbaren Jungfraun, Die den Mörder ergreifend faſſen, 2025 Die von jetzt an ihn nimmer laſſen, Die ihn mit ewigem Schlangenbiß nagen, Die von Meer zu Meer ihn ruhelos jagen Bis in das Delphiſche Heiligtum. (Der Chor geht ab, den Leichnam Don Mauuels auf einer Bahre tragend.) Die Säulenhalle. — Es iſt Nacht; die Szene iſt von oben herab durch eine große Lampe erleuchtet. Donna Iſabella und Diego treten auf. Aſabella. Noch keine Kunde kam von meinen Söhnen, 2030 Ob eine Spur ſich fand von der Verlornen? Diego. Noch nichts, Gebieterin — doch hoffe alles Von deiner Söhne Ernſt und Emſigkeit. Aſabella. Wie iſt mein Herz geängſtiget, Diego! Es ſtand bei mir, dies Unglück zu verhüten. Diego. 2035 Drück' nicht des Vorwurfs Stachel in dein Herz: An welcher Vorſicht ließeſt du's ermangeln? [Vierter Aufzug. 1. Auftritt] 87 Aſabella. Hätt' ich ſie früher an das Licht gezogen, Wie mich des Herzens Stimme mächtig trieb! Diego. Die Klugheit wehrte dir's, du tateſt weiſe, 2040 Doch der Erfolg ruht in des Himmels Hand. Iſabella. Ach, ſo iſt keine Freude rein! Mein Glück Wär' ein vollkommnes ohne dieſen Zufall! Diego. Dies Glück iſt nur verzögert, nicht zerſtört, Genieße du jetzt deiner Söhne Frieden. Iſabella. 2045 Ich habe fie einander Herz an Herz Umarmen ſehn — ein nie erlebter Anblick! Diego. Und nicht ein Schauſpiel bloß, es ging von Herzen, Denn ihr Geradſinn haßt der Lüge Zwang. Aſabella. Ich ſeh' auch, daß ſie zärtlicher Gefühle, 2050 Der ſchönen Neigung fähig ſind; mit Wonne Entdeck' ich, daß ſie ehren, was ſie lieben. Der ungebundnen Freiheit wollen jie - Entſagen, nicht dem Zügel des Geſetzes Entzieht ſich ihre brauſend wilde Jugend, 2055 Und ſittlich ſelbſt blieb ihre Leidenſchaft. — Ich will dir's jetzo gern geſtehn, Diego, Daß ich mit Sorge dieſem Augenblick, Der aufgeſchloßnen Blume des Gefühls Mit banger Furcht entgegenſah — Die Liebe 2060 2065 2070 2075 2080 2085 88 Die Braut von Meſſina Wird leicht zur Wut in heftigen Naturen. Wenn in den aufgehäuften Feuerzunder Des alten Haſſes auch noch dieſer Blitz, Der Eiferſucht feindſel'ge Flamme ſchlug — Mir ſchaudert, es zu denken — ihr Gefühl, Das niemals einig war, gerade hier Zum erſtenmal unſelig ſich begegnet — Wohl mir! Auch dieſe donnerſchwere Wolke, Die über mir ſchwarz drohend niederhing, Sie führte mir ein Engel ſtill vorüber, Und leicht nun atmet die befreite Bruſt. Diego. Ja, freue deines Werkes dich. Du haſt Mit zartem Sinn und ruhigem Verſtand Vollendet, was der Vater nicht vermochte Mit aller ſeiner Herrſchermacht — Dein iſt Der Ruhm, doch auch dein Glücksſtern iſt zu loben! Aſabella. Vieles gelang mir! Viel auch tat das Glück! Nichts Kleines war es, ſolche Heimlichkeit Verhüllt zu tragen dieſe langen Jahre, Den Mann zu täuſchen, den umſichtigſten Der Menſchen, und ins Herz zurückzudrängen Den Trieb des Bluts, der mächtig, wie des Feuers Verſchloßner Gott, aus ſeinen Banden ſtrebte! Diego. Ein Pfand iſt mir des Glückes lange Gunſt, Daß alles ſich erfreulich löſen wird. Aſabella. Ich will nicht eher meine Sterne loben, Bis ich das Ende dieſer Taten ſah. 2090 2095 2100 2105 2110 2115 [Vierter Aufzug. 1. Auftritt] 89 Daß mir der böſe Genius nicht ſchlummert, Erinnert warnend mich der Tochter Flucht. — Schilt oder lobe meine Tat, Diego! Doch dem Getreuen will ich nichts verbergen. Nicht tragen konnt' ich's, hier in müß'ger Ruh Zu harren des Erfolgs, indes die Söhne Geſchäftig forſchen nach der Tochter Spur. Gehandelt hab' auch ich — Wo Menſchenkunſt Nicht zureicht, hat der Himmel oft geraten. Diego. Entdecke mir, was mir zu wiſſen ziemt. Jſabella. Einſiedelnd auf des Atna Höhen hauſt Ein frommer Klausner, von uralters her Der Greis genannt des Berges, welcher, näher Dem Himmel wohnend als der andern Menſchen Tief wandelndes Geſchlecht, den ird'ſchen Sinn In leichter, reiner Atherluft geläutert, Und von dem Berg der aufgewälzten Jahre Hinabſieht in das aufgelöſte Spiel Des unverſtändlich krummgewundnen Lebens. Nicht fremd iſt ihm das Schickſal meines Hauſes, Oft hat der heil'ge Mann für uns den Himmel Gefragt und manchen Fluch hinweg gebetet. Zu ihm hinauf geſandt hab' ich alsbald Des raſchen Boten jugendliche Kraft, Daß er mir Kunde von der Tochter gebe, Und ſtündlich harr' ich deſſen Wiederkehr. Diegs. Trügt mich mein Auge nicht, Gebieterin, So iſt's derſelbe, der dort eilend naht, Und Lob fürwahr verdient der Emſige! 2120 2125 2130 2135 90 Die Braut von Meſſina Bote. Die Vorigen. Isabella. Sag' an und weder Schlimmes hehle mir Noch Gutes, ſondern ſchöpfe rein die Wahrheit. Was gab der Greis des Bergs dir zum Beſcheide? Bote, Ich ſoll mich ſchnell zurückbegeben, war Die Antwort, die Verlorne ſei gefunden. Dfabella. Glückſel'ger Mund, erfreulich Himmelswort, Stets haſt du das Erwünſchte mir verkündet! Und welchem meiner Söhne war's verliehen, Die Spur zu finden der Verlornen? Bate, Die Tiefverborgne fand dein ältſter Sohn. Isabella. Don Manuel iſt es, dem ich ſie verdanke! Ach, ſtets war dieſer mir ein Kind des Segens! — Haſt du dem Greis auch die geweihte Kerze Gebracht, die zum Geſchenk ich ihm geſendet, Sie anzuzünden ſeinem Heiligen? Denn was von Gaben ſonſt der Menſchen Herzen Erfreut, verſchmäht der fromme Gottesdiener. Bote. Die Kerze nahm er ſchweigend von mir an, Und zum Altar hintretend, wo die Lampe Dem Heil'gen brannte, zündet' er ſie flugs Dort an, und ſchnell in Brand ſteckt' er die Hütte, Worin er Gott verehrt ſeit neunzig Jahren. [Vierter Aufzug. 3. Auftritt! 91 Aſabella. Was ſagſt du? Welches Schrecknis nennſt du mir? Bote. Und dreimal Wehe! Wehe! rufend, ſtieg er 2140 Herab vom Berg, mir aber winkt' er ſchweigend, Ihm nicht zu folgen noch zurückzuſchauen. Und ſo, gejagt von Grauſen, eilt' ich her! Aſabella. In neuer Zweifel wogende Bewegung Und ängſtlich ſchwankende Verworrenheit ous Stürzt mich das Widerſprechende zurück. Gefunden ſei mir die verlorne Tochter Von meinem ältſten Sohn, Don Manuel? Die gute Rede kann mir nicht gedeihen, Begleitet von der unglückſel'gen Tat. Vote. 2150 Blick' hinter dich, Gebieterin! Du ſiehſt Des Klausners Wort erfüllt vor deinen Augen, Denn alles müßt' mich trügen, oder dies Iſt die verlorne Tochter, die du ſuchſt, Von deiner Söhne Ritterſchar begleitet. (Beatrice wird von dem zweiten Halbchor auf einem Tragſeſſel gebracht und auf der vordern Bühne niedergeſetzt. Sie iſt noch ohne Leben und Bewegung.) Iſabella. Diego. Bote. Beatrice. Chor. Chor. 2155 Des Herrn Geheiß erfüllend, ſetzen wir Die Jungfrau hier zu deinen Füßen nieder, Gebieterin — Alſo befahl er uns 92 Die Braut von Meſſina Zu tun und dir zu melden dieſes Wort: Es ſei dein Sohn Don Ceſar, der fie ſende! Aſabella (iſt mit ausgebreiteten Armen auf ſie zugeeilt und tritt mit Schrecken zurück). 210 O Himmel! Sie iſt bleich und ohne Leben! Chor. Sie lebt! Sie wird erwachen! Gönn' ihr Zeit, Von dem Erſtaunlichen ſich zu erholen, Das ihre Geiſter noch gebunden hält. Aſabella. Mein Kind! Kind meiner Schmerzen, meiner Sorgen! 2165 So ſehen wir uns wieder! So mußt du Den Einzug halten in des Vaters Haus! O laß an meinem Leben mich das deinige Anzünden! An die mütterliche Bruſt Will ich dich preſſen, bis, vom Todesfroſt 2170 Gelöſt, die warmen Adern wieder ſchlagen! (Zum Chor.) O ſprich! Welch Schreckliches iſt hier geſchehn? Wo fandſt du ſie? Wie kam das teure Kind In dieſen kläglich jammervollen Zuſtand? Chor. Erfahr es nicht von mir, mein Mund iſt ſtumm. 2176 Dein Sohn Don Ceſar wird dir alles deutlich Verkündigen, denn er iſt's, der ſie ſendet. Aſabella. Mein Sohn Don Manuel, ſo willſt du ſagen? Chor. Dein Sohn Don Ceſar ſendet fie dir zu. 2180 2185 2190 2195 2200 [Vierter Aufzug. 3. Auftritt! 93 Aſabella (zu dem Boten). War's nicht Don Manuel, den der Seher nannte? Bote. So iſt es, Herrin, das war ſeine Rede. Aſabella. Welcher es ſei, er hat mein Herz erfreut, Die Tochter dank' ich ihm, er ſei geſegnet! O muß ein neid'ſcher Dämon mir die Wonne Des heiß erflehten Augenblicks verbittern! Ankämpfen muß ich gegen mein Entzücken! Die Tochter ſeh' ich in des Vaters Haus, Sie aber ſieht nicht mich, vernimmt mich nicht, Sie kann der Mutter Freude nicht erwidern. O öffnet euch, ihr lieben Augenlichter! Erwärmet euch, ihr Hände! Hebe dich, Lebloſer Buſen, und ſchlage der Luſt! Diego! Das iſt meine Tochter — Das Die lang' Verborgne, die Gerettete, Vor aller Welt kann ich ſie jetzt erkennen! Chor. Ein ſeltſam neues Schrecknis glaub' ich ahnend Vor mir zu ſehn und ſtehe wundernd, wie Das Irrſal ſich entwirren ſoll und löſen. Iſabella (zum Chor, der Beſtürzung und Verlegenheit ausdrückt). O, ihr ſeid undurchdringlich harte Herzen! Vom ehrnen Harniſch eurer Bruſt, gleichwie Von einem ſchroffen Meeresfelſen, ſchlägt Die Freude meines Herzens mir zurück! Umſonſt in dieſem ganzen Kreis umher Späh' ich nach einem Auge, das empfindet. 2205 94 Die Braut von Meſſina Wo weilen meine Söhne, daß ich Anteil In einem Auge leſe, denn mir iſt, Als ob der Wüſte unmitleid'ge Scharen, Des Meeres Ungeheuer mich umſtänden. Diego. Sie ſchlägt die Augen auf! Sie regt ſich, lebt! Isabella. Sie lebt! Ihr erſter Blick ſei auf die Mutter! Diego. Das Auge ſchließt ſie ſchaudernd wieder zu. Afabella (zum Chor). Weiche zurück! Sie ſchreckt der fremde Anblick. Chor (tritt zurück). Gern meid' ich's, ihrem Blicke zu begegnen. Diego. Mit großen Augen mißt ſie ſtaunend dich. Beatrice. Wo bin ich? Dieſe Züge ſollt' ich kennen. Aſabella. Langſam kehrt die Beſinnung ihr zurück. Diego. Was macht ſie? Auf die Kniee ſenkt ſie ſich. Beatrice. O ſchönes Engelsantlitz meiner Mutter! Aſabella. Kind meines Herzens! Komm in meine Arme! 2225 2230 2235 [Vierter Aufzug. 3. Auftritt! 95 Beatrice. Zu deinen Füßen ſieh die Schuldige. Aſabella. Ich habe dich wieder! Alles ſei vergeſſen! Diego. Betracht' auch mich! Erkennſt du meine Züge? Beatrice. Des redlichen Diego greiſes Haupt! Aſabella. Der treue Wächter deiner Kinderjahre. Beatrice. So bin ich wieder in dem Schoß der Meinen? Aſabella. Und nichts ſoll uns mehr ſcheiden als der Tod. Beatrice. Du willſt mich nicht mehr in die Fremde ſtoßen? Isabella. Nichts trennt uns mehr, das Schickſal iſt befriedigt. Beatrice (finkt an ihre Bruſt). Und find' ich wirklich mich an deinem Herzen? Und alles war ein Traum, was ich erlebte? Ein ſchwerer, fürchterlicher Traum — O Mutter! Ich ſah ihn tot zu meinen Füßen fallen! — Wie komm' ich aber hieher? Ich beſinne Mich nicht — Ach, wohl mir, wohl, daß ich gerettet In deinen Armen bin! Sie wollten mich Zur Fürſtin Mutter von Meſſina bringen. Eher ins Grab! 2240 2245 96 Die Braut von Meſſina Aſabella. Komm zu dir, meine Tochter! Meſſinas Fürſtin — Beatrice. Nenne ſie nicht mehr! Mir gießt ſich bei dem unglückſel'gen Namen Ein Froſt des Todes durch die Glieder. Aſabella. Höre mich. Beatrice. Sie hat zwei Söhne, die ſich tödlich haſſen, Don Manuel, Don Ceſar nennt man ſie. Jſabella. Ich bin's ja ſelbſt! Erkenne deine Mutter! Beatrice. Was ſagſt du? Welches Wort haſt du geredet? Aſabella. Ich, deine Mutter, bin Meſſinas Fürſtin. Beatrice. Du biſt Don Manuels Mutter und Don Ceſars? Aſabella. Und deine Mutter! Deine Brüder nennſt du! Beatrice. Weh, weh mir! O entſetzensvolles Licht! Aſabella. Was iſt dir? Was erſchüttert dich ſo ſeltſam? 2250 2255 2260 2265 [Vierter Aufzug. 3. Auftritt! 97 Beatrice (wild um ſich her ſchauend, erblickt den Chor). Das ſind ſie, ja! Jetzt, jetzt erkenn' ich ſie. Mich hat kein Traum getäuſcht — Die ſind's! Die waren Zugegen — Es iſt fürchterliche Wahrheit! Unglückliche, wo habt ihr ihn verborgen? (Sie geht mit heftigem Schritt auf den Chor zu, der ſich von ihr abwendet. Ein Trauermarſch läßt ſich in der Ferne hören.) Chor. Weh! Wehe! Isabella. Wen verborgen? Was iſt wahr? Ihr ſchweigt beſtürzt — ihr ſcheint ſie zu verſtehn. Ich leſ' in euren Augen, eurer Stimme Gebrochnen Tönen etwas Unglückſel'ges, Das mir zurückgehalten wird — Was iſt's? Ich will es wiſſen. Warum heftet ihr So ſchreckenvolle Blicke nach der Türe? Und was für Töne hör' ich da erſchallen? Chor. Es naht ſich! Es wird ſich mit Schrecken erklären. Sei ſtark, Gebieterin, ſtähle dein Herz. Mit Faſſung ertrage, was dich erwartet, Mit männlicher Seele den tödlichen Schmerz! Iſabella. Was naht ſich? Was erwartet mich? — Ich höre Der Totenklage fürchterlichen Ton Das Haus durchdringen — Wo ſind meine Söhne? (Der erſte Halbchor bringt den Leichnam Don Manuels auf einer Bahre getragen, die er auf der leer gelaſſenen Seite der Szene niederſetzt. Ein ſchwarzes Tuch iſt darüber gebreitet.) Schillers Werke. VII. di 2270 2275 2280 2285 2290 2295 98 Die Braut von Meſſina Iſabella. Beatrice. Diego. Beide Chöre. Erſter Chor. Durch die Straßen der Städte, Vom Jammer gefolget, Schreitet das Unglück — Lauernd umſchleicht es Die Häuſer der Menſchen, Heute an dieſer Pforte pocht es, Morgen an jener, Aber noch keinen hat es verſchont. Die unerwünſchte Schmerzliche Botſchaft Früher oder ſpäter Beſtellt es an jeder Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt. Wenn die Blätter fallen In des Jahres Kreiſe, Wenn zum Grabe wallen Entnervte Greife, Da gehorcht die Natur Ruhig nur Ihrem alten Geſetze, Ihrem ewigen Brauch, Da iſt nichts, was den Menſchen entſetze! Aber das Ungeheure auch Lerne erwarten im irdiſchen Leben! Mit gewaltſamer Hand Löſet der Mord auch das heiligſte Band, In ſein ſtygiſches Boot Raffet der Tod Auch der Jugend blühendes Leben! 2300 2305 2310 2315 2320 [Vierter Aufzug. 4. Auftritt 99 Wenn die Wolken getürmt den Himmel ſchwärzen, Wenn dumpftoſend der Donner hallt, Da, da fühlen ſich alle Herzen In des furchtbaren Schickſals Gewalt. Aber auch aus entwölkter Höhe Kann der zündende Donner ſchlagen, Darum in deinen fröhlichen Tagen Fürchte des Unglücks tückiſche Nähe. Nicht an die Güter hänge dein Herz, Die das Leben vergänglich zieren, Wer beſitzt, der lerne verlieren, Wer im Glück iſt, der lerne den Schmerz. Zſabella. Was ſoll ich hören? Was verhüllt dies Tuch? (Sie macht einen Schritt gegen die Bahre, bleibt aber unſchlüſſig zaudernd ſtehen.) Es zieht mich grauſend hin und zieht mich ſchaudernd Mit dunkler kalter Schreckenshand zurück. (Zu Beatrieen, welche ſich zwiſchen fie und die Bahre geworfen.) Laß mich! Was es auch ſei, ich will's enthüllen! (Sie hebt das Tuch auf und entdeckt Don Manuels Leichnam.) O himmliſche Mächte, es iſt mein Sohn! (Sie bleibt mit ſtarrem Entſetzen ſtehen — Beatrice ſinkt mit einem Schrei des Schmerzens neben der Bahre nieder.) Chor. Unglückliche Mutter! Es iſt dein Sohn! Du haſt es geſprochen, das Wort des Jammers, Nicht meinen Lippen iſt es entflohn. Iſabella. Mein Sohn! Mein Manuel! — O ewige Erbarmung — So muß ich dich wiederfinden! Mit deinem Leben mußteſt du die Schweſter Erkaufen aus des Räubers Hand! — Wo war Dein Bruder, daß ſein Arm dich nicht beſchützte? 100 Die Braut von Meſſina — O Fluch der Hand, die dieſe Wunde grub! Fluch ihr, die den Verderblichen geboren, 2225 Der mir den Sohn erſchlug! Fluch ſeinem ganzen Geſchlecht! Chor. Weh! Wehe! Wehe! Wehe! Iſabella. So haltet ihr mir Wort, ihr Himmelsmächte? Das, das iſt eure Wahrheit? Wehe dem, Der euch vertraut mit redlichem Gemüt! 2220 Worauf hab' ich gehofft, wovor gezittert, Wenn dies der Ausgang iſt — O, die ihr hier Mich ſchreckenvoll umſteht, an meinem Schmerz Die Blicke weidend, lernt die Lügen kennen, Womit die Träume uns, die Seher täuſchen! 2235 Glaube noch einer an der Götter Mund! — Als ich mich Mutter fühlte dieſer Tochter, Da träumte ihrem Vater eines Tags, Er ſäh' aus ſeinem hochzeitlichen Bette Zwei Lorbeerbäume wachſen — Zwiſchen ihnen o340 Wuchs eine Lilie empor, fie ward Zur Flamme, die der Bäume dicht Gezweig ergriff Und, um ſich wütend, ſchnell das ganze Haus In ungeheurer Feuerflut verſchlang. Erſchreckt von dieſem ſeltſamen Geſichte, 2315 Befrug der Vater einen Vogelſchauer Und ſchwarzen Magier um die Bedeutung. Der Magier erklärte: wenn mein Schoß Von einer Tochter ſich entbinden würde, So würde ſie die beiden Söhne ihm 2350 Ermorden und vertilgen ſeinen Stamm! Chor. Gebieterin, was ſagſt du? Wehe! Wehe! 2355 2360 2365 2370 2375 [Vierter Aufzug. 4. Auftritt] Aſabella. Darum befahl der Vater, ſie zu töten, Doch ich entrückte ſie dem Jammerſchickſal! — Die arme Unglückſelige! Verſtoßen Ward ſie als Kind aus ihrer Mutter Schoß, Daß ſie, erwachſen, nicht die Brüder morde! Und jetzt durch Räubershände fällt der Bruder, Nicht die Unſchuldige hat ihn getötet! Chor. Weh! Wehe! Wehe! Wehe! Aſabella. Keinen Glauben Verdiente mir des Götzendieners Spruch, Ein beßres Hoffen ſtärkte meine Seele. Denn mir verkündigte ein andrer Mund, Den ich für wahrhaft hielt, von dieſer Tochter: „In heißer Liebe würde ſie dereinſt Der Söhne Herzen mir vereinigen.“ — So widerſprachen die Orakel ſich, Den Fluch zugleich und Segen auf das Haupt Der Tochter legend — Nicht den Fluch hat ſie Verſchuldet, die Unglückliche! Nicht Zeit Ward ihr gegönnt, den Segen zu vollziehen, Ein Mund hat wie der andere gelogen! Die Kunſt der Seher iſt ein eitles Nichts, Betrüger ſind ſie, oder ſind betrogen. Nichts Wahres läßt ſich von der Zukunft wiſſen, Du ſchöpfeſt drunten an der Hölle Flüſſen, Du ſchöpfeſt droben an dem Quell des Lichts. Erſter Chor. Weh! Wehe! Was ſagſt du? Halt ein, halt ein! Bezähme der Zunge verwegenes Toben! 101 102 Die Braut von Meſſina Die Orakel ſehen und treffen ein, 2380 Der Ausgang wird die Wahrhaftigen loben! Iſabella. Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut, Wie mir das Herz gebietet, will ich reden. Warum beſuchen wir die heil'gen Häuſer Und heben zu dem Himmel fromme Hände? 2385 Gutmüt'ge Toren, was gewinnen wir Mit unſerm Glauben? So unmöglich iſt's, Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen Als in den Mond mit einem Pfeil zu ſchießen. Vermauert iſt dem Sterblichen die Zukunft, 230 Und kein Gebet durchbohrt den ehrnen Himmel. Ob rechts die Vögel fliegen oder links, Die Sterne ſo ſich oder anders fügen — Nicht Sinn iſt in dem Buche der Natur, Die Traumkunſt träumt, und alle Zeichen trügen. Zweiter Chor. 225 Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! Du leugneſt der Sonne leuchtendes Licht Mit blinden Augen! Die Götter leben, Erkenne ſie, die dich furchtbar umgeben! Beatrice. O Mutter! Mutter! Warum haſt du mich 24100 Gerettet! Warum warfſt du mich nicht hin Dem Fluch, der, eh' ich war, mich ſchon verfolgte? Blödſicht'ge Mutter! Warum dünkteſt du Dich weiſer, als die alles Schauenden, Die Nah und Fernes aneinanderknüpfen 245 Und in der Zukunft ſpäte Saaten ſehn? Dir ſelbſt und mir, uns allen zum Verderben Haſt du den Todesgöttern ihren Raub, 2410 2415 2420 2425 [Vierter Aufzug. 5. Auftritt] 103 Den ſie gefordert, frevelnd vorenthalten! Jetzt nehmen ſie ihn zweifach, dreifach ſelbſt. Nicht dank ich dir das traurige Geſchenk, Dem Schmerz, dem Jammer haſt du mich erhalten! Erſter Chor (in heftiger Bewegung nach der Türe ſehend). Brechet auf, ihr Wunden! Fließet, fließet! In ſchwarzen Güſſen Stürzet hervor, ihr Bäche des Bluts. Eherner Füße Rauſchen vernehm' ich, Hölliſcher Schlangen Ziſchendes Tönen, Ich erkenne der Furien Schritt! Stürzet ein, ihr Wände! Verſink, o Schwelle, Unter der ſchrecklichen Füße Tritt! Schwarze Dämpfe, entſteiget, entſteiget Qualmend dem Abgrund! Verſchlinget des Tages Lieblichen Schein! Schützende Götter des Hauſes, entweichet, Laſſet die rächenden Göttinnen ein! Don Ceſar. Iſabella. Beatrice. Der Chor. Beim Eintritt des Don Cefar zerteilt ſich der Chor in fliehender Bewegung vor ihm, er bleibt allein in der Mitte der Szene ſtehen. Beatrice. Weh mir, er iſt's! Aſabella (tritt ihm entgegen). O mein Sohn Ceſar! Muß ich ſo 104 Die Braut von Meſſina 2430 Dich wiederſehen — O blick' her und ſieh Den Frevel einer gottverfluchten Hand! (Führt ihn zu dem Leichnam.) Don Ceſar (tritt mit Entſetzen zurück, das Geſicht verhüllend). Erſter Chor. Brechet auf, ihr Wunden! Fließet, fließet! In ſchwarzen Güſſen 2435 Strömet hervor, ihr Bäche des Bluts! Isabella. Du ſchauderſt und erſtarrſt! — Ja, das iſt alles, Was dir noch übrig iſt von deinem Bruder! Da liegen meine Hoffnungen — Sie ſtirbt Im Keim, die junge Blume eures Friedens, 2440 Und keine ſchöne Früchte ſollt' ich ſchauen. Don Ceſar. Tröſte dich, Mutter. Redlich wollten wir Den Frieden, aber Blut beſchloß der Himmel. Aſabella. O ich weiß, du liebteſt ihn, ich ſah entzückt Die ſchönen Bande zwiſchen euch ſich flechten! 2445 An deinem Herzen wollteſt du ihn tragen, Ihm reich erſetzen die verlornen Jahre. Der blut'ge Mord kam deiner ſchönen Liebe Zuvor — jetzt kannſt du nichts mehr, als ihn rächen. Don Ceſar. Komm, Mutter, komm! hier iſt kein Ort für dich, 240 Entreiß dich dieſem unglückſel'gen Anblick! (Er will ſie fortziehen.) Iſabella (fäut ihm um den Hals). Du lebſt mir noch! Du jetzt mein einziger! [Vierter Aufzug. 5. Auftritt! 105 Beatrice. Weh, Mutter! Was beginnſt du? Don Ceſar. Weine dich aus An dieſem treuen Buſen. Unverloren Iſt dir der Sohn, denn ſeine Liebe lebt 2455 Unſterblich fort in deines Ceſars Bruſt. Erſter Chor. Brechet auf, ihr Wunden! Redet, ihr ſtummen! In ſchwarzen Fluten Stürzet hervor, ihr Bäche des Bluts. Aſabella (beider Hände ſaſſend). 2400 O meine Kinder! Don Ceſar. Wie entzückt es mich, In deinen Armen ſie zu ſehen, Mutter! Ja, laß ſie deine Tochter ſein! die Schweſter — Jſabella (unterbricht ihn). Dir dank' ich die Gerettete, mein Sohn! Du hielteſt Wort, du haſt ſie mir geſendet. Don Ceſar lerſtaunt). 2466 Wen, Mutter, ſagſt du, hab' ich dir geſendet? Aſabella. Sie mein' ich, die du vor dir ſiehſt, die Schweſter. Don Ceſar. Sie meine Schweſter! Aſabella. Welche andre ſonſt? 106 Die Braut von Meſſina Don Ceſar. Meine Schweſter? Aſabella. Die du ſelber mir geſendet. Don Ceſar. Und ſeine Schweſter! Chor. Wehe! Wehe! Wehe! Beatrice. 2470 O meine Mutter! Aſabella. Ich erſtaune — Redet! Don Ceſar. So ſei der Tag verflucht, der mich geboren! Aſabella. Was iſt dir? Gott! Don Ceſar. Verflucht der Schoß, der mich Getragen! — Und verflucht ſei deine Heimlichkeit, Die all dies Gräßliche verſchuldet! Falle 2475 Der Donner nieder, der dein Herz zerſchmettert, Nicht länger halt' ich ſchonend ihn zurück — Ich ſelber, wiſſ' es, ich erſchlug den Bruder, In ihren Armen überraſcht' ich ihn, Sie iſt es, die ich liebe, die zur Braut asso Ich mir gewählt — den Bruder aber fand ich In ihren Armen — alles weißt du nun! — Iſt ſie wahrhaftig ſeine, meine Schweſter, So bin ich ſchuldig einer Greueltat, Die keine Reu' und Büßung kann verſöhnen! 2485 2490 2495 2500 2505 2510 [Vierter Aufzug. 6. Auftritt 107 Chor. Es iſt geſprochen, du haſt es vernommen, Das Schlimmſte weißt du, nichts iſt mehr zurück! Wie die Seher verkündet, ſo iſt es gekommen, Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geſchick. Und wer ſich vermißt, es klüglich zu wenden, Der muß es ſelber erbauend vollenden. Iſabella. Was kümmert's mich noch, ob die Götter ſich Als Lügner zeigen, oder ſich als wahr Beſtätigen? Mir haben ſie das Argſte Getan — Trotz biet' ich ihnen, mich noch härter Zu treffen, als ſie trafen — Wer für nichts mehr Zu zittern hat, der fürchtet ſie nicht mehr. Ermordet liegt mir der geliebte Sohn, Und von dem lebenden ſcheid' ich mich ſelbſt. Er iſt mein Sohn nicht — Einen Baſilisken Hab' ich erzeugt, genährt an meiner Bruſt, Der mir den beſſern Sohn zu Tode ſtach. — Komm, meine Tochter! Hier iſt unſers Bleibens Nicht mehr — den Rachegeiſtern überlaſſ' ich Dies Haus — Ein Frevel führte mich herein, Ein Frevel treibt mich aus — Mit Widerwillen Hab' ich's betreten und mit Furcht bewohnt, Und in Verzweiflung räum' ich's — Alles dies Erleid' ich ſchuldlos — doch bei Ehren bleiben Die Orakel, und gerettet ſind die Götter. (Sie geht ab. Diego folgt ihr.) Beatrice. Don Ceſar. Der Chor. Don Ceſar (Beatricen zurückhaltend). Bleib, Schweſter! Scheide du nicht ſo von mir! Mag mir die Mutter fluchen, mag dies Blut 108 Die Braut von Meſſina Anklagend gegen mich zum Himmel rufen, Mich alle Welt verdammen! Aber du Fluche mir nicht! Von dir kann ich's nicht tragen. Beatrice (zeigt mit abgewandtem Geſicht auf den Leichnam). Don Ceſar. 2515 Nicht den Geliebten hab' ich dir getötet! Den Bruder hab' ich dir und hab' ihn mir Gemordet — dir gehört der Abgeſchiedne jetzt Nicht näher an als ich, der Lebende, Und ich bin mitleidswürdiger als er, 2520 Denn er ſchied rein hinweg, und ich bin ſchuldig. Beatrice (bricht in heftige Tränen aus). Don Ceſar. Weine um den Bruder, ich will mit dir weinen, Und mehr noch — rächen will ich ihn! Doch nicht Um den Geliebten weine! Dieſen Vorzug, Den du dem Toten gibſt, ertrag' ich nicht. 2525 Den einz'gen Troſt, den letzten, laß mich ſchöpfen Aus unſers Jammers bodenloſer Tiefe, Daß er dir näher nicht gehört als ich — Denn unſer furchtbar aufgelöſtes Schickſal Macht unſre Rechte gleich, wie unſer Unglück. 2530 In einen Fall verſtrickt, drei liebende Geſchwiſter, gehen wir vereinigt unter Und teilen gleich der Tränen traurig Recht. Doch wenn ich denken muß, daß deine Trauer Mehr dem Geliebten als dem Bruder gilt, 2536 Dann miſcht ſich Wut und Neid in meinen Schmerz, Und mich verläßt der Wehmut letzter Troſt. Nicht freudig, wie ich gerne will, kann ich Das letzte Opfer ſeinen Manen bringen, 2545 2550 2555 2560 [Vierter Aufzug. 7. Auftritt! 109 Doch ſanft nachſenden will ich ihm die Seele, Weiß ich nur, daß du meinen Staub mit ſeinem In einem Aſchenkruge ſammeln wirſt. (Den Arm um ſie ſchlingend, mit einer leidenſchaftlich zärtlichen Heftigkeit.) Dich liebt' ich, wie ich nichts zuvor geliebt, Da du noch eine Fremde für mich warſt. Weil ich dich liebte über alle Grenzen, Trag' ich den ſchweren Fluch des Brudermords, Liebe zu dir war meine ganze Schuld. — Jetzt biſt du meine Schweſter, und dein Mitleid Fordr' ich von dir als einen heil'gen Zoll. (Er ſieht ſie mit ausforſchenden Blicken und ſchmerzlicher Erwartung an, dann wendet er ſich mit Heftigkeit von ihr.) Nein, nein, nicht ſehen kann ich dieſe Tränen — In dieſes Toten Gegenwart verläßt Der Mut mich, und die Bruſt zerreißt der Zweifel — — Laß mich im Irrtum! Weine im Verborgnen! Sieh nie mich wieder — niemals mehr — Nicht dich, Nicht deine Mutter will ich wieder ſehen, Sie hat mich nie geliebt! Verraten endlich Hat ſich ihr Herz, der Schmerz hat es geöffnet. Sie nannt' ihn ihren beſſern Sohn! — So hat ſie Verſtellung ausgeübt ihr ganzes Leben! — Und du biſt falſch wie ſie! Zwinge dich nicht! Zeig' deinen Abſcheu! Mein verhaßtes Antlitz Sollſt du nicht wieder ſehn! Geh hin auf ewig! (Er geht ab. Sie ſteht unſchlüſſig, im Kampf widerſprechender Gefühle, dann reißt ſie ſich los und geht.) Chor. Wohl dem! Selig muß ich ihn preiſen, Der in der Stille der ländlichen Flur, Fern von des Lebens verworrenen Kreiſen, 110 Die Braut von Meſſina 2565 Kindlich liegt an der Bruſt der Natur. Denn das Herz wird mir ſchwer in der Fürſten Paläſten, Wenn ich herab vom Gipfel des Glücks Stürzen ſehe die Höchſten, die Beſten In der Schnelle des Augenblicks! 2570 Und auch der hat ſich wohl gebettet, Der aus der ſtürmiſchen Lebenswelle, Zeitig gewarnt, ſich heraus gerettet In des Kloſters friedliche Zelle. Der die ſtachelnde Sucht der Ehren 2575 Von ſich warf und die eitle Luſt, Und die Wünſche, die ewig begehren, Eingeſchläfert in ruhiger Bruſt, Ihn ergreift in dem Lebensgewühle Nicht der Leidenſchaft wilde Gewalt, 2580 Nimmer in ſeinem ſtillen Aſyle Sieht er der Menſchheit traur'ge Geſtalt. Nur in beſtimmter Höhe ziehet Das Verbrechen hin und das Ungemach, Wie die Peſt die erhabenen Orte fliehet, 2585 Dem Qualm der Städte wälzt es ſich nach. Auf den Bergen iſt Freiheit! Der Hauch der Grüfte Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte: Die Welt iſt vollkommen überall, Wo der Menſch nicht hinkommt mit ſeiner Qual. Don Ceſar. Der Chor. Don Ceſar (gefaßter). 2590 Das Recht des Herrſchers üb' ich aus zum letztenmal, Dem Grab zu übergeben dieſen teuren Leib, Denn dieſes iſt der Toten letzte Herrlichkeit. Vernehmt denn meines Willens ernſtlichen Beſchluß, 2595 2600 2605 2610 2615 2620 [Vierter Aufzug. 8. Auftritt! tt Und wie ich's euch gebiete, alſo übt es aus Genau. — Euch iſt in friſchem Angedenken noch Das ernſte Amt, denn nicht von langen Zeiten iſt's, Daß ihr zur Gruft begleitet eures Fürſten Leib. Die Totenklage iſt in dieſen Mauern kaum Verhallt, und eine Leiche drängt die andre fort Ins Grab, daß eine Fackel an der andern ſich Anzünden, auf der Treppe Stufen ſich der Zug Der Klagemänner faſt begegnen mag. So ordnet denn ein feierlich Begräbnisfeſt In dieſes Schloſſes Kirche, die des Vaters Staub Verwahrt, geräuſchlos bei verſchloßnen Pforten an, Und alles werde, wie es damals war, vollbracht. Chor. Mit ſchnellen Händen ſoll dies Werk bereitet ſein, O Herr — denn aufgerichtet ſteht der Katafalk Ein Denkmal jener ernſten Feſtlichkeit noch da, Und an den Bau des Todes rührte keine Hand. Don Ceſar. Das war kein glücklich Zeichen, daß des Grabes Mund Geöffnet blieb im Hauſe der Lebendigen. Wie kam's, daß man das unglückſelige Gerüſt Nicht nach vollbrachtem Dienſte alſobald zerbrach? Chor. Die Not der Zeiten und der jammervolle Zwiſt, Der gleich nachher, Meſſina feindlich teilend, ſich Entflammt, zog unſre Augen von den Toten ab, Und öde blieb, verſchloſſen dieſes Heiligtum. Don Ceſar. Ans Werk denn eilet ungeſäumt! Noch dieſe Nacht Vollende ſich das mitternächtliche Geſchäft! 2625 2630 2635 2640 112 Die Braut von Meſſina Die nächſte Sonne finde von Verbrechen rein Das Haus und leuchte einem fröhlichern Geſchlecht. (Der zweite Chor entfernt ſich mit Don Manuels Leichnam.) Erſter Chor. Soll ich der Mönche fromme Brüderſchaft hieher Berufen, daß ſie nach der Kirche altem Brauch Das Seelenamt verwalte und mit heil'gem Lied Zur ew'gen Ruh einſegne den Begrabenen? Don Ceſar. Ihr frommes Lied mag fort und fort an unſerm Grab Auf ew'ge Zeiten ſchallen bei der Kerze Schein, Doch heute nicht bedarf es ihres reinen Amts: Der blut'ge Mord verſcheucht das Heilige. Chor. Beſchließe nichts gewaltſam Blutiges, o Herr, Wider dich ſelber wütend mit Verzweiflungstat: Denn auf der Welt lebt niemand, der dich ſtrafen kann, Und fromme Büßung kauft den Zorn des Himmels ab. Don Ceſar. Nicht auf der Welt lebt, wer mich richtend ſtrafen kann, Drum muß ich ſelber an mir ſelber es vollziehn. Bußfert'ge Sühne, weiß ich, nimmt der Himmel an, Doch nur mit Blute büßt ſich ab der blut'ge Mord. Chor. Des Jammers Fluten, die auf dieſes Haus geſtürmt, Ziemt dir zu brechen, nicht zu häufen Leid auf Leid. Don Ceſar. Den alten Fluch des Hauſes löſ' ich ſterbend auf, Der freie Tod nur bricht die Kette des Geſchicks. Chor. Zum Herrn biſt du dich ſchuldig dem verwaiſten Land, Weil du des andern Herrſcherhauptes uns beraubt. [Vierter Aufzug. 9. Auftritt] 113 Don Ceſar. 2645 Zuerſt den Todesgöttern zahl' ich meine Schuld, 2650 2655 2660 2665 Ein andrer Gott mag jorgen für die Lebenden. Chor. So weit die Sonne leuchtet, iſt die Hoffnung auch, Nur von dem Tod gewinnt ſich nichts! Bedenk' es wohl. Don Ceſar. Du ſelbſt bedenke ſchweigend deine Dienerpflicht, Mich laß dem Geiſt gehorchen, der mich furchtbar treibt, Denn in das Innre kann kein Glücklicher mir ſchaun. Und ehrſt du fürchtend auch den Herrſcher nicht in mir, Den Verbrecher fürchte, den der Flüche ſchwerſter drückt, Das Haupt verehre des Unglücklichen, Das auch den Göttern heilig iſt — Wer das erfuhr, Was ich erleide und im Buſen fühle, Gibt keinem Irdiſchen mehr Rechenſchaft. Donna Iſabella. Don Ceſar. Der Chor. Iſabella (kommt mit zögernden Schritten und wirft unſchlüſſige Blicke auf Don Ceſar. Endlich tritt ſie ihm näher und ſpricht mit gefaßtem Ton). Dich ſollten meine Augen nicht mehr ſchauen, So hatt' ich mir's in meinem Schmerz gelobt, Doch in die Luft verwehen die Entſchlüſſe, Die eine Mutter, unnatürlich wütend, Wider des Herzens Stimme faßt — Mein Sohn! Mich treibt ein unglückſeliges Gerücht Aus meines Schmerzens öden Wohnungen Hervor — Soll ich ihm glauben? Iſt es wahr, Daß mir ein Tag zwei Söhne rauben ſoll? Schillers Werke. VII. 8 2670 2675 2680 2685 2690 114 Die Braut von Meſſina Chor. Entſchloſſen ſiehſt du ihn, feſten Muts, Hinabzugehen mit freiem Schritte Zu des Todes traurigen Toren. Erprobe du jetzt die Kraft des Bluts, Die Gewalt der rührenden Mutterbitte. Meine Worte hab' ich umſonſt verloren. Zſabella. Ich rufe die Verwünſchungen zurück, Die ich im blinden Wahnſinn der Verzweiflung Auf dein geliebtes Haupt herunter rief. Eine Mutter kann des eignen Buſens Kind, Das ſie mit Schmerz geboren, nicht verfluchen. Nicht hört der Himmel ſolche ſündige Gebete; ſchwer von Tränen, fallen ſie Zurück von ſeinem leuchtenden Gewölbe. — Lebe, mein Sohn! Ich will den Mörder lieber ſehn Des einen Kindes, als um beide weinen. Don Ceſar. Nicht wohl bedenkſt du, Mutter, was du wünſcheſt Dir ſelbſt und mir — Mein Platz kann nicht mehr ſein Bei den Lebendigen — Ja, könnteſt du Des Mörders gottverhaßten Anblick auch Ertragen, Mutter, ich ertrüge nicht Den ſtummen Vorwurf deines ew'gen Grams. Aſabella. Kein Vorwurf ſoll dich kränken, keine laute Noch ſtumme Klage in das Herz dir ſchneiden. In milder Wehmut wird der Schmerz ſich löſen, Gemeinſam trauernd wollen wir das Unglück Beweinen und bedecken das Verbrechen. 2695 2700 2705 2710 2715 2720 [Vierter Aufzug. 9. Auftritt! 115 Don Ceſar (faßt ihre Hand, mit ſanfter Stimme). Das wirſt du, Mutter. Alſo wird's geſchehn. In milder Wehmut wird dein Schmerz ſich löſen — Dann, Mutter, wenn ein Totenmal den Mörder Zugleich mit dem Gemordeten umſchließt, Ein Stein ſich wölbet über beider Staube, Dann wird der Fluch entwaffnet ſein — Dann wirſt Du deine Söhne nicht mehr unterſcheiden, Die Tränen, die dein ſchönes Auge weint, Sie werden einem wie dem andern gelten — Ein mächtiger Vermittler iſt der Tod. Da löſchen alle Zornesflammen aus, Der Haß verſöhnt ſich, und das ſchöne Mitleid Neigt ſich, ein weinend Schweſterbild, mit ſanft Anſchmiegender Umarmung auf die Urne. Drum, Mutter, wehre du mir nicht, daß ich Hinunterſteige und den Fluch verſöhne. Isabella. Reich iſt die Chriſtenheit an Gnadenbildern, Zu denen wallend ein gequältes Herz Kann Ruhe finden. Manche ſchwere Bürde Ward abgeworfen in Lorettos Haus, Und ſegensvolle Himmelskraft umweht Das heil'ge Grab, das alle Welt entſündigt. Vielkräftig auch iſt das Gebet der Frommen, Sie haben reichen Vorrat an Verdienſt, Und auf der Stelle, wo ein Mord geſchah, Kann ſich ein Tempel reinigend erheben. Don Ceſar. Wohl läßt der Pfeil ſich aus dem Herzen ziehn, Doch nie wird das verletzte mehr geſunden. Lebe, wer's kann, ein Leben der Zerknirſchung, Mit ſtrengen Bußkaſteiungen allmählich 116 Die Braut von Meſſina Abſchöpfend eine ew'ge Schuld — Ich kann 2726 Nicht leben, Mutter, mit gebrochnem Herzen. Aufblicken muß ich freudig zu den Frohen Und in den Ather greifen über mir Mit freiem Geiſt — Der Neid vergiftete mein Leben, Da wir noch deine Liebe gleich geteilt. 2730 Denkſt du, daß ich den Vorzug werde tragen, Den ihm dein Schmerz gegeben über mich? Der Tod hat eine reinigende Kraft, In ſeinem unvergänglichen Palaſte Zu echter Tugend reinem Diamant 275 Das Sterbliche zu läutern und die Flecken Der mangelhaften Menſchheit zu verzehren. Weit, wie die Sterne abſtehn von der Erde, Wird er erhaben ſtehen über mir, Und hat der alte Neid uns in dem Leben 2710 Getrennt, da wir noch gleiche Brüder waren, So wird er raſtlos mir das Herz zernagen, Nun er das Ewige mir abgewann Und jenſeits alles Wettſtreits wie ein Gott In der Erinnerung der Menſchen wandelt. Aſabella. 2715 O hab' ich euch nur darum nach Meſſina Gerufen, um euch beide zu begraben! Euch zu verſöhnen, rief ich euch hieher, Und ein verderblich Schickſal kehret all Mein Hoffen in ſein Gegenteil mir um! Don Ceſar. 2750 Schilt nicht den Ausgang, Mutter! Es erfüllt Sich alles, was verſprochen ward. Wir zogen ein Mit Friedenshoffnungen in dieſe Tore, Und friedlich werden wir zuſammen ruhn, Verſöhnt auf ewig, in dem Haus des Todes. [Vierter Aufzug. 9. Auftritt] 117 Aſabella. 2755 Lebe, mein Sohn! Laß deine Mutter nicht Freundlos im Land der Fremdlinge zurück, Rohherziger Verhöhnung preisgegeben, Weil ſie der Söhne Kraft nicht mehr beſchützt. Don Ceſar. Wenn alle Welt dich herzlos kalt verhöhnt, 270 So flüchte du dich hin zu unſerm Grabe Und rufe deiner Söhne Gottheit an, Denn Götter ſind wir dann, wir hören dich, Und wie des Himmels Zwillinge dem Schiffer Ein leuchtend Sternbild, wollen wir mit Troſt 2765 Dir nahe fein und deine Seele ſtärken. Aſabella. Lebe, mein Sohn! Für deine Mutter lebe! Ich kann's nicht tragen, alles zu verlieren! (Sie ſchlingt ihre Arme mit leidenſchaftlicher Heftigkeit um ihn, er macht ſich ſanft von ihr los und reicht ihr die Hand mit abgewandtem Geſicht.) Don Ceſar. Leb' wohl! ſabella. Ach, wohl erfahr' ich's ſchmerzlich fühlend nun, 2770 Daß nichts die Mutter über dich vermag! Gibt's keine andre Stimme, welche dir Zum Herzen mächt'ger als die meine dringt? (Sie geht nach dem Eingang der Szene.) Komm, meine Tochter! Wenn der tote Bruder Ihn ſo gewaltig nachzieht in die Gruft, 2775 So mag vielleicht die Schweſter, die geliebte, Mit ſchöner Lebens hoffnung Zauberſchein Zurück ihn locken in das Licht der Sonne. 118 Die Braut von Meſſina Beatrice erſcheint am Eingange der Szene. Donna Iſabella. Don Ceſar und der Chor. Don Ceſar (bei ihrem Anblick heftig bewegt ſich verhüllend). O Mutter! Mutter! Was erſanneſt du? Aſabella (führt fie vorwärts). Die Mutter hat umſonſt zu ihm gefleht, 2780 Beſchwöre du, erfleh' ihn, daß er lebe. Don Ceſar. Argliſt'ge Mutter! Alſo prüfſt du mich! In neuen Kampf willſt du zurück mich ſtürzen? Das Licht der Sonne mir noch teuer machen Auf meinem Wege zu der ew'gen Nacht? 2788 — Da ſteht der holde Lebensengel mächtig Vor mir, und tauſend Blumen ſchüttet er Und tauſend goldne Früchte lebenduftend Aus reichem Füllhorn ſtrömend vor mir aus, Das Herz geht auf im warmen Strahl der Sonne, 270 Und neu erwacht in der erſtorbnen Bruſt Die Hoffnung wieder und die Lebensluſt. Aſabella. Fleh' ihn, dich oder niemand wird er hören, Daß er den Stab nicht raube dir und mir. Beatrice. Ein Opfer fordert der geliebte Tote, 275 Es ſoll ihm werden, Mutter — Aber mich Laß dieſes Opfer ſein! Dem Tode war ich Geweiht, eh' ich das Leben ſah. Mich fordert Der Fluch, der dieſes Haus verfolgt, und Raub Am Himmel iſt das Leben, das ich lebe. 2800 2805 2810 2815 [Vierter Aufzug. 10. Auftritt! 119 Ich bin's, die ihn gemordet, eures Streits Entſchlafne Furien gewecket — Mir Gebührt es, ſeine Manen zu verſöhnen! Chor. O jammervolle Mutter! Hin zum Tod Drängen ſich eifernd alle deine Kinder Und laſſen dich allein, verlaſſen ſtehen Im freudlos öden, liebeleeren Leben. Beatrice. Du, Bruder, rette dein geliebtes Haupt, Für deine Mutter lebe! Sie bedarf Des Sohns; erſt heute fand ſie eine Tochter, Und leicht entbehrt ſie, was ſie nie beſaß. Don Ceſar (mit tief verwundeter Seele). Wir mögen leben, Mutter, oder ſterben, Wenn ſie nur dem Geliebten ſich vereinigt! Beatrice. Beneideſt du des Bruders toten Staub? Don Ceſar. Er lebt in deinem Schmerz ein ſelig Leben, Ich werde ewig tot ſein bei den Toten. 5 Beatrice. ruder! Don Ceſar (mit dem Ausdruck der heftigſten Leidenſchaft). Schweſter, weineſt du um mich? Beatrice. Lebe für unſre Mutter! on Ceſar (läßt ihre Hand los, zurücktretend). a Für die Mutter? 2820 2825 2830 2835 2840 120 Die Braut von Meſſina Beatrice (neigt ſich an ſeine Bruſt). Lebe für ſie und tröſte deine Schweſter. Chor. Sie hat geſiegt! Dem rührenden Flehen Der Schweſter konnt' er nicht widerſtehen. Troſtloſe Mutter! Gib Raum der Hoffnung, Er erwählt das Leben, dir bleibt dein Sohn! (In dieſem Augenblick läßt ſich ein Chorgeſang hören, die Flügeltüre wird geöffnet, man ſieht in der Kirche den Katafalk aufgerichtet und den Sarg von Kandelabern umgeben.) Don Ceſar (gegen den Sarg gewendet). Nein, Bruder! Nicht dein Opfer will ich dir Entziehen — deine Stimme aus dem Sarg Ruft mächt'ger dringend als der Mutter Tränen Und mächt'ger als der Liebe Flehn — Ich halte In meinen Armen, was das ird'ſche Leben Zu einem Los der Götter machen kann — Doch ich, der Mörder, ſollte glücklich ſein, Und deine heil'ge Unſchuld ungerächet Im tiefen Grabe liegen — das verhüte Der allgerechte Lenker unſrer Tage, Daß ſolche Teilung ſei in ſeiner Welt — — Die Tränen ſah ich, die auch mir gefloſſen, Befriedigt iſt mein Herz, ich folge dir. (Er durchſticht ſich mit einem Dolch und gleitet ſterbend an ſeiner Schweſter nieder, die ſich der Mutter in die Arme wirft.) Chor (nach einem tiefen Schweigen). Erſchüttert ſteh' ich, weiß nicht, ob ich ihn Bejammern oder preiſen ſoll ſein Los. Dies eine fühl' ich und erkenn' es klar: Das Leben iſt der Güter höchſtes nicht, Der Übel größtes aber iſt die Schuld. — — Wilhelm Tell Schauſpiel Perſonen Hermann Geßler, Reichsvogt in Schwyz und Uri. Werner, Freiherr von Attinghauſen, Bannerherr. Ulrich von Rudenz, ſein Neffe. Werner Stauffacher, Konrad Hunn, Itel Reding, Hans auf der Mauer, Landleute aus Schwyz. Jörg im Hofe, Ulrich der Schmied, Joſt von Weiler, Walter Fürſt, Wilhelm Tell, Röſſelmann, der Pfarrer, Petermann, der Sigrijt, aus Uri. Kuoni, der Hirte, Werni, der Jäger, Ruo di, der Fiſcher, U Arnold vom Melchtal, Konrad Baumgarten, Meier von Sarnen, Struth von Winkelried, aus Unterwalden. Klaus von der Flüe, Burkhart am Bühel, Arnold von Sewa, Pfeifer von Luzern. Kunz von Gerſau. Jenni, Fiſcherknabe. Seppi, Hirtenknabe. Gertrud, Stauffachers Gattin. Hedwig, Tells Gattin, Fürſts Tochter. Berta von Bruneck, eine reiche Erbin. Armgard, Mechthild, 2 Elsbeth, Bäuerinnen. Hildegard, Walter, Wilhelm, Tells Knaben. Frießhart, 5 Leuthold, Söldner. Rudolf der Harras, Geßlers Stallmeiſter. Johannes Parricida, Herzog von Schwaben. Stüſſi, der Flurſchütz. Der Stier von Uri. Ein Reichsbote. Fronvogt. Meiſter Steinmetz, Geſellen und Handlanger. Offentliche Ausrufer. Barmherzige Brüder. Geßleriſche und Landenbergiſche Reiter. Viele Landleute, Männer und Weiber aus den Wald- ſtätten. 10 Erſter Aufzug 1. Szene Hohes Felſenufer des Vierwaldſtättenſees, Schwyz gegenüber. Der See macht eine Bucht ins Land, eine Hütte iſt unweit dem Ufer, Fiſcherknabe fährt ſich in einem Kahn. Über den See hinweg ſieht man die grünen Matten, Dörfer und Höfe von Schwyz im hellen Sonnen⸗ ſchein liegen. Zur Linken des Zuſchauers zeigen ſich die Spitzen des Haken, mit Wolken umgeben; zur Rechten im fernen Hintergrund ſieht man die Eisgebirge. Noch ehe der Vorhang aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmoniſche Geläut der Herdenglocken, welches ſich auch bei eröffneter Szene noch eine Zeitlang fortſetzt. Tiſcherknabe (fingt im Kahn). (Melodie des Kuhreihens.) Es lächelt der See, er ladet zum Bade, Der Knabe ſchlief ein am grünen Geſtade, Da hört er ein Klingen, Wie Flöten ſo ſüß, Wie Stimmen der Engel Im Paradies. Und wie er erwachet in ſeliger Luſt, Da ſpülen die Waſſer ihm um die Bruſt, Und es ruft aus den Tiefen: Lieb Knabe, biſt mein! Ich locke den Schläfer, Ich zieh' ihn herein. Hirte (auf dem Berge). (Variation des Kuhreihens.) Ihr Matten, lebt wohl, Ihr ſonnigen Weiden! 15 20 25 30 35 126 Wilhelm Tell Der Senne muß ſcheiden, Der Sommer iſt hin. Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder, Wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder, Wenn mit Blumen die Erde ſich kleidet neu, Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai. Ihr Matten, lebt wohl, Ihr ſonnigen Weiden! Der Senne muß ſcheiden, Der Sommer iſt hin. Alpenjüger (erſcheint gegenüber auf der Höhe des Felſen). (Zweite Variation.) Es donnern die Höhen, es zittert der Steg, Nicht grauet dem Schützen auf ſchwindligtem Weg, Er ſchreitet verwegen Auf Feldern von Eis, Da pranget kein Frühling, Da grünet kein Reis; Und unter den Füßen ein nebligtes Meer, Erkennt er die Städte der Menſchen nicht mehr, Durch den Riß nur der Wolken Erblickt er die Welt, Tief unter den Waſſern Das grünende Feld. (Die Landſchaft verändert ſich, man hört ein dumpfes Krachen von den Bergen, Schatten von Wolken laufen über die Gegend.) Ruodi der Fiſcher kommt aus der Hütte, Werni der Jäger ſteigt vom Felſen, Kuoni der Hirt kommt mit dem Melknapf auf der Schulter. Seppi, fein Handbube, folgt ihm. Ruodi. Mach' hurtig, Jenni. Zieh die Naue ein. Der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firn, Der Mytenſtein zieht ſeine Haube an, 40 45 50 55 Erſter Aufzug. 1. Szene 127 Und kalt her bläſt es aus dem Wetterloch; Der Sturm, ich mein', wird da ſein, eh' wir's denken. Kuoni. 's kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe freſſen Mit Begierde Gras, und Wächter ſcharrt die Erde. Werni. Die Fiſche ſpringen, und das Waſſerhuhn Taucht unter. Ein Gewitter iſt im Anzug. Runt (zum Buben). Lug', Seppi, ob das Vieh ſich nicht verlaufen. Seppi. Die braune Liſel kenn' ich am Geläut. Kuoni. So fehlt uns keine mehr, die geht am weitſten. Nuodi. Ihr habt ein ſchön Geläute, Meiſter Hirt. Werni. Und ſchmuckes Vieh — Iſt's Euer eignes, Landsmann? Rusnt, Bin nit fo reich — 's iſt meines gnäd'gen Herrn, Des Attinghäuſers, und mir zugezählt. Nuodi. Wie ſchön der Kuh das Band zu Halſe ſteht! Kuoni. Das weiß ſie auch, daß ſie den Reihen führt, Und nähm' ich ihr's, ſie hörte auf, zu freſſen. Ruodi. Ihr ſeid nicht klug! Ein unvernünft'ges Vieh — 60 65 70 128 Wilhelm Tell Werni. Iſt bald geſagt. Das Tier hat auch Vernunft, Das wiſſen wir, die wir die Gemſen jagen: Die ſtellen klug, wo ſie zur Weide gehn, 'ne Vorhut aus, die ſpitzt das Ohr und warnet Mit heller Pfeife, wenn der Jäger naht. Ruodi (zum Hirten). Treibt Ihr jetzt heim? Kuoni. Die Alp iſt abgeweidet. Werni. Glückſel'ge Heimkehr, Senn! Kuoni. Die wünſch' ich Euch; Von Eurer Fahrt kehrt ſich's nicht immer wieder. Nuodi. Dort kommt ein Mann in voller Haſt gelaufen. Werni. Ich kenn' ihn, 's iſt der Baumgart von Alzellen. Konrad Baumgarten atemlos hereinſtürzend. Baumgarten. Um Gottes willen, Fährmann, Euren Kahn! Nuodi. Nun, nun, was gibt's ſo eilig? Baumgarten. Bindet los! Ihr rettet mich vom Tode! Setzt mich über! Kuoni. Landsmann, was habt Ihr? 75 80 Erſter Aufzug. 1. Szene 129 Werni. Wer verfolgt Euch denn? Baumgarten (sum Fiſcher). Eilt, eilt, ſie ſind mir dicht ſchon an den Ferſen! Des Landvogts Reiter kommen hinter mir, Ich bin ein Mann des Tods, wenn ſie mich greifen. Nuodi. Warum verfolgen Euch die Reiſigen? Baumgarten. Erſt rettet mich, und dann ſteh' ich Euch Rede. Werni. Ihr ſeid mit Blut befleckt, was hat's gegeben? Baumgarten. Des Kaiſers Burgvogt, der auf Roßberg ſaß — Kuoni. Der Wolfenſchießen! Läßt Euch der verfolgen? Baumgarten. Der ſchadet nicht mehr, ich hab' ihn erſchlagen. Alle (fahren zurück). Gott ſei Euch gnädig! Was habt Ihr getan? Baumgarten. Was jeder freie Mann an meinem Platz! Mein gutes Hausrecht hab' ich ausgeübt Am Schänder meiner Ehr' und meines Weibes. Ruoni, Hat Euch der Burgvogt an der Chr’ e Schillers Werke. VII. 85 90 95 100 130 Wilhelm Tell Baumgarten. Daß er fein bös Gelüſten nicht vollbracht, Hat Gott und meine gute Axt verhütet. Werni. Ihr habt ihm mit der Axt den Kopf zerſpalten? Auoni. O laßt uns alles hören, Ihr habt Zeit, Bis er den Kahn vom Ufer losgebunden. Baumgarten. Ich hatte Holz gefällt im Wald, da kommt Mein Weib gelaufen in der Angſt des Todes: Der Burgvogt lieg' in meinem Haus, er hab' Ihr anbefohlen, ihm ein Bad zu rüſten. Drauf hab' er Ungebührliches von ihr Verlangt; ſie ſei entſprungen, mich zu ſuchen. Da lief ich friſch hinzu, ſo wie ich war, Und mit der Axt hab' ich ihm 's Bad geſegnet. Werni. Ihr tatet wohl, kein Menſch kann Euch drum ſchelten. Ruont. Der Wüterich! Der hat nun ſeinen Lohn! Hat's lang' verdient ums Volk von Unterwalden. Baumgarten. Die Tat ward ruchtbar, mir wird nachgeſetzt — Indem wir ſprechen — Gott — verrinnt die Zeit — (Es fängt an, zu donnern.) Ruont. Friſch, Fährmann — Schaff' den Biedermann hinüber. Erſter Aufzug. 1. Szene 131 Rusdt. Geht nicht. Cin ſchweres Ungewitter ijt 165 Im Anzug. Ihr müßt warten. Baumgarten. Heil'ger Gott! Ich kann nicht warten. Jeder Aufſchub tötet — Kuoni (zum Fiſcher). Greif an mit Gott! Dem Nächſten muß man helfen, Es kann uns allen Gleiches ja begegnen. (Brauſen und Donnern.) Ruodi. Der Föhn iſt los, ihr ſeht, wie hoch der See geht, 110 Ich kann nicht ſteuern gegen Sturm und Wellen. Baumgarten (umfaßt ſeine Knie). So helf' Euch Gott, wie Ihr Euch mein erbarmet — Werni. Es geht ums Leben, ſei barmherzig, Fährmann. Kuoni. 's iſt ein Hausvater, und hat Weib und Kinder! (Wiederholte Donnerſchläge.) Nuodi. Was? Ich hab' auch ein Leben zu verlieren, 116 Hab' Weib und Kind daheim, wie er — Seht hin, Wie's brandet, wie es wogt und Wirbel zieht Und alle Waſſer aufrührt in der Tiefe. — Ich wollte gern den Biedermann erretten, Doch es iſt rein unmöglich, ihr ſeht ſelbſt. Baumgarten (noch auf den Knien). 120 So muß ich fallen in des Feindes Hand, Das nahe Rettungsufer im Geſichte! 125 135 140 132 Wilhelm Tell — Dort liegt's! Ich kann's erreichen mit den Augen, Hinüberdringen kann der Stimme Schall, Da iſt der Kahn, der mich hinübertrüge, Und muß hier liegen, hilflos, und verzagen! Auoni. Seht, wer da kommt! Werni. Es iſt der Tell aus Bürglen. Tell mit der Armbruſt. Tell. Wer iſt der Mann, der hier um Hilfe fleht? Kuoni. 's iſt ein Alzeller Mann, er hat ſein' Ehr' Verteidigt und den Wolfenſchieß erſchlagen, Des Königs Burgvogt, der auf Roßberg ſaß — Des Landvogts Reiter ſind ihm auf den Ferſen, Er fleht den Schiffer um die Überfahrt, Der fürcht't ſich vor dem Sturm und will nicht fahren. Rudi. Da ijt der Tell, er führt das Ruder auch, Der ſoll mir's zeugen, ob die Fahrt zu wagen. Tell. Wo's not tut, Fährmann, läßt ſich alles wagen. (Heftige Donnerſchläge, der See rauſcht auf.) Nuodi. Ich ſoll mich in den Höllenrachen ſtürzen? Das täte keiner, der bei Sinnen iſt. Tell. Der brave Mann denkt an ſich ſelbſt zuletzt, Vertrau' auf Gott und rette den Bedrängten. 145 150 155 Erſter Aufzug. 1. Szene 133 Ruodi. Vom ſichern Port läßt ſich's gemächlich raten. Da iſt der Kahn und dort der See! Verſucht's! Tell. Der See kann ſich, der Landvogt nicht erbarmen, Verſuch' es, Fährmann! Hirten und Jäger. Rett' ihn! Rett' ihn! Rett' ihn! Nuodi. Und wär's mein Bruder und mein leiblich Kind, Es kann nicht ſein, 's iſt heut Simons und Judä, Da raſt der See und will ſein Opfer haben. Tell. Mit eitler Rede wird hier nichts geſchafft, Die Stunde dringt, dem Mann muß Hilfe werden. Sprich, Fährmann, willſt du fahren? Rudi, Nein, nicht ich! Tell. In Gottes Namen denn! Gib her den Kahn, Ich will's mit meiner ſchwachen Kraft verſuchen. Kuoni. Ha, wackrer Tell! Werni. Das gleicht dem Weidgeſellen! Baumgarten. Mein Retter ſeid Ihr und mein Engel, Tell! Tell. Wohl aus des Vogts Gewalt errett' ich Euch, Aus Sturmes Nöten muß ein andrer helfen. 160 165 170 134 Wilhelm Tell Doch beſſer iſt's, Ihr fallt in Gottes Hand Als in der Menſchen! (Zu dem Hirten.) Landsmann, tröſtet Ihr Mein Weib, wenn mir was Menſchliches begegnet, Ich hab' getan, was ich nicht laſſen konnte. (Er ſpringt in den Kahn.) Kuoni (gum Fiſcher). Ihr ſeid ein Meiſter-Steuermann. Was ſich Der Tell getraut, das konntet Ihr nicht wagen? Nuodi. Wohl beßre Männer tun's dem Tell nicht nach, Es gibt nicht zwei, wie der iſt, im Gebirge. Werni liſt auf den Fels geſtiegen). Er ſtößt ſchon ab. Gott helf' dir, braver Schwimmer! Sieh, wie das Schifflein auf den Wellen ſchwankt! Kuoni (am ufer). Die Flut geht drüber weg — Ich ſeh's nicht mehr. Doch halt, da iſt es wieder! Kräftiglich Arbeitet ſich der Wackre durch die Brandung. Seppi. Des Landvogts Reiter kommen angeſprengt. Kuoni. Weiß Gott, ſie ſind's! das war Hilf' in der Not. Ein Trupp Landenbergiſcher Reiter. Erſter Reiter. Den Mörder gebt heraus, den ihr verborgen. Zweiter. Des Wegs kam er, umſonſt verhehlt ihr ihn. 180 Erſter Aufzug. 1. Szene 135 Kuoni und Ruodi. Wen meint ihr, Reiter? Erſter Reiter lentdeckt den Nachen). Ha, was ſeh' ich! Teufel! Werni (oben). Iſt's der im Nachen, den ihr ſucht? — Reit zu! Wenn ihr friſch beilegt, holt ihr ihn noch ein. Zweiter. Verwünſcht! Er iſt entwiſcht. Erſter (zum Hirten und Fiſcher). Ihr habt ihm fortgeholfen, Ihr ſollt uns büßen — Fallt in ihre Herde! Die Hütte reißet ein, brennt und ſchlagt nieder! (eilen fort.) Seppi (ſtürzt nach). O meine Lämmer! Kuoni (folgt). Weh mir! Meine Herde! Werni. Die Wütriche! Nuodi (ringt die Hände). Gerechtigkeit des Himmels, Wann wird der Retter kommen dieſem Lande? Folgt ihnen.) 185 190 195 200 136 Wilhelm Tell 2. Szene Zu Steinen in Schwyz. Eine Linde vor des Stauffachers Hauſe an der Landſtraße, nächſt der Brücke. Werner Stauffacher, Pfeifer von Luzern kommen im Geſpräch. Pfeifer. Ja, ja, Herr Stauffacher, wie ich Euch ſagte, Schwört nicht zu Oſtreich, wenn ihr's könnt vermeiden. Haltet feſt am Reich und wacker, wie bisher, Gott ſchirme euch bei eurer alten Freiheit! (Drückt ihm herzlich die Hand und will gehen.) Stauffacher. Bleibt doch, bis meine Wirtin kommt — Ihr ſeid Mein Gaſt zu Schwyz, ich in Luzern der Eure. Pfeifer. Viel Dank! Muß heute Gerſau noch erreichen. — Was ihr auch Schweres mögt zu leiden haben Von eurer Vögte Geiz und Übermut, Tragt's in Geduld! Es kann ſich ändern, ſchnell, Ein andrer Kaiſer kann ans Reich gelangen. Seid ihr erſt Oſterreichs, ſeid ihr's auf immer. Er geht ab. Stauffacher ſetzt ſich kummervoll auf eine Bank unter der Linde. So findet ihn Gertrud, ſeine Frau, die ſich neben ihn ſtellt und ihn eine Zeitlang ſchweigend betrachtet. Gertrud. So ernſt, mein Freund? Ich kenne dich nicht mehr. Schon viele Tage ſeh' ich's ſchweigend an, Wie finſtrer Trübſinn deine Stirne furcht. Auf deinem Herzen drückt ein ſtill Gebreſten, Vertrau' es mir, ich bin dein treues Weib, Und meine Hälfte fordr' ich deines Grams. (Stauffacher reicht ihr die Hand und ſchweigt.) 205 210 215 220 Erſter Aufzug. 2. Szene 137 Was kann dein Herz beklemmen, ſag' es mir. Geſegnet iſt dein Fleiß, dein Glücksſtand blüht, Voll ſind die Scheunen, und der Rinder Scharen, Der glatten Pferde wohlgenährte Zucht Iſt von den Bergen glücklich heimgebracht Zur Winterung in den bequemen Ställen. — Da ſteht dein Haus, reich, wie ein Edelſitz, Von ſchönem Stammholz iſt es neu gezimmert Und nach dem Richtmaß ordentlich gefügt; Von vielen Fenſtern glänzt es wohnlich, hell, Mit bunten Wappenſchildern iſt's bemalt Und weiſen Sprüchen, die der Wandersmann Verweilend lieſt und ihren Sinn bewundert. Stauffacher. Wohl ſteht das Haus gezimmert und gefügt, Doch ach — es wankt der Grund, auf den wir bauten. Gertrud. 5 Mein Werner, ſage, wie verſtehſt du das? Stauffacher. Vor dieſer Linde ſaß ich jüngſt, wie heut', Das ſchön Vollbrachte freudig überdenkend, Da kam daher von Küßnacht, ſeiner Burg, Der Vogt mit ſeinen Reiſigen geritten. Vor dieſem Hauſe hielt er wundernd an, Doch ich erhub mich ſchnell, und unterwürfig, Wie ſich's gebührt, trat ich dem Herrn, entgegen, Der uns des Kaiſers richterliche Macht Vorſtellt im Lande. „Weſſen iſt dies Haus?“ Fragt' er bösmeinend, denn er wußt' es wohl. Doch ſchnell beſonnen ich entgegn' ihm ſo: „Dies Haus, Herr Vogt, iſt meines Herrn des Kaiſers Und Eures und mein Lehen“ — Da verſetzt er: 230 235 240 245 250 255 138 Wilhelm Tell „Ich bin Regent im Land an Kaiſers Statt Und will nicht, daß der Bauer Häuſer baue Auf ſeine eigne Hand und alſo frei Hinleb', als ob er Herr wär' in dem Lande, Ich werd' mich unterſtehn, euch das zu wehren.“ Dies ſagend ritt er trutziglich von dannen, Ich aber blieb mit kummervoller Seele, Das Wort bedenkend, das der Böſe ſprach. Gertrud. Mein lieber Herr und Ehewirt! Magſt du Ein redlich Wort von deinem Weib vernehmen? Des edeln Ibergs Tochter rühm' ich mich, Des vielerfahrnen Manns. Wir Schweſtern ſaßen, Die Wolle ſpinnend, in den langen Nächten, Wenn bei dem Vater ſich des Volkes Häupter Verſammelten, die Pergamente laſen Der alten Kaiſer, und des Landes Wohl Bedachten in vernünftigem Geſpräch. Aufmerkend hört' ich da manch kluges Wort, Was der Verſtänd'ge denkt, der Gute wünſcht, Und ſtill im Herzen hab' ich mir's bewahrt. So höre denn und acht' auf meine Rede, Denn was dich preßte, ſieh, das wußt' ich längſt. — Dir grollt der Landvogt, möchte gern dir ſchaden, Denn du biſt ihm ein Hindernis, daß ſich Der Schwyzer nicht dem neuen Fürſtenhaus Will unterwerfen, ſondern treu und feſt Beim Reich beharren, wie die würdigen Altvordern es gehalten und getan. — Iſt's nicht fo, Werner? Sag' es, wenn ich lüge! Stauffacher. So iſt's, das iſt des Geßlers Groll auf mich. 260 265 270 280 285 Erſter Aufzug. 2. Szene 139 Gertrud. Er iſt dir neidiſch, weil du glücklich wohnſt, Ein freier Mann auf deinem eignen Erb', — Denn er hat keins. Vom Kaiſer ſelbſt und Reich Trägſt du dies Haus zu Lehn; du darfſt es zeigen, So gut der Reichsfürſt ſeine Länder zeigt, Denn über dir erkennſt du keinen Herrn Als nur den Höchſten in der Chriſtenheit — Er iſt ein jüngrer Sohn nur ſeines Hauſes, Nichts nennt er ſein als ſeinen Rittermantel, Drum ſieht er jedes Biedermannes Glück Mit ſcheelen Augen gift'ger Mißgunſt an. Dir hat er längſt den Untergang geſchworen — Noch ſtehſt du unverſehrt — Willſt du erwarten, Bis er die böſe Luft an dir gebüßt? Der kluge Mann baut vor. Stauffacher. Was iſt zu tun! Gertrud (tritt näher). So höre meinen Rat! Du weißt, wie hier Zu Schwyz ſich alle Redlichen beklagen Ob dieſes Landvogts Geiz und Wüterei. So zweifle nicht, daß ſie dort drüben auch In Unterwalden und im Urner Land Des Dranges müd ſind und des harten Jochs — Denn, wie der Geßler hier, ſo ſchafft es frech Der Landenberger drüben überm See — Es kommt kein Fiſcherkahn zu uns herüber, Der nicht ein neues Unheil und Gewalt- Beginnen von den Vögten uns verkündet. Drum tat’ es gut, daß eurer etliche, Die's redlich meinen, ſtill zu Rate gingen, 290 295 300 305 310 315 140 Wilhelm Tell Wie man des Drucks ſich möcht' erledigen; So acht' ich wohl, Gott würd' euch nicht verlaſſen Und der gerechten Sache gnädig ſein — Haſt du in Uri keinen Gaſtfreund, ſprich, Dem du dein Herz magſt redlich offenbaren? Stauffacher. Der wackern Männer kenn' ich viele dort, Und angeſehen große Herrenleute, Die mir geheim ſind und gar wohl vertraut. (Er ſteht auf.) Frau, welchen Sturm gefährlicher Gedanken Weckſt du mir in der ſtillen Bruſt! Mein Innerſtes Kehrſt du ans Licht des Tages mir entgegen, Und was ich mir zu denken ſtill verbot, Du ſprichſt's mit leichter Zunge kecklich aus. — Haſt du auch wohl bedacht, was du mir rätſt? Die wilde Zwietracht und den Klang der Waffen Rufſt du in dieſes friedgewohnte Tal — Wir wagten es, ein ſchwaches Volk der Hirten, In Kampf zu gehen mit dem Herrn der Welt? Der gute Schein nur iſt's, worauf ſie warten, Um loszulaſſen auf dies arme Land Die wilden Horden ihrer Kriegesmacht, Darin zu ſchalten mit des Siegers Rechten Und unterm Schein gerechter Züchtigung Die alten Freiheitsbriefe zu vertilgen. Gertrud. Ihr ſeid auch Männer, wiſſet eure Axt Zu führen, und dem Mutigen hilft Gott! Atauffacher. O Weib! Ein furchtbar wütend Schrecknis iſt Der Krieg, die Herde ſchlägt er und den Hirten. 825 330 335 Erſter Aufzug. 2. Szene 141 Gertrud. Ertragen muß man, was der Himmel ſendet, Unbilliges erträgt kein edles Herz. Stauffacher. Dies Haus erfreut dich, das wir neu erbauten. Der Krieg, der ungeheure, brennt es nieder. Gertrud. Wüßzt' ich mein Herz an zeitlich Gut gefeſſelt, Den Brand wärf' ich hinein mit eigner Hand. Stauffacher. Du glaubſt an Menſchlichkeit! Es ſchont der Krieg Auch nicht das zarte Kindlein in der Wiege. Gertrud. Die Unſchuld hat im Himmel einen Freund! — Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich. Stauffacher. Wir Männer können tapfer fechtend ſterben, Welch Schickſal aber wird das eure ſein? Gertrud. Die letzte Wahl ſteht auch dem Schwächſten offen, Ein Sprung von dieſer Brücke macht mich frei. Stauffacher (ſtürzt in ihre Arme). Wer ſolch ein Herz an ſeinen Buſen drückt, Der kann für Herd und Hof mit Freuden fechten, Und keines Königs Heermacht fürchtet er — Nach Uri fahr' ich ſtehnden Fußes gleich, Dort lebt ein Gaſtfreund mir, Herr Walter Fürſt, Der über dieſe Zeiten denkt wie ich. Auch find' ich dort den edeln Bannerherrn 340 345 142 Wilhelm Tell Von Attinghaus — obgleich von hohem Stamm, Liebt er das Volk und ehrt die alten Sitten. Mit ihnen beiden pfleg' ich Rats, wie man Der Landesfeinde mutig ſich erwehrt — Leb' wohl — und weil ich fern bin, führe du Mit klugem Sinn das Regiment des Hauſes — Dem Pilger, der zum Gotteshauſe wallt, Dem frommen Mönch, der für ſein Kloſter ſammelt, Gib reichlich und entlaß ihn wohlgepflegt. Stauffachers Haus verbirgt ſich nicht. Zu äußerſt Am offnen Heerweg ſteht's, ein wirtlich Dach Für alle Wandrer, die des Weges fahren. Indem ſie nach dem Hintergrund abgehen, tritt Wilhelm Tell mit Baumgarten vorn auf die Szene. Tell (zu Baumgarten). Ihr habt jetzt meiner weiter nicht vonnöten, Zu jenem Hauſe gehet ein, dort wohnt Der Stauffacher, ein Vater der Bedrängten. — Doch ſieh, da iſt er ſelber — Folgt mir, kommt! (Gehen auf ihn zu, die Szene verwandelt ſich.) 3. Szene Offentlicher Platz bei Altdorf. Auf einer Anhöhe im Hintergrund ſieht man eine Feſte bauen, welche ſchon ſo weit gediehen, daß ſich die Form des Ganzen darſtellt. Die hintere Seite iſt fertig, an der vordern wird eben gebaut, das Gerüſte ſteht noch, an welchem die Werkleute auf und nieder ſteigen; auf dem höchſten Dach hängt der Schieferdecker — Alles iſt in Bewegung und Arbeit. Fronvogt. Meiſter Steinmetz. Geſellen und Handlanger. Tronvogt (mit dem Stabe, treibt die Arbeiter). Nicht lang' gefeiert, friſch! Die Mauerſteine Herbei, den Kalk, den Mörtel zugefahren! 355 360 365 370 Erſter Aufzug. 3. Szene 143 Wenn der Herr Landvogt kommt, daß er das Werk Gewachſen ſieht — Das ſchlendert wie die Schnecken. (Zu zwei Handlangern, welche tragen.) Heißt das geladen? Gleich das Doppelte! Wie die Tagdiebe ihre Pflicht beſtehlen! Erſter Geſell. Das iſt doch hart, daß wir die Steine ſelbſt Zu unſerm Twing und Kerker ſollen fahren! Tronvogt. Was murret ihr? Das iſt ein ſchlechtes Volk, Zu nichts anſtellig, als das Vieh zu melken Und faul herum zu ſchlendern auf den Bergen. Alter Mann (ruht aus). Ich kann nicht mehr. Fronvogt (idiittelt ihn). Friſch, Alter, an die Arbeit! Erſter Geſell. Habt Ihr denn gar kein Eingeweid', daß Ihr Den Greis, der kaum ſich ſelber ſchleppen kann, Zum harten Frondienſt treibt? Meiſter Steinmetz und Geſellen. 's iſt himmelſchreiend! Fronvogt. Sorgt ihr für euch; ich tu', was meines Amts. Zweiter Geſell. Fronvogt, wie wird die Feſte denn ſich nennen, Die wir da baun? Fronvogt. Zwing Uri ſoll ſie heißen, Denn unter dieſes Joch wird man euch beugen. 144 Wilhelm Tell Geſellen. Zwing Uri! Fronvogt. Nun, was gibt's dabei zu lachen? Zweiter Geſell. Mit dieſem Häuslein wollt ihr Uri zwingen? Erſter Geſell. Laß ſehn, wie viel man ſolcher Maulwurfshaufen 375 Muß über'nander ſetzen, bis ein Berg Draus wird, wie der geringſte nur in Uri! (Fronvogt geht nach dem Hintergrund.) Meiſter Steinmetz. Den Hammer werf' ich in den tiefſten See, Der mir gedient bei dieſem Fluchgebäude! Tell und Stauffacher kommen. Atauffacher. O hätt' ich nie gelebt, um das zu ſchauen! Tell. so Hier iſt nicht gut fein. Laßt uns weiter gehn. Stauffacher. Bin ich zu Uri, in der Freiheit Land? Meiſter Steinmetz. O Herr, wenn Ihr die Keller erſt geſehn Unter den Türmen! Ja, wer die bewohnt, Der wird den Hahn nicht fürder krähen hören! Stauffacher. Steinmetz. Seht dieſe Flanken, dieſe Strebepfeiler, Die ſtehn, wie für die Ewigkeit gebaut! 385 O Gott! 390 395 400 Erſter Aufzug. 3. Szene 145 Tell. Was Hände bauten, können Hände ſtürzen. (Nach den Bergen zeigend.) Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet. Man hört eine Trommel, es kommen Leute, die einen Hut auf einer Stange tragen, ein Aus rufer folgt ihnen, Weiber und Kinder dringen tumultuariſch nach. Erſter Geſell. Was will die Trommel? Gebet Acht! Meiſter Steinmetz. Was für Ein Faßnachtsaufzug, und was ſoll der Hut? Aus rufer. In des Kaiſers Namen! Höret! Geſellen. Still doch! Höret! Ausrufer. Ihr ſehet dieſen Hut, Männer von Uri! Aufrichten wird man ihn auf hoher Säule, Mitten in Altdorf, an dem höchſten Ort, Und dieſes iſt des Landvogts Will' und Meinung: Dem Hut ſoll gleiche Ehre wie ihm ſelbſt geſchehn, Man ſoll ihn mit gebognem Knie und mit Entblößtem Haupt verehren — Daran will Der König die Gehorſamen erkennen. Verfallen iſt mit ſeinem Leib und Gut Dem Könige, wer das Gebot verachtet. (Das Volk lacht laut auf, die Trommel wird gerührt, ſie gehen vorüber.) Erſter Geſell. Welch neues Unerhörtes hat der Vogt Sich ausgeſonnen? Wir 'nen Hut verehren! Sagt! Hat man je vernommen von dergleichen? Schillers Werke. VII. 10 405 410 415 146 Wilhelm Tell Meiſter Steinmetz. Wir unſre Kniee beugen einem Hut! Treibt er ſein Spiel mit ernſthaft würd'gen Leuten? Erſter Geſell. Wär's noch die kaiſerliche Kron'! So iſt's Der Hut von Eſterreich, ich ſah ihn hangen Über dem Thron, wo man die Lehen gibt! Meiſter Steinmetz. Der Hut von Sſterreich! Gebt Acht, es iſt Ein Fallſtrick, uns an Oſtreich zu verraten! Geſellen. Kein Ehrenmann wird ſich der Schmach bequemen. Meiſter Steinmetz. Kommt, laßt uns mit den andern Abred' nehmen. (Sie gehen nach der Tiefe.) Tell (zum Stauffacher). Ihr wiſſet nun Beſcheid. Lebt wohl, Herr Werner! Stauffacher. Wo wollt Ihr hin? O eilt nicht ſo von dannen. Tell. Mein Haus entbehrt des Vaters. Lebet wohl. Stauffacher. Mir iſt das Herz ſo voll, mit Euch zu reden. Tell. Das ſchwere Herz wird nicht durch Worte leicht. Stauffacher. Doch könnten Worte uns zu Taten führen. Erſter Aufzug. 3. Szene 147 Tell. 420 Die einz'ge Tat iſt jetzt Geduld und Schweigen. 425 430 435 Stauffacher. Soll man ertragen, was unleidlich iſt? Tell. Die ſchnellen Herrſcher ſind's, die kurz regieren. — Wenn ſich der Föhn erhebt aus ſeinen Schlünden, Löſcht man die Feuer aus, die Schiffe ſuchen Eilends den Hafen, und der mächt'ge Geiſt Geht ohne Schaden, ſpurlos, über die Erde. Ein jeder lebe ſtill bei ſich daheim, Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden. Stauffacher. Tell. Die Schlange ſticht nicht ungereizt. Sie werden endlich doch von ſelbſt ermüden, Wenn ſie die Lande ruhig bleiben ſehn. Stauffacher. Wir könnten viel, wenn wir zuſammenſtünden. Meint Ihr? Tell. Beim Schiffbruch hilft der Einzelne ſich leichter. Stauffacher. So kalt verlaßt Ihr die gemeine Sache? Tell. Ein jeder zählt nur ſicher auf ſich ſelbſt. Stauffacher. Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. 148 Wilhelm Tell Tell. Der Starke iſt am mächtigſten allein. Stauffacher. So kann das Vaterland auf Euch nicht zählen, Wenn es verzweiflungsvoll zur Notwehr greift? Tell (gibt ihm die Hand). 40 Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund, Und ſollte ſeinen Freunden ſich entziehen? Doch was ihr tut, laßt mich aus eurem Rat, Ich kann nicht lange prüfen oder wählen; Bedürft ihr meiner zu beſtimmter Tat, 445 Dann ruft den Tell, es ſoll an mir nicht fehlen. (Gehen ab zu verſchiedenen Seiten. Ein plötzlicher Auflauf entſteht um das Gerüſte.) Meiſter Steinmetz (eilt hin). Was gibt's? Erſter Geſell (kommt vor, rufend). Der Schieferdecker iſt vom Dach geſtürzt. Berta mit Gefolge. Berta (ſtürzt herein). Iſt er zerſchmettert? Rennet, rettet, helft — Wenn Hilfe möglich, rettet, hier iſt Gold — (Wirft ihr Geſchmeide unter das Volk.) Meiſter. 450 Mit eurem Golde — Alles iſt euch feil Um Gold; wenn ihr den Vater von den Kindern Geriſſen und den Mann von ſeinem Weibe Und Jammer habt gebracht über die Welt, Denkt ihr's mit Golde zu vergüten — Geht! 45 Wir waren frohe Menſchen, eh' ihr kamt, Mit euch iſt die Verzweiflung eingezogen. 460 465 Erſter Aufzug. 4. Szene 149 Berta (zu dem Fronvogt, der zurückkommt). Lebt er? (Fronvogt gibt ein Zeichen des Gegenteils.) O unglückſel'ges Schloß, mit Flüchen Erbaut, und Flüche werden dich bewohnen! (Geht ab.) 4. Szene Walter Fürſts Wohnung. Walter Fürſt und Arnold vom Melchtal treten zugleich ein, von verſchiedenen Seiten. Melchtal. Herr Walter Fürſt — 5 Walter Fürſt. Wenn man uns überraſchte! Bleibt, wo Ihr ſeid. Wir ſind umringt von Spähern. Melchtal. Bringt Ihr mir nichts von Unterwalden? Nichts Von meinem Vater? Nicht ertrag' ich's länger, Als ein Gefangner müßig hier zu liegen. Was hab' ich denn jo Sträfliches getan, Um mich gleich einem Mörder zu verbergen? Dem frechen Buben, der die Ochſen mir, Das trefflichſte Geſpann, vor meinen Augen Weg wollte treiben auf des Vogts Geheiß, Hab' ich den Finger mit dem Stab gebrochen. Walter Fürſt. Ihr ſeid zu raſch. Der Bube war des Vogts, Von Eurer Obrigkeit war er geſendet, Ihr wart in Straf' gefallen, mußtet Euch, Wie ſchwer ſie war, der Buße ſchweigend fügen. 480 485 490 495 150 Wilhelm Tell Melchtal. Ertragen ſollt' ich die leichtfert'ge Rede Des Unverſchämten: „Wenn der Bauer Brot Wollt' eſſen, mög' er ſelbſt am Pfluge ziehn!“ In die Seele ſchnitt mir's, als der Bub die Ochſen, Die ſchönen Tiere, von dem Pfluge ſpannte; Dumpf brüllten ſie, als hätten ſie Gefühl Der Ungebühr, und ſtießen mit den Hörnern — Da übernahm mich der gerechte Zorn, Und meiner ſelbſt nicht Herr, ſchlug ich den Boten. Walter Fürſt. O kaum bezwingen wir das eigne Herz, Wie ſoll die raſche Jugend ſich bezähmen! Melchtal. Mich jammert nur der Vater — Er bedarf So ſehr der Pflege, und ſein Sohn iſt fern. Der Vogt iſt ihm gehäſſig, weil er ſtets Für Recht und Freiheit redlich hat geſtritten. Drum werden ſie den alten Mann bedrängen, Und niemand iſt, der ihn vor Unglimpf ſchütze. — Werde mit mir, was will, ich muß hinüber. Walter Fürſt. Erwartet nur und faßt Euch in Geduld, Bis Nachricht uns herüber kommt vom Walde. — Ich höre klopfen, geht — Vielleicht ein Bote Vom Landvogt — Geht hinein — Ihr ſeid in Uri Nicht ſicher vor des Landenbergers Arm, Denn die Tyrannen reichen ſich die Hände. Melchtal. Sie lehren uns, was wir tun ſollten. 500 505 510 515 520 525 Erſter Aufzug. 4. Szene 151 Walter Sirf. Geht! Ich ruf' Euch wieder, wenn's hier ſicher iſt. (Melchtal geht hinein.) Der Unglückſelige, ich darf ihm nicht Geſtehen, was mir Böſes ſchwant — Wer klopft? So oft die Türe rauſcht, erwart' ich Unglück. Verrat und Argwohn lauſcht in allen Ecken, Bis in das Innerſte der Häuſer dringen Die Boten der Gewalt; bald tät' es not, Wir hätten Schloß und Riegel an den Türen. Er öffnet und tritt erſtaunt zurück, da Werner Stauffacher hereintritt. Was ſeh' ich? Ihr, Herr Werner! Nun, bei Gott, Ein werter, teurer Gaſt — Kein beßrer Mann Iſt über dieſe Schwelle noch gegangen. Seid hoch willkommen unter meinem Dach! Was führt Euch her? Was ſucht Ihr hier in Uri? Stauffacher (ifm die Hand reichend). Die alten Zeiten und die alte Schweiz. Walter Fürſt. Die bringt Ihr mit Euch — Sieh, mir wird ſo wohl, Warm geht das Herz mir auf bei Eurem Anblick. — Setzt Euch, Herr Werner — Wie verließet Ihr Frau Gertrud, Eure angenehme Wirtin, Des weiſen Ibergs hochverſtänd'ge Tochter? Von allen Wandrern aus dem deutſchen Land, Die über Meinrads Zell nach Welſchland fahren, Rühmt jeder Euer gaſtlich Haus — Doch ſagt, Kommt Ihr ſoeben friſch von Flüelen her, Und habt Euch nirgend ſonſt noch umgeſehn, Eh' Ihr den Fuß geſetzt auf dieſe Schwelle? Stauffacher (fest ſich). Wohl ein erſtaunlich neues Werk hab' ich Bereiten ſehen, das mich nicht erfreute. 530 535 540 545 152 Wilhelm Tell Walter Fürſt. O Freund, da habt Ihr's gleich mit einem Blicke! N Stauffacher. Ein ſolches iſt in Uri nie geweſen — Seit Menſchendenken war kein Twinghof hier, Und feſt war keine Wohnung als das Grab. Walter Fürſt. Ein Grab der Freiheit iſt's. Ihr nennt's mit Namen. i Stauffacher. Herr Walter Fürſt, ich will Euch nicht verhalten: Nicht eine müß'ge Neugier führt mich her, Mich drücken ſchwere Sorgen — Drangſal hab' ich Zu Haus verlaſſen, Drangſal find' ich hier. Denn ganz unleidlich iſt's, was wir erdulden, Und dieſes Dranges iſt kein Ziel zu ſehn. Frei war der Schweizer von uralters her, Wir ſind's gewohnt, daß man uns gut begegnet — Ein ſolches war im Lande nie erlebt, Solang' ein Hirte trieb auf dieſen Bergen. Walter Fürſt. Ja, es iſt ohne Beiſpiel, wie ſie's treiben! Auch unſer edler Herr von Attinghauſen, Der noch die alten Zeiten hat geſehn, Meint ſelber, es ſei nicht mehr zu ertragen. Stauffacher. Auch drüben unterm Wald geht Schweres vor, Und blutig wird's gebüßt — der Wolfenſchießen, Des Kaiſers Vogt, der auf dem Roßberg hauſte, Gelüſten trug er nach verbotner Frucht, Baumgartens Weib, der haushält zu Alzellen, 550 555 560 565 570 Erſter Aufzug. 4. Szene 153 Wollt' er zu frecher Ungebühr mißbrauchen, Und mit der Axt hat ihn der Mann erſchlagen. Walter Sirf. O, die Gerichte Gottes ſind gerecht! — Baumgarten, ſagt Ihr? Ein beſcheidner Mann! Er iſt gerettet doch und wohl geborgen? Atauffacher. Euer Eidam hat ihn übern See geflüchtet, Bei mir zu Steinen halt' ich ihn verborgen — — Noch Greulichers hat mir derſelbe Mann Berichtet, was zu Sarnen iſt geſchehn, Das Herz muß jedem Biedermanne bluten. Walter Fürſt (aufmerkſam). Sagt an, was iſt's? Stauffacher. Im Melchtal, da wo man Eintritt bei Kerns, wohnt ein gerechter Mann, Sie nennen ihn den Heinrich von der Halden, Und ſeine Stimm' gilt was in der Gemeinde. Walter Fürſt. Wer kennt ihn nicht! Was iſt's mit ihm? Vollendet. Stauffacher. Der Landenberger büßte ſeinen Sohn Um kleinen Fehlers willen, ließ die Ochſen, Das beſte Paar, ihm aus dem Pfluge ſpannen, Da ſchlug der Knab den Knecht und wurde flüchtig. Walter Fürſt (in höchſter Spannung). Der Vater aber — Sagt, wie ſteht's um den? Stauffacher. Den Vater läßt der Landenberger fordern, Zur Stelle ſchaffen ſoll er ihm den Sohn, 154 Wilhelm Tell Und da der alte Mann mit Wahrheit ſchwört, Er habe von dem Flüchtling keine Kunde, Da läßt der Vogt die Folterknechte kommen — Walter Fürſt (fpriugt auf und will ihn auf die andre Seite führen). 576 O ſtill, nichts mehr! Stauffacher (mit ſteigendem Ton). „Iſt mir der Sohn entgangen, So hab' ich dich!“ — Läßt ihn zu Boden werfen, Den ſpitz'gen Stahl ihm in die Augen bohren — Walter Fürſt. Barmherz'ger Himmel! Melchtal (ſtürzt heraus). In die Augen, ſagt Ihr? Stauffacher (erſtaunt zum Walter Fürſt). Wer iſt der Jüngling? Melchtal (faßt ihn mit krampfhafter Heftigkeit). In die Augen? Redet! Walter Fürſt. 580 O der Bejammernswürdige! Stauffacher. Wer iſt's? (Da Walter Fürſt ihm ein Zeichen gibt.) Der Sohn iſt's? Allgerechter Gott! Melchtal. Und ich Muß ferne ſein! — In ſeine beiden Augen? Walter Fürſt. Bezwinget Euch, ertragt es wie ein Mann! 585 590 595 600 605 Erſter Aufzug. 4. Szene 155 Melchtal. Um meiner Schuld, um meines Frevels willen! — Blind alſo! Wirklich blind, und ganz geblendet? Stauffacher. Ich ſagt's. Der Quell des Sehns iſt ausgefloſſen, Das Licht der Sonne ſchaut er niemals wieder. Walter Fürſt. Schont ſeines Schmerzens! Melchtal. Niemals! Niemals wieder! (Er drückt die Hand vor die Augen und ſchweigt einige Momente, dann wendet er ſich von dem einen zu dem andern und ſpricht mit ſanfter, von Tränen erſtickter Stimme.) O, eine edle Himmelsgabe iſt Das Licht des Auges — Alle Weſen leben Vom Lichte, jedes glückliche Geſchöpf — Die Pflanze ſelbſt kehrt freudig ſich zum Lichte. Und er muß ſitzen, fühlend, in der Nacht, Im ewig Finſtern — ihn erquickt nicht mehr Der Matten warmes Grün, der Blumen Schmelz, Die roten Firnen kann er nicht mehr ſchauen — Sterben iſt nichts — doch leben und nicht ſehen, Das iſt ein Unglück — Warum ſeht ihr mich So jammernd an? Ich hab' zwei friſche Augen Und kann dem blinden Vater keines geben, Nicht einen Schimmer von dem Meer des Lichts, Das glanzvoll, blendend mir ins Auge dringt. Stauffacher. Ach, ich muß Euren Jammer noch vergrößern, Statt ihn zu heilen — Er bedarf noch mehr! Denn alles hat der Landvogt ihm geraubt, Nichts hat er ihm gelaſſen als den Stab, Um nackt und blind von Tür zu Tür zu wandern. 610 615 620 630 635 156 Wilhelm Tell Melchtal. Nichts als den Stab dem augenloſen Greis! Alles geraubt und auch das Licht der Sonne, Des Armſten allgemeines Gut — Jetzt rede Mir keiner mehr von Bleiben, von Verbergen! Was für ein feiger Elender bin ich, Daß ich auf meine Sicherheit gedacht Und nicht auf deine! — dein geliebtes Haupt Als Pfand gelaſſen in des Wütrichs Händen! Feigherz'ge Vorſicht, fahre hin — Auf nichts Als blutige Vergeltung will ich denken, Hinüber will ich — Keiner ſoll mich halten — Des Vaters Auge von dem Landvogt fordern — Aus allen ſeinen Reiſigen heraus Will ich ihn finden — Nichts liegt mir am Leben, Wenn ich den heißen, ungeheuren Schmerz In ſeinem Lebensblute kühle. (r will gehen.) Walter Fürſt. Bleibt! Was könnt Ihr gegen ihn? Er ſitzt zu Sarnen Auf ſeiner hohen Herrenburg und ſpottet Ohnmächt'gen Zorns in ſeiner ſichern Feſte. Melchtal. Und wohnt' er droben auf dem Eispalaſt Des Schreckhorns oder höher, wo die Jungfrau Seit Ewigkeit verſchleiert ſitzt — ich mache Mir Bahn zu ihm; mit zwanzig Jünglingen, Geſinnt wie ich, zerbrech' ich ſeine Feſte. Und wenn mir niemand folgt, und wenn ihr alle, Für eure Hütten bang und eure Herden, Euch dem Tyrannenjoche beugt — die Hirten Will ich zuſammenrufen im Gebirg, 640 645 650 655 660 Erſter Aufzug. 4. Szene 157 Dort, unterm freien Himmelsdache, wo Der Sinn noch friſch iſt und das Herz geſund, Das ungeheuer Gräßliche erzählen. Stauffacher (zu Walter Fürſt). Es iſt auf ſeinem Gipfel — wollen wir Erwarten, bis das Außerſte — Melchtal. Welch Außerſtes Iſt noch zu fürchten, wenn der Stern des Auges In ſeiner Höhle nicht mehr ſicher iſt? — Sind wir denn wehrlos? Wozu lernten wir Die Armbruſt ſpannen und die ſchwere Wucht Der Streitaxt ſchwingen? Jedem Weſen ward Ein Notgewehr in der Verzweiflungsangſt: Es ſtellt ſich der erſchöpfte Hirſch und zeigt Der Meute ſein gefürchtetes Geweih, Die Gemſe reißt den Jäger in den Abgrund — Der Pflugſtier ſelbſt, der ſanfte Hausgenoß Des Menſchen, der die ungeheure Kraft Des Halſes duldſam unters Joch gebogen, Springt auf, gereizt, wetzt ſein gewaltig Horn Und ſchleudert ſeinen Feind den Wolken zu. Walter Fürſt. Wenn die drei Lande dächten wie wir drei, So möchten wir vielleicht etwas vermögen. Atauffacher. Wenn Uri ruft, wenn Unterwalden hilft, Der Schwyzer wird die alten Bünde ehren. Melchtal. Groß iſt in Unterwalden meine Freundſchaft, Und jeder wagt mit Freuden Leib und Blut, 665 670 675 680 685 158 Wilhelm Tell Wenn er am andern einen Rücken hat Und Schirm — O fromme Väter dieſes Landes! Ich ſtehe nur ein Jüngling zwiſchen euch, Den Vielerfahrnen — meine Stimme muß Beſcheiden ſchweigen in der Landsgemeinde. Nicht, weil ich jung bin und nicht viel erlebte, Verachtet meinen Rat und meine Rede; Nicht lüſtern jugendliches Blut, mich treibt Des höchſten Jammers ſchmerzliche Gewalt, Was auch den Stein des Felſen muß erbarmen. Ihr ſelbſt ſeid Väter, Häupter eines Hauſes Und wünſcht euch einen tugendhaften Sohn, Der eures Hauptes heil'ge Locken ehre Und euch den Stern des Auges fromm bewache. O, weil ihr ſelbſt an eurem Leib und Gut Noch nichts erlitten, eure Augen ſich Noch friſch und hell in ihren Kreiſen regen, So ſei euch darum unſre Not nicht fremd. Auch über euch hängt das Tyrannenſchwert, Ihr habt das Land von Oftreich abgewendet — Kein anderes war meines Vaters Unrecht, Ihr ſeid in gleicher Mitſchuld und Verdammnis. Stauffacher (zu Walter Fürſt). Beſchließet Ihr, ich bin bereit, zu folgen. Walter Fürſt. Wir wollen hören, was die edeln Herrn Von Sillinen, von Attinghauſen raten — Ihr Name, denk' ich, wird uns Freunde werben. Melchtal. Wo iſt ein Name in dem Waldgebirg Ehrwürdiger als Eurer und der Eure? An ſolcher Namen echte Währung glaubt 690 695 700 705 710 Erſter Aufzug. 4. Szene 159 Das Volk, ſie haben guten Klang im Lande. Ihr habt ein reiches Erb' von Vätertugend Und habt es ſelber reich vermehrt — Was braucht's Des Edelmanns? Laßt's uns allein vollenden. Wären wir doch allein im Land! Ich meine, Wir wollten uns ſchon ſelbſt zu ſchirmen wiſſen. Stauffacher. Die Edeln drängt nicht gleiche Not mit uns; Der Strom, der in den Niederungen wütet, Bis jetzt hat er die Höhn noch nicht erreicht — Doch ihre Hilfe wird uns nicht entſtehn, Wenn ſie das Land in Waffen erſt erblicken. Walter Fürſt. Wäre ein Obmann zwiſchen uns und Oſtreich, So möchte Recht entſcheiden und Geſetz, Doch, der uns unterdrückt, iſt unſer Kaiſer Und höchſter Richter — ſo muß Gott uns helfen Durch unſern Arm — Erforſchet Ihr die Männer Von Schwyz, ich will in Uri Freunde werben. Wen aber ſenden wir nach Unterwalden — Melchtal. Mich ſendet hin — wem läg' es näher an — Walter Fürſt. Ich geb's nicht zu, Ihr ſeid mein Gaſt, ich muß Für Eure Sicherheit gewähren! Melchtal. Laßt mich! Die Schliche kenn' ich und die Felſenſteige, Auch Freunde find' ich gnug, die mich dem Feind Verhehlen und ein Obdach gern gewähren. 730 160 Wilhelm Tell Stauffacher. Laßt ihn mit Gott hinübergehn. Dort drüben Iſt kein Verräter — ſo verabſcheut iſt Die Tyrannei, daß ſie kein Werkzeug findet. Auch der Alzeller ſoll uns nid dem Wald Genoſſen werben und das Land erregen. Melchtal. Wie bringen wir uns ſichre Kunde zu, Daß wir den Argwohn der Tyrannen täuſchen? Stauffacher. Wir könnten uns zu Brunnen oder Treib Verſammeln, wo die Kaufmannsſchiffe landen. Walter Fürſt. So offen dürfen wir das Werk nicht treiben. — Hört meine Meinung. Links am See, wenn man Nach Brunnen fährt, dem Mytenſtein grad' über, Liegt eine Matte heimlich im Gehölz, Das Rütli heißt ſie bei dem Volk der Hirten, Weil dort die Waldung ausgereutet ward. Dort iſt's, wo unſre Landmark und die Eure (zu Melchtal) Zuſammengrenzen, und in kurzer Fahrt (zu Stauffacher) Trägt Euch der leichte Kahn von Schwyz herüber. Auf öden Pfaden können wir dahin Bei Nachtzeit wandern und uns ſtill beraten. Dahin mag jeder zehn vertraute Männer Mitbringen, die herzeinig ſind mit uns, So können wir gemeinſam das Gemeine Beſprechen und mit Gott es friſch beſchließen. Stauffacher. So ſei's. Jetzt reicht mir Eure biedre Rechte, Reicht Ihr die Eure her, und ſo wie wir 740 745 750 Zweiter Aufzug. 1. Szene 161 Drei Männer jetzo, unter uns, die Hände Zuſammenflechten, redlich, ohne Falſch, So wollen wir drei Länder auch, zu Schutz Und Trutz, zuſammenſtehn auf Tod und Leben. Walter Fürſt und Melchtal. Auf Tod und Leben! (Sie halten die Hände noch einige Pauſen lang zuſammengeflochten und ſchweigen.) Melchtal. Blinder alter Vater! Du kannſt den Tag der Freiheit nicht mehr ſchauen, Du ſollſt ihn hören — Wenn von Alp zu Alp Die Feuerzeichen flammend ſich erheben, Die feſten Schlöſſer der Tyrannen fallen, In deine Hütte ſoll der Schweizer wallen, Zu deinem Ohr die Freudenkunde tragen, Und hell in deiner Nacht ſoll es dir tagen. (Sie gehen auseinander.) Zweiter Aufzug 1. Szene Edelhof des Freiherrn von Attinghauſen. Ein gotiſcher Saal, mit Wappenſchildern und Helmen verziert. Der Frei⸗ herr, ein Greis von fünfundachtzig Jahren, von hoher edler Statur, an einem Stabe, worauf ein Gemſenhorn, und in ein Pelzwams gekleidet. Kuoni und noch ſechs Knechte ſtehen um ihn her mit Rechen und Senſen — Ulrich von Rudenz tritt ein in Ritterkleidung. Nudenz. Hier bin ich, Oheim — Was iſt Euer Wille? Attinghauſen. Erlaubt, daß ich nach altem Hausgebrauch Den Frühtrunk erſt mit meinen Knechten teile. Schillers Werke. VII. 11 755 770 162 Wilhelm Tell (Er trinkt aus einem Becher, der dann in der Reihe herumgeht.) Sonſt war ich ſelber mit in Feld und Wald, Mit meinem Auge ihren Fleiß regierend, Wie ſie mein Banner führte in der Schlacht — Jetzt kann ich nichts mehr, als den Schaffner machen, Und kommt die warme Sonne nicht zu mir, Ich kann ſie nicht mehr ſuchen auf den Bergen. Und ſo, in enger ſtets und engerm Kreis, Beweg' ich mich dem engeſten und letzten, Wo alles Leben ſtillſteht, langſam zu — Mein Schatte bin ich nur, bald nur mein Name. Kuoni (zu Rudenz mit dem Becher). Ich bring's Euch, Junker. (Da Rudenz zaudert, den Becher zu nehmen.) Trinket friſch! Es geht Aus einem Becher und aus einem Herzen. Attinghauſen. Geht, Kinder, und wenn's Feierabend iſt, Dann reden wir auch von des Lands Geſchäften. (Knechte gehen ab.) Attinghauſen und Rudenz. Attinghauſen. Ich ſehe dich gegürtet und gerüſtet, Du willſt nach Altdorf in die Herrenburg? Nudenz. Ja, Oheim, und ich darf nicht länger ſäumen — Attinghauſen (fet ſich). Haſt du's ſo eilig? Wie? Iſt deiner Jugend Die Zeit ſo karg gemeſſen, daß du ſie An deinem alten Oheim mußt erſparen? 775 780 785 790 795 800 Zweiter Aufzug. 1. Szene 163 Nudenz. Ich ſehe, daß Ihr meiner nicht bedürft, Ich bin ein Fremdling nur in dieſem Hauſe. Attinghauſen (hat ihn lange mit den Augen gemuſtert). Ja, leider biſt du's. Leider iſt die Heimat Zur Fremde dir geworden! — Uli! Uli! Ich kenne dich nicht mehr. In Seide prangſt du, Die Pfauenfeder trägſt du ſtolz zur Schau Und ſchlägſt den Purpurmantel um die Schultern, Den Landmann blickſt du mit Verachtung an Und ſchämſt dich ſeiner traulichen Begrüßung. Rudens, Die Chr’, die ihm gebührt, geb' ich ihm gern; Das Recht, das er ſich nimmt, verweigr' ich ihm. Attinghauſen. Das ganze Land liegt unterm ſchweren Zorn Des Königs — Jedes Biedermannes Herz Iſt kummervoll ob der tyranniſchen Gewalt, Die wir erdulden — Dich allein rührt nicht Der allgemeine Schmerz — Dich ſiehet man Abtrünnig von den Deinen auf der Seite Des Landesfeindes ſtehen, unſrer Not Hohnſprechend nach der leichten Freude jagen Und buhlen um die Fürſtengunſt, indes Dein Vaterland von ſchwerer Geißel blutet. Nudenz. Das Land iſt ſchwer bedrängt — Warum, mein Oheim? Wer iſt's, der es geſtürzt in dieſe Not? Es koſtete ein einzig leichtes Wort, Um augenblicks des Dranges los zu ſein Und einen gnäd'gen Kaiſer zu gewinnen. 805 810 815 820 825 164 Wilhelm Tell Weh ihnen, die dem Volk die Augen halten, Daß es dem wahren Beſten widerſtrebt. Um eignen Vorteils willen hindern ſie, Daß die Waldſtätte nicht zu Oſtreich ſchwören, Wie ringsum alle Lande doch getan. Wohl tut es ihnen, auf der Herrenbank Zu ſitzen mit dem Edelmann — den Kaiſer Will man zum Herrn, um keinen Herrn zu haben. Attinghauſen. Muß ich das hören und aus deinem Munde! Nudenz. Ihr habt mich aufgefordert, laßt mich enden. — Welche Perſon iſt's, Oheim, die Ihr ſelbſt Hier ſpielt? Habt Ihr nicht höhern Stolz, als hier Landammann oder Bannerherr zu ſein Und neben dieſen Hirten zu regieren? Wie? Iſt's nicht eine rühmlichere Wahl, Zu huldigen dem königlichen Herrn, Sich an ſein glänzend Lager anzuſchließen, Als Eurer eignen Knechte Pair zu ſein Und zu Gericht zu ſitzen mit dem Bauer? Attinghauſen. Ach Uli! Uli! Ich erkenne ſie, Die Stimme der Verführung! Sie ergriff Dein offnes Ohr, ſie hat dein Herz vergiftet. Nudenz. Ja, ich verberg' es nicht — in tiefer Seele Schmerzt mich der Spott der Fremdlinge, die uns Den Bauernadel ſchelten — Nicht ertrag' ich's, Indes die edle Jugend rings umher Sich Ehre ſammelt unter Habsburgs Fahnen, 830 835 840 845 850 855 Zweiter Aufzug. 1. Szene Auf meinem Erb' hier müßig ſtillzuliegen Und bei gemeinem Tagewerk den Lenz Des Lebens zu verlieren — Anderswo Geſchehen Taten, eine Welt des Ruhms Bewegt ſich glänzend jenſeits dieſer Berge — Mir roſten in der Halle Helm und Schild, Der Kriegstrommete mutiges Getön, Der Heroldsruf, der zum Turniere ladet, Er dringt in dieſe Täler nicht herein, Nichts als den Kuhreihn und der Herdeglocken Einförmiges Geläut' vernehm' ich hier. Attinghauſen. Verblendeter, vom eiteln Glanz verführt! Verachte dein Geburtsland! Schäme dich Der uralt frommen Sitte deiner Väter! Mit heißen Tränen wirſt du dich dereinſt Heim ſehnen nach den väterlichen Bergen, Und dieſes Herdenreihens Melodie, Die du in ſtolzem Überdruß verſchmähſt, Mit Schmerzensſehnſucht wird ſie dich ergreifen, Wenn ſie dir anklingt auf der fremden Erde. O mächtig iſt der Trieb des Vaterlands! Die fremde falſche Welt iſt nicht für dich, Dort an dem ſtolzen Kaiſerhof bleibſt du Dir ewig fremd mit deinem treuen Herzen! Die Welt, ſie fordert andre Tugenden, Als du in dieſen Tälern dir erworben. — Geh hin, verkaufe deine freie Seele, Nimm Land zu Lehen, werd' ein Fürſtenknecht, Da du ein Selbſtherr ſein kannſt und ein Fürſt Auf deinem eignen Erb' und freien Boden. Ach, Uli! Uli! Bleibe bei den Deinen! Geh nicht nach Altdorf — O verlaß ſie nicht, a 860 865 875 880 885 890 166 Wilhelm Tell Die heil'ge Sache deines Vaterlands! — Ich bin der Letzte meines Stamms. Mein Name Endet mit mir. Da hängen Helm und Schild, Die werden ſie mir in das Grab mitgeben. Und muß ich denken bei dem letzten Hauch, Daß du mein brechend Auge nur erwarteft, Um hinzugehn vor dieſen neuen Lehenhof Und meine edeln Güter, die ich frei Von Gott empfing, von Oſtreich zu empfangen! Nudenz. Vergebens widerſtreben wir dem König, Die Welt gehört ihm; wollen wir allein Uns eigenſinnig ſteifen und verſtocken, Die Länderkette ihm zu unterbrechen, Die er gewaltig rings um uns gezogen? Sein ſind die Märkte, die Gerichte, ſein Die Kaufmannsſtraßen, und das Saumroß ſelbſt, Das auf dem Gotthard ziehet, muß ihm zollen. Von ſeinen Ländern wie mit einem Netz Sind wir umgarnet rings und eingeſchloſſen. — Wird uns das Reich beſchützen? Kann es ſelbſt Sich ſchützen gegen Oſtreichs wachſende Gewalt? Hilft Gott uns nicht, kein Kaiſer kann uns helfen. Was iſt zu geben auf der Kaiſer Wort, Wenn ſie in Geld- und Kriegesnot die Städte, Die untern Schirm des Adlers ſich geflüchtet, Verpfänden dürfen und dem Reich veräußern? — Nein, Oheim! Wohltat iſt's und weiſe Vorſicht, In dieſen ſchweren Zeiten der Parteiung Sich anzuſchließen an ein mächtig Haupt. Die Kaiſerkrone geht von Stamm zu Stamm, Die hat für treue Dienſte kein Gedächtnis. Doch um den mächt'gen Erbherrn wohl verdienen Heißt Saaten in die Zukunft ſtreun. 895 900 905 910 915 920 Zweiter Aufzug. 1. Szene 167 Attinghauſen. Biſt du ſo weiſe? Willſt heller ſehn als deine edeln Väter, Die um der Freiheit koſtbarn Edelſtein Mit Gut und Blut und Heldenkraft geſtritten? — Schiff' nach Luzern hinunter, frage dort, Wie Sſtreichs Herrſchaft laſtet auf den Ländern! Sie werden kommen, unſre Schaf' und Rinder Zu zählen, unſre Alpen abzumeſſen, Den Hochflug und das Hochgewilde bannen In unſern freien Wäldern, ihren Schlagbaum An unſre Brücken, unſre Tore ſetzen, Mit unſrer Armut ihre Länderkäufe, Mit unſerm Blute ihre Kriege zahlen — — Nein, wenn wir unſer Blut dran ſetzen ſollen, So ſei's für uns — wohlfeiler kaufen wir Die Freiheit als die Knechtſchaft ein! Rudenz. Was können wir, Ein Volk der Hirten, gegen Albrechts Heere! Attinghauſen. Lern' dieſes Volk der Hirten kennen, Knabe! Ich kenn's, ich hab' es angeführt in Schlachten, Ich hab' es fechten ſehen bei Favenz. Sie ſollen kommen, uns ein Joch aufzwingen, Das wir entſchloſſen ſind, nicht zu ertragen! — O lerne fühlen, welches Stamms du biſt! Wirf nicht für eiteln Glanz und Flitterſchein Die echte Perle deines Wertes hin — Das Haupt zu heißen eines freien Volks, Das dir aus Liebe nur ſich herzlich weiht, Das treulich zu dir ſteht in Kampf und Tod — Das ſei dein Stolz, des Adels rühme dich — 925 930 935 940 945 168 Wilhelm Tell Die angebornen Bande knüpfe feſt, Ans Vaterland, ans teure, ſchließ dich an, Das halte feſt mit deinem ganzen Herzen. Hier ſind die ſtarken Wurzeln deiner Kraft; Dort in der fremden Welt ſtehſt du allein, Ein ſchwankes Rohr, das jeder Sturm zerknickt. O komm, du haſt uns lang' nicht mehr geſehn, Verſuch's mit uns nur einen Tag — nur heute Geh nicht nach Altdorf — Hörſt du? Heute nicht, Den einen Tag nur ſchenke dich den Deinen! (Er faßt ſeine Hand.) Rudens. Ich gab mein Wort — Laßt mich — Ich bin gebunden. Attinghauſen (läßt ſeine Hand los, mit Ernſt). Du biſt gebunden — Ja, Unglücklicher! Du biſt's, doch nicht durch Wort und Schwur, Gebunden biſt du durch der Liebe Seile! (Rudenz wendet ſich weg.) — Verbirg dich, wie du willſt. Das Fräulein iſt's, Berta von Bruneck, die zur Herrenburg Dich zieht, dich feſſelt an des Kaiſers Dienſt. Das Ritterfräulein willſt du dir erwerben Mit deinem Abfall von dem Land — Betrüg dich nicht! Dich anzulocken, zeigt man dir die Braut, Doch deiner Unſchuld iſt ſie nicht beſchieden. Rudenz. Genug hab' ich gehört. Gehabt Euch wohl. (er geht ab.) Attinghauſen. Wahnſinn'ger Jüngling, bleib! — Er geht dahin! Ich kann ihn nicht erhalten, nicht erretten — So iſt der Wolfenſchießen abgefallen Von ſeinem Land — ſo werden andre folgen, 950 955 960 Zweiter Aufzug. 2. Szene 169 Der fremde Zauber reißt die Jugend fort, Gewaltſam ſtrebend über unſre Berge. — O unglückſel'ge Stunde, da das Fremde In dieſe ſtill beglückten Täler kam, Der Sitten fromme Unſchuld zu zerſtören! — Das Neue dringt herein mit Macht, das Alte, Das Würd'ge ſcheidet, andre Zeiten kommen, Es lebt ein anders denkendes Geſchlecht! Was tu' ich hier? Sie ſind begraben alle, Mit denen ich gewaltet und gelebt. Unter der Erde ſchon liegt meine Zeit; Wohl dem, der mit der neuen nicht mehr braucht zu leben! (Geht ab.) 2. Szene Eine Wieſe von hohen Felſen und Wald umgeben. Auf den Felſen ſind Steige mit Geländern, auch Leitern, von denen man nachher die Landleute herabſteigen ſieht. Im Hintergrunde zeigt ſich der See, über welchem anfangs ein Mondregenbogen zu ſehen iſt. Den Proſpekt ſchließen hohe Berge, hinter welchen noch höhere Eisgebirge ragen. Es iſt völlig Nacht auf der Szene, nur der See und die weißen Gletſcher leuchten im Mondenlicht. Melchtal, Baumgarten, Winkelried, Meier von Sarnen, Burkhart am Bühel, Arnold von Sewa, Klaus von der Flüe und noch vier andere Landleute, alle bewaffnet. Melchtal (noch hinter der Szene). Der Bergweg öffnet ſich, nur friſch mir nach! Den Fels erkenn' ich und das Kreuzlein drauf, Wir ſind am Ziel, hier iſt das Rütli. (Treten auf mit Windlichtern.) Winkelried. Horch! Sewa. Ganz leer. 965 970 170 Wilhelm Tell Meier. 's iſt noch kein Landmann da. Wir ſind Die erſten auf dem Platz, wir Unterwaldner. Melchtal. Wie weit iſt's in der Nacht? Baumgarten. Der Feuerwächter Vom Selisberg hat eben Zwei gerufen. (Man hört in der Ferne läuten.) Meier. Am Biihel. Das Mettenglöcklein in der Waldkapelle Klingt hell herüber aus dem Schwyzerland. Still! Horch! Von der Flüe. Die Luft iſt rein und trägt den Schall ſo weit. Melchtal. Gehn einige und zünden Reisholz an, Daß es loh brenne, wenn die Männer kommen. (Zwei Landleute gehen.) Sewa. 's iſt eine [cine Mondennacht. Der See Liegt ruhig da als wie ein ebner Spiegel. Am Bühel. Sie haben eine leichte Fahrt. Winkelried (zeigt nach dem See). Ha ſeht! Seht dorthin! Seht ihr nichts? 975 980 985 Zweiter Aufzug. 2. Szene 171 Meier. Was denn? — Ja wahrlich! Ein Regenbogen mitten in der Nacht! Melchtal. Es iſt das Licht des Mondes, das ihn bildet. Von der Flüe. Das iſt ein ſeltſam wunderbares Zeichen! Es leben viele, die das nicht geſehn. Sewn. Er ijt doppelt, jeht, ein bläſſerer ſteht drüber. Baumgarten. Ein Nachen fährt ſoeben drunter weg. Melchtal. Das iſt der Stauffacher mit ſeinem Kahn, Der Biedermann lüßt ſich nicht lang' erwarten. (Geht mit Baumgarten nach dem Ufer.) Meier. Die Urner ſind es, die am längſten ſäumen. Am Biihel. Sie müſſen weit umgehen durchs Gebirg, Daß ſie des Landvogts Kundſchaft hintergehen. (Unterdeſſen haben die zwei Landleute in der Mitte des Platzes ein Feuer angezündet.) Melchtal (am ufer). Wer iſt da? Gebt das Wort! Stauffacher (von unten). Freunde des Landes. 990 995 1000 1005 172 Wilhelm Tell Alle gehen nach der Tiefe, den Kommenden entgegen. Aus dem Kahn ſteigen Stauffacher, Itel Reding, Hans auf der Mauer, Jörg im Hofe, Konrad Hunn, Ulrich der Schmied, Joſt von Weiler und noch drei andere Landleute, gleichfalls bewaffnet. 5 f Alle (rufen). iÜkommen! (Indem die übrigen in der Tiefe verweilen und ſich begrüßen, kommt Melchtal mit Stauffacher vorwärts.) Melchtal. O Herr Stauffacher! Ich hab' ihn Geſehn, der mich nicht wiederſehen konnte! Die Hand hab' ich gelegt auf ſeine Augen, Und glühend Rachgefühl hab' ich geſogen Aus der erloſchnen Sonne ſeines Blicks. Stauffacher. Sprecht nicht von Rache. Nicht Geſchehnes rächen, Gedrohtem Übel wollen wir begegnen. — Jetzt ſagt, was Ihr im Unterwaldner Land Geſchafft und für gemeine Sach' geworben, Wie die Landleute denken, wie Ihr ſelbſt Den Stricken des Verrats entgangen ſeid. Melchtal. Durch der Surennen furchtbares Gebirg, Auf weit verbreitet öden Eiſesfeldern, Wo nur der heiſre Lämmergeier krächzt, Gelangt' ich zu der Alpentrift, wo ſich Aus Uri und vom Engelberg die Hirten Anrufend grüßen und gemeinſam weiden, Den Durſt mir ſtillend mit der Gletſcher Milch, Die in den Runſen ſchäumend niederquillt. In den einſamen Sennhütten kehrt' ich ein, Mein eigner Wirt und Gaſt, bis daß ich kam Zu Wohnungen geſellig lebender Menſchen. 1010 1015 1020 1025 1030 1035 Zweiter Aufzug. 2. Szene 173 — Erſchollen war in dieſen Tälern ſchon Der Ruf des neuen Greuels, der geſchehn, Und fromme Ehrfurcht ſchaffte mir mein Unglück Vor jeder Pforte, wo ich wandernd klopfte. Entrüſtet fand ich dieſe graden Seelen Ob dem gewaltſam neuen Regiment; Denn ſo wie ihre Alpen fort und fort Dieſelben Kräuter nähren, ihre Brunnen Gleichförmig fließen, Wolken ſelbſt und Winde Den gleichen Strich unwandelbar befolgen, So hat die alte Sitte hier vom Ahn Zum Enkel unverändert fort beſtanden, Nicht tragen ſie verwegne Neuerung Im altgewohnten gleichen Gang des Lebens. — Die harten Hände reichten ſie mir dar, Von den Wänden langten ſie die roſt'gen Schwerter, Und aus den Augen blitzte freudiges Gefühl des Muts, als ich die Namen nannte, Die im Gebirg dem Landmann heilig ſind, Den Eurigen und Walter Fürſts — Was Euch Recht würde dünken, ſchwuren ſie zu tun, Euch ſchwuren ſie bis in den Tod zu folgen. — So eilt' ich ſicher unterm heil'gen Schirm Des Gaſtrechts von Gehöfte zu Gehöfte — Und als ich kam ins heimatliche Tal, Wo mir die Vettern viel verbreitet wohnen — Als ich den Vater fand, beraubt und blind, Auf fremdem Stroh, von der Barmherzigkeit Mildtät'ger Menſchen lebend — Stauffacher. Herr im Himmel! Melchtal. Da weint' ich nicht! Nicht in ohnmächt'gen Tränen Goß ich die Kraft des heißen Schmerzens aus, 174 Wilhelm Tell 1040 In tiefer Bruſt, wie einen teuren Schatz, Verſchloß ich ihn und dachte nur auf Taten. Ich kroch durch alle Krümmen des Gebirgs, Kein Tal war ſo verſteckt, ich ſpäht' es aus; Bis an der Gletſcher eisbedeckten Fuß 1045 Erwartet' ich und fand bewohnte Hütten, Und überall, wohin mein Fuß mich trug, Fand ich den gleichen Haß der Tyrannei, Denn bis an dieſe letzte Grenze ſelbſt Belebter Schöpfung, wo der ſtarre Boden 100 Aufhört zu geben, raubt der Vögte Geiz — Die Herzen alle dieſes biedern Volks Erregt' ich mit dem Stachel meiner Worte, Und unſer ſind ſie all mit Herz und Mund. Stauffacher. Großes habt Ihr in kurzer Friſt geleiſtet. Melchtal. 106 Ich tat noch mehr. Die beiden Feſten ſind's, Roßberg und Sarnen, die der Landmann fürchtet, Denn hinter ihren Felſenwällen ſchirmt Der Feind ſich leicht und ſchädiget das Land. Mit eignen Augen wollt' ich es erkunden, 100 Ich war zu Sarnen und beſah die Burg. Stauffacher. Ihr wagtet Euch bis in des Tigers Höhle? Melchtal. Ich war verkleidet dort in Pilgerstracht, Ich ſah den Landvogt an der Tafel ſchwelgen — Urteilt, ob ich mein Herz bezwingen kann: 10s Ich ſah den Feind, und ich erſchlug ihn nicht. 1070 1075 1080 1085 Zweiter Aufzug. 2. Szene 175 Stauffacher. Fürwahr, das Glück war Eurer Kühnheit hold. (Unterdeſſen ſind die andern Landleute vorwärts gekommen und nähern ſich den beiden.) Doch jetzo ſagt mir, wer die Freunde ſind Und die gerechten Männer, die Euch folgten? Macht mich bekannt mit ihnen, daß wir uns Zutraulich nahen und die Herzen öffnen. Meier. Wer kennte Euch nicht, Herr, in den drei Landen? Ich bin der Mei'r von Sarnen, dies hier iſt Mein Schweſterſohn, der Struth von Winkelried. Stauffacher. Ihr nennt mir keinen unbekannten Namen. Ein Winkelried war's, der den Drachen ſchlug Im Sumpf bei Weiler und ſein Leben ließ In dieſem Strauß. Winkelried. Das war mein Ahn, Herr Werner. Melchtal (zeigt auf zwei Landleute). Die wohnen hinterm Wald, ſind Kloſterleute Vom Engelberg — Ihr werdet ſie drum nicht Verachten, weil ſie eigne Leute ſind Und nicht, wie wir, frei ſitzen auf dem Erbe — Sie lieben 's Land, ſind ſonſt auch wohl berufen. Stauffacher (zu den beiden). Gebt mir die Hand. Es preiſe ſich, wer keinem Mit ſeinem Leibe pflichtig iſt auf Erden, Doch Redlichkeit gedeiht in jedem Stande. Konrad Hunn, Das iſt Herr Reding, unſer Altlandammann. 176 Wilhelm Tell Meier. Ich kenn' ihn wohl. Er iſt mein Widerpart, Der um ein altes Erbſtück mit mir rechtet. — Herr Reding, wir ſind Feinde vor Gericht, 100 Hier ſind wir einig. (Schüttelt ihm die Hand.) Stauffacher. Das iſt brav geſprochen. Winkelried. Hört ihr? Sie kommen. Hört das Horn von Uri! (Rechts und links ſieht man bewaffnete Männer mit Windlichtern die Felſen herabſteigen.) Auf der Mauer. Seht! Steigt nicht ſelbſt der fromme Diener Gottes, Der würd'ge Pfarrer, mit herab? Nicht ſcheut er Des Weges Mühen und das Graun der Nacht, 1095 Ein treuer Hirte für das Volk zu ſorgen. Baumgarten, Der Sigriſt folgt ihm und Herr Walter Fürſt, Doch nicht den Tell erblick' ich in der Menge. Walter Fürſt, Röſſelmann der Pfarrer, Petermann der Sigrift, Kuoni der Hirt, Werni der Jäger, Ruodi der Fiſcher und noch fünf andere Landleute; alle zuſammen, dreiunddreißig an der Zahl, treten vorwärts und ſtellen ſich um das Feuer. Walter Fürſt. So müſſen wir auf unſerm eignen Erb' Und väterlichen Boden uns verſtohlen 1100 Zuſammen ſchleichen, wie die Mörder tun, Und bei der Nacht, die ihren ſchwarzen Mantel Nur dem Verbrechen und der ſonnenſcheuen Verſchwörung leihet, unſer gutes Recht Uns holen, das doch lauter iſt und klar, 1105 Gleichwie der glanzvoll offne Schoß des Tages. Zweiter Aufzug. 2. Szene 177 Melchtal. Laßt's gut ſein. Was die dunkle Nacht geſponnen, Soll frei und fröhlich an das Licht der Sonnen. Röſſelmann. Hört, was mir Gott ins Herz gibt, Eidgenoſſen! Wir ſtehen hier ſtatt einer Landsgemeinde 1110 Und können gelten für ein ganzes Volk: So laßt uns tagen nach den alten Bräuchen Des Lands, wie wir's in ruhigen Zeiten pflegen; Was ungeſetzlich iſt in der Verſammlung, Entſchuldige die Not der Zeit. Doch Gott 1116 Iſt überall, wo man das Recht verwaltet, Und unter ſeinem Himmel ſtehen wir. Stauffacher. Wohl, laßt uns tagen nach der alten Sitte; Iſt es gleich Nacht, ſo leuchtet unſer Recht. Melchtal. wit gleich die Zahl nicht voll, das Herz iſt hier 1120 Des ganzen Volks, die Beſten ſind zugegen. Konrad Hunn. Sind auch die alten Bücher nicht zur Hand, Sie ſind in unſre Herzen eingeſchrieben. Nöſſelmann. Wohlan, ſo ſei der Ring ſogleich gebildet, Man pflanze auf die Schwerter der Gewalt. Auf der Mauer. 1125 Der Landesammann nehme ſeinen Platz, Und ſeine Weibel ſtehen ihm zur Seite! Sigriſt. Es ſind der Völker dreie. Welchem nun Gebührt's, das Haupt zu geben der Gemeinde? Schillers Werke. VII. 12 178 Wilhelm Tell Meier. Um dieſe Ehr' mag Schwyz mit Uri ſtreiten, 1130 Wir Unterwaldner ſtehen frei zurück. Melchtal. Wir ſtehn zurück, wir ſind die Flehenden, Die Hilfe heiſchen von den mächt'gen Freunden. Stauffacher. So nehme Uri denn das Schwert, ſein Banner Zieht bei den Römerzügen uns voran. Walter Fürſt. 1135 Des Schwertes Ehre werde Schwyz zu teil, Denn ſeines Stammes rühmen wir uns alle. Nöſſelmann. Den edeln Wettſtreit laßt mich freundlich ſchlichten: Schwyz ſoll im Rat, Uri im Felde führen. Walter Fürſt (reicht dem Stauffacher die Schwerter). So nehmt! Stauffacher. Nicht mir, dem Alter ſei die Ehre. Im Hofe. 1140 Die meiſten Jahre zählt Ulrich der Schmied. Auf der Mauer. Der Mann iſt wacker, doch nicht freien Stands, Kein eigner Mann kann Richter ſein in Schwyz. Stauffacher. Steht nicht Herr Reding hier, der Altlandammann? Was ſuchen wir noch einen Würdigern? 1145 1150 1155 1160 1165 Zweiter Aufzug. 2. Szene 179 Walter Fürſt. Er ſei der Ammann und des Tages Haupt! Wer dazu ſtimmt, erhebe ſeine Hände. (Alle heben die rechte Hand auf.) Reding (tritt in die Mitte). Ich kann die Hand nicht auf die Bücher legen, So ſchwör' ich droben bei den ew'gen Sternen, Daß ich mich nimmer will vom Recht entfernen. (Man richtet die zwei Schwerter vor ihm auf, der Ring bildet ſich um ihn her, Schwyz hält die Mitte, rechts ſtellt ſich uri und links Unterwalden. Er ſteht auf ſein Schlachtſchwert geſtützt.) Was iſt's, das die drei Völker des Gebirgs Hier an des Sees unwirtlichem Geſtade Zuſammenführte in der Geiſterſtunde? Was ſoll der Inhalt ſein des neuen Bunds, Den wir hier unterm Sternenhimmel ſtiften? Stauffacher (tritt in den Ring). Wir ſtiften keinen neuen Bund, es iſt Ein uralt Bündnis nur von Väter Zeit, Das wir erneuern! Wiſſet, Eidgenoſſen! Ob uns der See, ob uns die Berge ſcheiden Und jedes Volk ſich für ſich ſelbſt regiert, So ſind wir eines Stammes doch und Bluts, Und eine Heimat iſt's, aus der wir zogen. Winkelried. So iſt es wahr, wie's in den Liedern lautet, Daß wir von fernher in das Land gewallt? O teilt's uns mit, was Euch davon bekannt, Daß ſich der neue Bund am alten ſtärke. Stauffacher. Hört, was die alten Hirten ſich erzählen. — Es war ein großes Volk, hinten im Lande Nach Mitternacht, das litt von ſchwerer Teurung. In dieſer Not beſchloß die Landsgemeinde, 1170 1176 1180 1185 1190 1196 1200 180 Wilhelm Tell Daß je der zehnte Bürger nach dem Los Der Väter Land verlaſſe — das geſchah. Und zogen aus, wehklagend, Männer und Weiber, Ein großer Heerzug, nach der Mittagſonne, Mit dem Schwert ſich ſchlagend durch das deutſche Land, Bis an das Hochland dieſer Waldgebirge. Und eher nicht ermüdete der Zug, Bis daß ſie kamen in das wilde Tal, Wo jetzt die Muotta zwiſchen Wieſen rinnt — Nicht Menſchenſpuren waren hier zu ſehen, Nur eine Hütte ſtand am Ufer einſam, Da ſaß ein Mann und wartete der Fähre — Doch heftig wogete der See und war Nicht fahrbar; da beſahen ſie das Land Sich näher und gewahrten ſchöne Fülle Des Holzes und entdeckten gute Brunnen Und meinten, ſich im lieben Vaterland Zu finden — Da beſchloſſen ſie zu bleiben, Erbaueten den alten Flecken Schwyz Und hatten manchen ſauren Tag, den Wald Mit weitverſchlungnen Wurzeln auszuroden — Drauf, als der Boden nicht mehr Gnügen tat Der Zahl des Volks, da zogen ſie hinüber Zum ſchwarzen Berg, ja bis ans Weißland hin, Wo, hinter ew'gem Eiſeswall verborgen, Ein andres Volk in andern Zungen ſpricht. Den Flecken Stanz erbauten ſie am Kernwald, Den Flecken Altdorf in dem Tal der Reuß — Doch blieben jie des Urſprungs ſtets gedenk; Aus all den fremden Stämmen, die ſeitdem In Mitte ihres Lands ſich angeſiedelt, Finden die Schwyzer Männer ſich heraus, Es gibt das Herz, das Blut ſich zu erkennen. (Reicht rechts und links die Hand hin.) 1205 1210 1215 1220 1225 Zweiter Aufzug. 2. Szene Auf der Mauer. Ja, wir ſind eines Herzens, eines Bluts! Alle (ſich die Hände reichend). 181 Wir ſind ein Volk, und einig wollen wir handeln. Stauffacher. Die andern Völker tragen fremdes Joch, Sie haben ſich dem Sieger unterworfen. Es leben ſelbſt in unſern Landesmarken Der Saſſen viel, die fremde Pflichten tragen, Und ihre Knechtſchaft erbt auf ihre Kinder. Doch wir, der alten Schweizer echter Stamm, Wir haben ſtets die Freiheit uns bewahrt. Nicht unter Fürſten bogen wir das Knie, Freiwillig wählten wir den Schirm der Kaiſer. Nöſſelmann. Frei wählten wir des Reiches Schutz und Schirm, So ſteht's bemerkt in Kaiſer Friedrichs Brief. Stauffacher. Denn herrenlos iſt auch der Freiſte nicht. Ein Oberhaupt muß ſein, ein höchſter Richter, Wo man das Recht mag ſchöpfen in dem Streit. Drum haben unſre Väter für den Boden, Den ſie der alten Wildnis abgewonnen, Die Ehr' gegönnt dem Kaiſer, der den Herrn Sich nennt der deutſchen und der welſchen Erde, Und, wie die andern Freien ſeines Reichs, Sich ihm zu edelm Waffendienſt gelobt: Denn dieſes iſt der Freien einz'ge Pflicht, Das Reich zu ſchirmen, das ſie ſelbſt beſchirmt. Melchtal. Was drüber iſt, iſt Merkmal eines Knechts. 1230 1235 1240 1245 1250 1255 2 Wilhelm Tell Stauffacher. Sie folgten, wenn der Heribann erging, Dem Reichspanier und ſchlugen ſeine Schlachten. Nach Welſchland zogen ſie gewappnet mit, Die Römerkron' ihm auf das Haupt zu ſetzen. Daheim regierten ſie ſich fröhlich ſelbſt Nach altem Brauch und eigenem Geſetz, Der höchſte Blutbann war allein des Kaiſers. Und dazu ward beſtellt ein großer Graf, Der hatte ſeinen Sitz nicht in dem Lande; Wenn Blutſchuld kam, ſo rief man ihn herein, Und unter offnem Himmel, ſchlicht und klar, Sprach er das Recht und ohne Furcht der Menſchen. Wo ſind hier Spuren, daß wir Knechte ſind? Iſt einer, der es anders weiß, der rede! Im Hofe. Nein, ſo verhält ſich alles, wie Ihr ſprecht, Gewaltherrſchaft ward nie bei uns geduldet. Stauffacher. Dem Kaiſer ſelbſt verſagten wir Gehorſam, Da er das Recht zu Gunſt der Pfaffen bog. Denn als die Leute von dem Gotteshaus Einſiedeln uns die Alp in Anſpruch nahmen, Die wir beweidet ſeit der Väter Zeit, Der Abt herfürzog einen alten Brief, Der ihm die herrenloſe Wüſte ſchenkte — Denn unſer Daſein hatte man verhehlt — Da ſprachen wir: „Erſchlichen iſt der Brief! Kein Kaiſer kann, was unſer iſt, verſchenken. Und wird uns Recht verſagt vom Reich, wir können In unſern Bergen auch des Reichs entbehren.“ — So ſprachen unſre Väter! Sollen wir Des neuen Joches Schändlichkeit erdulden, 1260 1265 1270 1275 1280 1285 Zweiter Aufzug. 2. Szene Erleiden von dem fremden Knecht, was uns In ſeiner Macht kein Kaiſer durfte bieten? — Wir haben dieſen Boden uns erſchaffen Durch unſrer Hände Fleiß, den alten Wald, Der ſonſt der Bären wilde Wohnung war, Zu einem Sitz für Menſchen umgewandelt, Die Brut des Drachen haben wir getötet, Der aus den Sümpfen giftgeſchwollen ſtieg, Die Nebeldecke haben wir zerriſſen, Die ewig grau um dieſe Wildnis hing, Den harten Fels geſprengt, über den Abgrund Dem Wandersmann den ſichern Steg geleitet; Unſer iſt durch tauſendjährigen Beſitz Der Boden — und der fremde Herrenknecht Soll kommen dürfen und uns Ketten ſchmieden Und Schmach antun auf unſrer eignen Erde? Iſt keine Hilfe gegen ſolchen Drang? (Eine große Bewegung unter den Landleuten.) Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht: Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Laſt — greift er Hinauf getroſten Mutes in den Himmel Und holt herunter ſeine ew'gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich, wie die Sterne ſelbſt — Der alte Urſtand der Natur kehrt wieder, Wo Menſch dem Menſchen gegenüberſteht — Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, iſt ihm das Schwert gegeben — Der Güter höchſtes dürfen wir verteid'gen Gegen Gewalt — Wir ſtehn vor unſer Land, Wir ſtehn vor unſre Weiber, unſre Kinder! Alle (an ihre Schwerter ſchlagend). Wir ſtehn vor unſre Weiber, unſre Kinder! 183 184 Wilhelm Tell Riffelmann (tritt in den Ring). 120 Eh' ihr zum Schwerte greift, bedenkt es wohl. Ihr könnt es friedlich mit dem Kaiſer ſchlichten. Es koſtet euch ein Wort, und die Tyrannen, Die euch jetzt ſchwer bedrängen, ſchmeicheln euch. — Ergreift, was man euch oft geboten hat, 125 Trennt euch vom Reich, erkennet Oſtreichs Hoheit — Auf der Mauer. Was ſagt der Pfarrer? Wir zu Oftreich ſchwören! a Am Bühel. Hört ihn nicht an! Winkelried. Das rät uns ein Verräter, Ein Feind des Landes! Reding. Ruhig, Eidgenoſſen! Sewn. Wir Oſtreich huldigen, nach folder Schmach! Von der Elüe. 1300 Wir uns abtrotzen laſſen durch Gewalt, Was wir der Güte weigerten! Meier. Dann wären Wir Sklaven und verdienten, es zu ſein! Auf der Mauer. Der ſei geſtoßen aus dem Recht der Schweizer, Wer von Ergebung ſpricht an Sſterreich! 1366 — Landammann, ich beſtehe drauf, dies fei Das erſte Landsgeſetz, das wir hier geben. 1310 1315 1320 1325 Zweiter Aufzug. 2. Szene 185 Melchtal. So ſei's. Wer von Ergebung ſpricht an Oſtreich, Soll rechtlos ſein und aller Ehren bar, Kein Landmann nehm' ihn auf an ſeinem Feuer. Alle (heben die rechte Hand auf). Wir wollen es, das ſei Geſetz! Reding (nach einer Pauſe). Es ift’s. Nöſſelmann. Jetzt ſeid ihr frei, ihr ſeid's durch dies Geſetz. Nicht durch Gewalt ſoll Oſterreich ertrotzen, Was es durch freundlich Werben nicht erhielt — Joſt von Weiler. Zur Tagesordnung, weiter. Reding. Eidgenoſſen! Sind alle ſanften Mittel auch verſucht? Vielleicht weiß es der König nicht, es iſt Wohl gar ſein Wille nicht, was wir erdulden. Auch dieſes letzte ſollten wir verſuchen, Erſt unſre Klage bringen vor ſein Ohr, Eh' wir zum Schwerte greifen. Schrecklich immer, Auch in gerechter Sache, iſt Gewalt; Gott hilft nur dann, wenn Menſchen nicht mehr helfen. Stauffacher (zu Konrad Hunn). Nun iſt's an Euch, Bericht zu geben. Redet. Konrad Hunn. Ich war zu Rheinfeld an des Kaiſers Pfalz, Wider der Vögte harten Druck zu klagen, Den Brief zu holen unſrer alten Freiheit, 186 Wilhelm Tell Den jeder neue König ſonſt beſtätigt. Die Boten vieler Städte fand ich dort, Vom ſchwäb'ſchen Lande und vom Lauf des Rheins, 1330 Die all' erhielten ihre Pergamente Und kehrten freudig wieder in ihr Land. Mich, euren Boten, wies man an die Räte, Und die entließen mich mit leerem Troſt: Der Kaiſer habe diesmal keine Zeit, 1335 Er würde ſonſt einmal wohl an uns denken. — Und als ich traurig durch die Säle ging Der Königsburg, da ſah ich Herzog Hanſen In einem Erker weinend ſtehn, um ihn Die edlen Herrn von Wart und Tegerfeld. 1340 Die riefen mir und ſagten: „Helft euch ſelbſt, Gerechtigkeit erwartet nicht vom König. Beraubt er nicht des eignen Bruders Kind Und hinterhält ihm ſein gerechtes Erbe? Der Herzog fleht' ihn um ſein Mütterliches, 1345 Er habe ſeine Jahre voll, es wäre Nun Zeit, auch Land und Leute zu regieren. Was ward ihm zum Beſcheid? Ein Kränzlein ſetzt' ihm Der Kaiſer auf: das ſei die Zier der Jugend.“ Auf der Mauer. Ihr habt's gehört. Recht und Gerechtigkeit 1350 Erwartet nicht vom Kaiſer! Helft euch ſelbſt! Reding. Nichts andres bleibt uns übrig. Nun gebt Rat, Wie wir es klug zum frohen Ende leiten. Walter Fürſt (tritt in den Ring). Abtreiben wollen wir verhaßten Zwang, Die alten Rechte, wie wir ſie ererbt 1386 Von unſern Vätern, wollen wir bewahren, 1360 1365 1370 1375 Zweiter Aufzug. 2. Szene Nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen. Dem Kaiſer bleibe, was des Kaiſers iſt, Wer einen Herrn hat, dien' ihm pflichtgemäß. Meier. Ich trage Gut von Ofterveich zu Lehen. Walter Fürſt. Ihr fahret fort, Oſtreich die Pflicht zu leiſten. Joſt von Weiler. Ich ſteure an die Herrn von Rappersweil. Walter Fürſt. Ihr fahret fort, zu zinſen und zu ſteuern. Nöſſelmann. Der großen Frau zu Zürch bin ich vereidet. Walter Fürſt. Ihr gebt dem Kloſter, was des Kloſters ijt. Stauffacher. Ich trage keine Lehen, als des Reichs. Walter Fürſt. Was ſein muß, das geſchehe, doch nicht drüber. Die Vögte wollen wir mit ihren Knechten Verjagen und die feſten Schlöſſer brechen, Doch, wenn es ſein mag, ohne Blut. Es ſehe Der Kaiſer, daß wir notgedrungen nur Der Ehrfurcht fromme Pflichten abgeworfen. Und ſieht er uns in unſern Schranken bleiben, Vielleicht beſiegt er ſtaatsklug ſeinen Zorn, Denn bill'ge Furcht erwecket ſich ein Volk, 187 Das mit dem Schwerte in der Fauſt ſich mäßigt. 1380 1385 1390 188 Wilhelm Tell Reding. Doch laſſet hören! Wie vollenden wir's? Es hat der Feind die Waffen in der Hand, Und nicht fürwahr in Frieden wird er weichen. Stauffacher. Er wird's, wenn er in Waffen uns erblickt, Wir überraſchen ihn, eh' er ſich rüſtet. Meier. Iſt bald geſprochen, aber ſchwer getan. Uns ragen in dem Land zwei feſte Schlöſſer, Die geben Schirm dem Feind und werden furchtbar, Wenn uns der König in das Land ſollt' fallen. Roßberg und Sarnen muß bezwungen ſein, Eh' man ein Schwert erhebt in den drei Landen. Stauffacher. Säumt man ſo lang', ſo wird der Feind gewarnt, Zu viele ſind's, die das Geheimnis teilen. Meier. In den Waldſtätten find't ſich kein Verräter. Nöſſelmann. Der Eifer auch, der gute, kann verraten. Walter Fürſt. Schiebt man es auf, ſo wird der Twing vollendet In Altdorf, und der Vogt befeſtigt ſich. Meier. Ihr denkt an euch. Sigriſt. Und ihr ſeid ungerecht. 1395 1400 1405 1410 1415 Zweiter Aufzug. 2. Szene 189 Meier (auffahrend). Wir ungerecht! Das darf uns Uri bieten! Reding. Bei eurem Eide! Ruh! Meier. Ja, wenn ſich Schwyz Verſteht mit Uri, müſſen wir wohl ſchweigen. Reding. Ich muß euch weiſen vor der Landsgemeinde, Daß ihr mit heft'gem Sinn den Frieden ſtört! Stehn wir nicht alle für dieſelbe Sache? Winkelried. Wenn wir's verſchieben bis zum Feſt des Herrn, Dann bringt's die Sitte mit, daß alle Saſſen Dem Vogt Geſchenke bringen auf das Schloß; So können zehen Männer oder zwölf Sich unverdächtig in der Burg verſammeln, Die führen heimlich ſpitz'ge Eiſen mit, Die man geſchwind kann an die Stübe ſtecken, Denn niemand kommt mit Waffen in die Burg. Zunächſt im Wald hält dann der große Haufe, Und wenn die andern glücklich ſich des Tors Ermächtiget, ſo wird ein Horn geblaſen, Und jene brechen aus dem Hinterhalt. So wird das Schloß mit leichter Arbeit unſer. Melchtal. Den Roßberg übernehm' ich zu erſteigen, Denn eine Dirn' des Schloſſes iſt mir hold, Und leicht betör' ich ſie, zum nächtlichen Beſuch die ſchwanke Leiter mir zu reichen — Bin ich droben erſt, zieh' ich die Freunde nach. 190 Wilhelm Tell Reding. Iſt's aller Wille, daß verſchoben werde? (Die Mehrheit erhebt die Hand.) Stauffacher (zählt die Stimmen). Es iſt ein Mehr von zwanzig gegen zwölf! Walter Fürſt. 1420 Wenn am beſtimmten Tag die Burgen fallen, So geben wir von einem Berg zum andern Das Zeichen mit dem Rauch, der Landſturm wird Aufgeboten, ſchnell, im Hauptort jedes Landes; Wenn dann die Vögte ſehn der Waffen Ernſt, 1428s Glaubt mir, fie werden ſich des Streits begeben Und gern ergreifen friedliches Geleit, Aus unſern Landesmarken zu entweichen. Stauffacher. Nur mit dem Geßler fürcht' ich ſchweren Stand: Furchtbar iſt er mit Reiſigen umgeben, 1430 Nicht ohne Blut räumt er das Feld, ja ſelbſt Vertrieben bleibt er furchtbar noch dem Land; Schwer iſt's und faſt gefährlich, ihn zu ſchonen. Baumgarten. Wo's halsgefährlich iſt, da ſtellt mich hin! Dem Tell verdank' ich mein gerettet Leben, 1436 Gern ſchlag' ich's in die Schanze für das Land: Mein' Ehr' hab' ich beſchützt, mein Herz befriedigt. Reding. Die Zeit bringt Rat. Erwartet's in Geduld. Man muß dem Augenblick auch was vertrauen. — Doch ſeht, indes wir nächtlich hier noch tagen, 1440 Stellt auf den höchſten Bergen ſchon der Morgen Die glühnde Hochwacht aus — Kommt, laßt uns ſcheiden, Eh' uns des Tages Leuchten überraſcht. Zweiter Aufzug. 2. Szene 191 Walter Fürſt. Sorgt nicht, die Nacht weicht langſam aus den Tälern. (Alle haben unwillkürlich die Hüte abgenommen und betrachten mit ſtiller Sammlung die Morgenröte.) Nöſſelmann. Bei dieſem Licht, das uns zuerſt begrüßt 1445 Von allen Völkern, die tief unter uns Schwer atmend wohnen in dem Qualm der Städte, Laßt uns den Eid des neuen Bundes ſchwören. — Wir wollen ſein ein einzig Volk von Brüdern, In keiner Not uns trennen und Gefahr. (Alle ſprechen es nach mit erhobenen drei Fingern.) 1450 — Wir wollen frei fein, wie die Väter waren, Eher den Tod, als in der Knechtſchaft leben. (Wie oben.) — Wir wollen trauen auf den höchſten Gott Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menſchen. (Wie oben. Die Landleute umarmen einander.) Stauffacher. Jetzt gehe jeder ſeines Weges ſtill 1458 Zu ſeiner Freundſchaft und Genoßſame, Wer Hirt iſt, wintre ruhig ſeine Herde Und werb' im Stillen Freunde für den Bund. — Was noch bis dahin muß erduldet werden, Erduldet's! Laßt die Rechnung der Tyrannen 1460 Anwachſen, bis ein Tag die allgemeine Und die beſondre Schuld auf einmal zahlt. Bezähme jeder die gerechte Wut Und ſpare für das Ganze ſeine Rache: Denn Raub begeht am allgemeinen Gut, 1465 Wer ſelbſt ſich hilft in ſeiner eignen Sache. (Indem ſie zu drei verſchiedenen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orcheſter mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Szene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauſpiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen.) 192 Wilhelm Tell Dritter Aufzug 1. Szene Hof vor Tells Hauſe. Tell iſt mit der Zimmeraxt, Hedwig mit einer häuslichen Arbeit be⸗ ſchäftigt. Walter und Wilhelm in der Tiefe ſpielen mit einer kleinen Armbruſt. Walter (fingt). Mit dem Pfeil, dem Bogen, Durch Gebirg und Tal Kommt der Schütz gezogen Früh am Morgenſtrahl. 147⁰ Wie im Reich der Lüfte König iſt der Weih — Durch Gebirg und Klüfte Herrſcht der Schütze frei. Ihm gehört das Weite, 1478 Was ſein Pfeil erreicht, Das iſt ſeine Beute, Was da kreucht und fleugt. (Kommt geſprungen.) Der Strang iſt mir entzwei. Mach' mir ihn, Vater. Tell. Ich nicht. Ein rechter Schütze hilft ſich ſelbſt. (Knaben entfernen ſich.) Hedwig. 1480 Die Knaben fangen zeitig an, zu ſchießen. Tell. Früh übt ſich, was ein Meiſter werden will. 1485 1490 1495 1500 1505 Dritter Aufzug. 1. Szene 193 Hedwig. Ach wollte Gott, ſie lernten's nie! Tell. Sie ſollen alles lernen. Wer durchs Leben Sich friſch will ſchlagen, muß zu Schutz und Trutz Gerüſtet ſein. Hedwig. Ach, es wird keiner ſeine Ruh Zu Hauſe finden. Tell. Mutter, ich kann's auch nicht; Zum Hirten hat Natur mich nicht gebildet, Raſtlos muß ich ein flüchtig Ziel verfolgen. Dann erſt genieß' ich meines Lebens recht, Wenn ich mir's jeden Tag aufs neu' erbeute. Hedwig. Und an die Angſt der Hausfrau denkſt du nicht, Die ſich indeſſen, deiner wartend, härmt; Denn mich erfüllt's mit Grauſen, was die Knechte Von euren Wagefahrten ſich erzählen. Bei jedem Abſchied zittert mir das Herz, Daß du mir nimmer werdeſt wiederkehren. Ich ſehe dich im wilden Eisgebirg, Verirrt, von einer Klippe zu der andern Den Fehlſprung tun, ſeh', wie die Gemſe dich Rückſpringend mit ſich in den Abgrund reißt, Wie eine Windlawine dich verſchüttet, Wie unter dir der trügeriſche Firn Einbricht und du hinabſinkſt, ein lebendig Begrabner, in die ſchauerliche Gruft — Ach, den verwegnen Alpenjäger haſcht Der Tod in hundert wechſelnden Geſtalten; Schillers Werke. VII. 13 1510 1515 1520 194 Wilhelm Tell Das iſt ein unglückſeliges Gewerb, Das halsgefährlich führt am Abgrund hin! Tell. Wer friſch umherſpäht mit geſunden Sinnen, Auf Gott vertraut und die gelenke Kraft, Der ringt ſich leicht aus jeder Fahr und Not: Den ſchreckt der Berg nicht, der darauf geboren. (Er hat ſeine Arbeit vollendet, legt das Gerät hinweg.) Jetzt, mein' ich, hält das Tor auf Jahr und Tag. Die Axt im Haus erſpart den Zimmermann. (Nimmt den Hut.) Hedwig. Wo gehſt du hin? Tell. Nach Altdorf, zu dem Vater. Hedwig. Sinnſt du auch nichts Gefährliches? Geſteh mir's. Tell. Wie kommſt du darauf, Frau? Hedwig. Es ſpinnt ſich etwas Gegen die Vögte — Auf dem Rütli ward Getagt, ich weiß, und du biſt auch im Bunde. Tell. Ich war nicht mit dabei — doch werd' ich mich Dem Lande nicht entziehen, wenn es ruft. Hedwig. Sie werden dich hinſtellen, wo Gefahr iſt, Das Schwerſte wird dein Anteil ſein, wie immer. Tell. Ein jeder wird beſteuert nach Vermögen. 1625 1530 1535 Dritter Aufzug. 1. Szene 195 Hedwig. Den Unterwaldner haſt du auch im Sturme Über den See geſchafft — Ein Wunder war's, Daß ihr entkommen — Dachteſt du denn gar nicht An Kind und Weib? Tell. Lieb Weib, ich dacht' an euch, Drum rettet' ich den Vater ſeinen Kindern. Hedwig. Zu ſchiffen in dem wüt'gen See! Das heißt Nicht Gott vertrauen! Das heißt Gott verſuchen. Tell. Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leiſten. Hedwig. Ja, du biſt gut und hilfreich, dieneſt allen, Und wenn du ſelbſt in Not kommſt, hilft dir keiner. Tell. Verhüt' es Gott, daß ich nicht Hilfe brauche. (Er nimmt die Armbruſt und Pfeile.) Hedwig. Was willſt du mit der Armbruſt? Laß ſie hier. Tell. Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt. (Die Knaben kommen zurück.) Walter. Vater, wo gehſt du hin? Tell. Nach Altdorf, Knabe, Zum Ehni — Willſt du mit? 1545 1555 196 Wilhelm Tell Walter. Ja freilich will ich. Hedwig. Der Landvogt iſt jetzt dort. Bleib weg von Altdorf. Tell. Er geht, noch heute. Hedwig. Drum laß ihn erſt fortſein. Gemahn' ihn nicht an dich, du weißt, er grollt uns. Tell. Mir ſoll ſein böſer Wille nicht viel ſchaden, Ich tue Recht und ſcheue keinen Feind. Hedwig. Die Recht tun, eben die haßt er am meiſten. Tell. Weil er nicht an ſie kommen kann — Mich wird Der Ritter wohl in Frieden laſſen, mein' ich. Hedwig. So, weißt du das? Tell. Es iſt nicht lange her, Da ging ich jagen durch die wilden Gründe Des Schächentals auf menſchenleerer Spur, Und da ich einſam einen Felſenſteig Verfolgte, wo nicht auszuweichen war, Denn über mir hing ſchroff die Felswand her, Und unten rauſchte fürchterlich der Schächen — (Die Knaben drängen ſich rechts und links an ihn und ſehen mit ge— ſpannter Neugier an ihm hinauf.) Da kam der Landvogt gegen mich daher, Er ganz allein mit mir, der auch allein war, Bloß Menſch zu Menſch, und neben uns der Abgrund. 1560 1565 1570 1575 Dritter Aufzug. 1. Szene 197 Und als der Herre mein anſichtig ward Und mich erkannte, den er kurz zuvor Um kleiner Urſach' willen ſchwer gebüßt, Und ſah mich mit dem ſtattlichen Gewehr Daher geſchritten kommen, da verblaßt' er, Die Knie verſagten ihm, ich ſah es kommen, Daß er jetzt an die Felswand würde ſinken. — Da jammerte mich ſein, ich trat zu ihm Beſcheidentlich und ſprach: „Ich bin's, Herr Landvogt.“ Er aber konnte keinen armen Laut Aus ſeinem Munde geben — Mit der Hand nur Winkt' er mir ſchweigend, meines Wegs zu gehn; Da ging ich fort und ſandt' ihm ſein Gefolge. Hedwig. Er hat vor dir gezittert — Wehe dir! Daß du ihn ſchwach geſehn, vergibt er nie. Tell. Drum meid' ich ihn, und er wird mich nicht ſuchen. Hedwig. Bleib heute nur dort weg. Geh lieber jagen. Tell. Was fällt dir ein? Hedwig. Mich ängſtigt's. Bleibe weg. Tell. Wie kannſt du dich ſo ohne Urſach' quälen? Hedwig. Weil's keine Urſach' hat — Tell, bleibe hier. Tell. Ich hab's verſprochen, liebes Weib, zu kommen. 198 Wilhelm Tell Hedwig. Mußt du, fo geh — Nur laſſe mir den Knaben! Walter. 1580 Nein, Mütterchen. Ich gehe mit dem Vater. Hedwig. Wälti, verlaſſen willſt du deine Mutter? Walter. Ich bring' dir auch was Hübſches mit vom Ehni. (Geht mit dem Vater.) Wilhelm. Mutter, ich bleibe bei dir! Hedwig (umarmt ihn). Ja, du biſt Mein liebes Kind, du bleibſt mir noch allein! (Sie geht an das Hoftor und folgt den Abgehenden lange mit den Augen.) 2. Szene Eine eingeſchloſſene wilde Waldgegend, Staubbäche ſtürzen von den Felſen. Berta im Jagdkleid. Gleich darauf Rudenz. Berta. 1886 Er folgt mir. Endlich kann ich mich erklären. Nudenz (tritt raſch ein). Fräulein, jetzt endlich find' ich Euch allein, Abgründe ſchließen rings umher uns ein, In dieſer Wildnis fürcht' ich keinen Zeugen, Vom Herzen wälz' ich dieſes lange Schweigen — Dritter Aufzug. 2. Szene 199 Berta. 1590 Seid Ihr gewiß, daß uns die Jagd nicht folgt? Nudenz. Die Jagd iſt dort hinaus — Jetzt oder nie! Ich muß den teuren Augenblick ergreifen — Entſchieden ſehen muß ich mein Geſchick, Und ſollt' es mich auf ewig von Euch ſcheiden. 1595 — O waffnet Eure güt'gen Blicke nicht Mit dieſer finſtern Strenge — Wer bin ich, Daß ich den kühnen Wunſch zu Euch erhebe? Mich hat der Ruhm noch nicht genannt, ich darf Mich in die Reih' nicht ſtellen mit den Rittern, 1600 Die ſiegberühmt und glänzend Euch umwerben. Nichts hab' ich als mein Herz voll Treu und Liebe — Berta lernſt und ſtreng). Dürft Ihr von Liebe reden und von Treue, Der treulos wird an ſeinen nächſten Pflichten? (Rudenz tritt zurück.) Der Sklave Oſterreichs, der ſich dem Fremdling 1605 Verkauft, dem Unterdrücker ſeines Volks? Nudenz. Von Euch, mein Fräulein, hör' ich dieſen Vorwurf? Wen ſuch' ich denn als Euch auf jener Seite? Berta. Mich denkt Ihr auf der Seite des Verrats Zu finden? Eher wollt' ich meine Hand 1610 Dem Geßler ſelbſt, dem Unterdrücker ſchenken Als dem naturvergeßnen Sohn der Schweiz, Der ſich zu ſeinem Werkzeug machen kann! f RNudenz. O Gott, was muß ich hören! 1615 1625 1630 1635 1640 200 Wilhelm Tell Berta. Wie? Was liegt Dem guten Menſchen näher als die Seinen? Gibt's ſchönre Pflichten für ein edles Herz, Als ein Verteidiger der Unſchuld ſein, Das Recht des Unterdrückten zu beſchirmen? — Die Seele blutet mir um Euer Volk, Ich leide mit ihm, denn ich muß es lieben, Das ſo beſcheiden iſt und doch voll Kraft; Es zieht mein ganzes Herz mich zu ihm hin, Mit jedem Tage lern' ich's mehr verehren. — Ihr aber, den Natur und Ritterpflicht Ihm zum geborenen Beſchützer gaben, Und der's verläßt, der treulos übertritt Zum Feind und Ketten ſchmiedet ſeinem Land, Ihr ſeid's, der mich verletzt und kränkt; ich muß Mein Herz bezwingen, daß ich Euch nicht haſſe. Nudenz. Will ich denn nicht das Beſte meines Volks? Ihm unter Oſtreichs mächt'gem Zepter nicht Den Frieden — Berta. Knechtſchaft wollt Ihr ihm bereiten! Die Freiheit wollt Ihr aus dem letzten Schloß, Das ihr noch auf der Erde blieb, verjagen. Das Volk verſteht ſich beſſer auf ſein Glück, Kein Schein verführt ſein ſicheres Gefühl; Euch haben ſie das Netz ums Haupt geworfen — Rudeny. Berta! Ihr haßt mich, Ihr verachtet mich! . Berta. Tät' ich's, mir wäre beſſer — Aber den Verachtet ſehen und verachtungswert, Den man gern lieben möchte — 1645 1650 1655 1660 Dritter Aufzug. 2. Szene Nudenz. Berta! Berta! Ihr zeiget mir das höchſte Himmelsglück Und ſtürzt mich tief in einem Augenblick. Berta. Nein, nein, das Edle ijt nicht ganz erſtickt 201 In Euch! Es ſchlummert nur, ich will es wecken; Ihr müßt Gewalt ausüben an Euch ſelbſt, Die angeſtammte Tugend zu ertöten, Doch wohl Euch, ſie iſt mächtiger als Ihr, Und trotz Euch ſelber ſeid Ihr gut und edel! Nudenz. Ihr glaubt an mich! O Berta, alles läßt Mich Eure Liebe ſein und werden! Berta. Seid, Wozu die herrliche Natur Euch machte! Erfüllt den Platz, wohin ſie Euch geſtellt, Zu Eurem Volke ſteht und Eurem Lande Und kämpft für Euer heilig Recht. RNudenz. Weh mir! Wie kann ich Euch erringen, Euch beſitzen, Wenn ich der Macht des Kaiſers widerſtrebe? Iſt's der Verwandten mächt'ger Wille nicht, Der über Eure Hand tyranniſch waltet? Berta. In den Waldſtätten liegen meine Güter, Und iſt der Schweizer frei, ſo bin auch ich's. Nudenz. Berta! welch einen Blick tut Ihr mir auf! 202 Wilhelm Tell Berta. Hofft nicht, durch Oſtreichs Gunſt mich zu erringen; Nach meinem Erbe ſtrecken ſie die Hand, Das will man mit dem großen Erb' vereinen. 1665 Dieſelbe Ländergier, die eure Freiheit Verſchlingen will, ſie drohet auch der meinen! — O Freund, zum Opfer bin ich auserſehn, Vielleicht um einen Günſtling zu belohnen — Dort, wo die Falſchheit und die Ränke wohnen, 1670 Hin an den Kaiſerhof will man mich ziehn, Dort harren mein verhaßter Ehe Ketten, Die Liebe nur — die Eure kann mich retten! Rudens. Ihr könntet Euch entſchließen, hier zu leben, In meinem Vaterlande mein zu ſein? 1675 O Berta, all mein Sehnen in das Weite, Was war es, als ein Streben nur nach Euch? Euch ſucht' ich einzig auf dem Weg des Ruhms, Und all mein Ehrgeiz war nur meine Liebe. Könnt Ihr mit mir Euch in dies ſtille Tal 1680 Einſchließen und der Erde Glanz entſagen — O dann iſt meines Strebens Ziel gefunden, Dann mag der Strom der wildbewegten Welt Ans ſichre Ufer dieſer Berge ſchlagen — Kein flüchtiges Verlangen hab' ich mehr 1685 Hinauszuſenden in des Lebens Weiten — Dann mögen dieſe Felſen um uns her Die undurchdringlich feſte Mauer breiten, Und dies verſchloßne ſel'ge Tal allein Zum Himmel offen und gelichtet ſein! Berta. 1690 Jetzt biſt du ganz, wie dich mein ahnend Herz Geträumt, mich hat mein Glaube nicht betrogen! 1695 1700 1705 1710 1715 Dritter Aufzug. 2. Szene 203 Nudenz. Fahr hin, du eitler Wahn, der mich betört! Ich ſoll das Glück in meiner Heimat finden. Hier, wo der Knabe fröhlich aufgeblüht, Wo tauſend Freudeſpuren mich umgeben, Wo alle Quellen mir und Bäume leben, Im Vaterland willſt du die Meine werden! Ach, wohl hab' ich es ſtets geliebt! Ich fühl's, Es fehlte mir zu jedem Glück der Erden Berta. Wo wär' die ſel'ge Inſel aufzufinden, Wenn ſie nicht hier iſt, in der Unſchuld Land? Hier, wo die alte Treue heimiſch wohnt, Wo ſich die Falſchheit noch nicht hingefunden, Da trübt kein Neid die Quelle unſers Glücks, Und ewig hell entfliehen uns die Stunden. — Da ſeh' ich dich im echten Männerwert, Den Erſten von den Freien und den Gleichen, Mit reiner freier Huldigung verehrt, Groß, wie ein König wirkt in ſeinen Reichen. Rudenz. Da ſeh' ich dich, die Krone aller Frauen, In weiblich reizender Geſchäftigkeit, In meinem Haus den Himmel mir erbauen Und, wie der Frühling ſeine Blumen ſtreut, Mit ſchöner Anmut mir das Leben ſchmücken Und alles rings beleben und beglücken! Berta. Sieh, teurer Freund, warum ich trauerte, Als ich dies höchſte Lebensglück dich ſelbſt Zerſtören ſah — Weh mir! Wie ſtünd's um mich, Wenn ich dem ſtolzen Ritter müßte folgen, 1720 1725 1730 1735 204 Wilhelm Tell Dem Landbedrücker, auf ſein finſtres Schloß! — Hier iſt kein Schloß. Mich ſcheiden keine Mauern Von einem Volk, das ich beglücken kann! Nudenz. Doch wie mich retten — wie die Schlinge löſen, Die ich mir törigt ſelbſt ums Haupt gelegt? Berta. Zerreiße ſie mit männlichem Entſchluß! Was auch draus werde — Steh zu deinem Volk! Es iſt dein angeborner Platz. (Jagdhörner in der Ferne.) Die Jagd Kommt näher — Fort, wir müſſen ſcheiden — Kämpfe Fürs Vaterland, du kämpfſt für deine Liebe! Es iſt ein Feind, vor dem wir alle zittern, Und eine Freiheit macht uns alle frei! (Gehen ab.) 3. Szene Wieſe bei Altdorf. Im Vordergrund Bäume, in der Tiefe der Hut auf einer Stange. Der Proſpekt wird begrenzt durch den Bannberg, über welchem ein Schneegebirg emporragt. Frieß hart und Leuthold halten Wache. Frießhart. Wir paſſen auf umſonſt. Es will ſich niemand Heran begeben und dem Hut ſein' Reverenz Erzeigen. 's war doch ſonſt wie Jahrmarkt hier, Jetzt iſt der ganze Anger wie verödet, Seitdem der Popanz auf der Stange hängt. Leuthold. Nur ſchlecht Geſindel läßt ſich ſehn und ſchwingt Uns zum Verdrieße die zerlumpten Mützen. Dritter Aufzug. 3. Szene 205 Was rechte Leute find, die machen lieber i740 Den langen Umweg um den halben Flecken, Eh' ſie den Rücken beugten vor dem Hut. Frießhart. Sie müſſen über dieſen Platz, wenn ſie Vom Rathaus kommen in der Mittagſtunde. Da meint' ich ſchon, 'nen guten Fang zu tun, i745 Denn keiner dachte dran, den Hut zu grüßen. Da ſieht's der Pfaff, der Röſſelmann — kam juſt Von einem Kranken her — und ſtellt ſich hin Mit dem Hochwürdigen, grad' vor die Stange — Der Sigriſt mußte mit dem Glöcklein ſchellen, 1750 Da fielen all' aufs Knie, ich ſelber mit, Und grüßten die Monſtranz, doch nicht den Hut. — Leuthold. Höre, Geſell, es fängt mir an, zu deuchten, Wir ſtehen hier am Pranger vor dem Hut; 's iſt doch ein Schimpf für einen Reitersmann, 1756 Schildwach zu ſtehn vor einem leeren Hut, Und jeder rechte Kerl muß uns verachten. — Die Reverenz zu machen einem Hut, Es iſt doch traun ein närriſcher Befehl! Frießhart. Warum nicht einem leeren, hohlen Hut? 1760 Bückſt du dich doch vor manchem hohlen Schädel. Hildegard, Mechthild und Elsbeth treten auf mit Kindern und ſtellen ſich um die Stange. Teuthold. Und du biſt auch ſo ein dienſtfert'ger Schurke Und brächteſt wackre Leute gern ins Unglück. Mag, wer da will, am Hut vorübergehn, Ich drück' die Augen zu und ſeh' nicht hin. 1765 1770 1775 1780 206 Wilhelm Tell Mechthild. Da hängt der Landvogt — Habt Reſpekt, ihr Buben. Elsbeth. Wollt's Gott, er ging' und ließ' uns ſeinen Hut, Es ſollte drum nicht ſchlechter ſtehn ums Land! Frießhart (verſcheucht fie). Wollt ihr vom Platz! Verwünſchtes Volk der Weiber! Wer fragt nach euch? Schickt eure Männer her, Wenn ſie der Mut ſticht, dem Befehl zu trotzen. (Weiber gehen.) Tell mit der Armbruſt tritt auf, den Knaben an der Hand führend. Sie gehen an dem Hut vorbei gegen die vordere Szene, ohne darauf zu achten. Walter (zeigt nach dem Bannberg). Vater, iſt's wahr, daß auf dem Berge dort Die Bäume bluten, wenn man einen Streich Drauf führte mit der Axt? Tell. Wer ſagt das, Knabe? b Walter. Der Meiſter Hirt erzählt's — Die Bäume ſeien Gebannt, ſagt er, und wer ſie ſchädige, Dem wachſe ſeine Hand heraus zum Grabe. Tell. Die Bäume ſind gebannt, das iſt die Wahrheit. — Siehſt du die Firnen dort, die weißen Hörner, Die hoch bis in den Himmel ſich verlieren? Walter. Das ſind die Gletſcher, die des Nachts ſo donnern Und uns die Schlaglawinen niederſenden. 1785 1790 1795 1800 Dritter Aufzug. 3. Szene 207 Tell. So iſt's, und die Lawinen hätten längſt Den Flecken Altdorf unter ihrer Laſt Verſchüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr ſich dagegen ſtellte. Walter (nach einigem Beſinnen). Gibt's Länder, Vater, wo nicht Berge ſind? Tell. Wenn man hinunter ſteigt von unſern Höhen Und immer tiefer ſteigt, den Strömen nach, Gelangt man in ein großes ebnes Land, Wo die Waldwaſſer nicht mehr brauſend ſchäumen, Die Flüſſe ruhig und gemächlich ziehn; Da ſieht man frei nach allen Himmelsräumen, Das Korn wächſt dort in langen ſchönen Auen, Und wie ein Garten iſt das Land zu ſchauen. Walter. Ei, Vater, warum ſteigen wir denn nicht Geſchwind hinab in dieſes ſchöne Land, Statt daß wir uns hier ängſtigen und plagen? Tell. Das Land iſt ſchön und gütig, wie der Himmel, Doch die's bebauen, ſie genießen nicht Den Segen, den ſie pflanzen. Walter. Wohnen ſie Nicht frei wie du auf ihrem eignen Erbe? Tell. g Das Feld gehört dem Biſchof und dem König. 208 Wilhelm Tell Walter. So dürfen fie doch fret in Wäldern jagen? Tell. Dem Herrn gehört das Wild und das Gefieder. Walter. 1805 Sie dürfen doch frei fiſchen in dem Strom? Tell. Der Strom, das Meer, das Salz gehört dem König. Walter. Wer iſt der König denn, den alle fürchten? Tell. Es iſt der eine, der ſie ſchützt und nährt. Walter. Sie können ſich nicht mutig ſelbſt beſchützen? Tell. 1810 Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen. Walter. Vater, es wird mir eng im weiten Land; Da wohn' ich lieber unter den Lawinen. Tell. Ja, wohl iſt's beſſer, Kind, die Gletſcherberge Im Rücken haben als die böſen Menſchen. (Sie wollen vorübergehen.) Walter. 1815 Ei, Vater, ſieh den Hut dort auf der Stange. Tell. Was kümmert uns der Hut? Komm, laß uns gehen. (Indem er abgehen will, tritt ihm Frießhart mit vorgehaltner Pike entgegen.) Dritter Aufzug. 3. Szene 209 Frießhart. In des Kaiſers Namen! Haltet an und ſteht! Tell (greift in die Pike). Was wollt Ihr? Warum haltet Ihr mich auf? Frießhart. Ihr habt's Mandat verletzt, Ihr müßt uns folgen. Leuthold. 1820 Ihr habt dem Hut nicht Reverenz bewieſen. Tell. Freund, laß mich gehen. Frießhart. Fort, fort ins Gefängnis! Walter. Den Vater ins Gefängnis! Hilfe! Hilfe! (In die Szene rufend.) Herbei, ihr Männer, gute Leute, helft, Gewalt, Gewalt, ſie führen ihn gefangen. Röſſelmann der Pfarrer und Petermann der Sigriſt kommen herbei, mit drei andern Männern. Sigriſt. Nöſſelmann. Was legſt du Hand an dieſen Mann? Frieß hart. Er iſt ein Feind des Kaiſers, ein Verräter! 1825 Was gibt's? Tell (faßt ihn heftig). Ein Verräter, ich! Röſſelmann. Du irrſt dich, Freund, das iſt Der Tell, ein Ehrenmann und guter Bürger. Schillers Werke. VII. 14 1830 1835 1840 210 Wilhelm Tell Walter (erblickt Walter Fürſten und eilt ihm entgegen). Großvater, hilf! Gewalt geſchieht dem Vater. Frießhart. Ins Gefängnis, fort! Walter Fürſt (herbeieilend). Ich leiſte Bürgſchaft, haltet! — Um Gottes willen, Tell, was iſt geſchehen? Melchtal und Stauffacher kommen. Frießhart. Des Landvogts oberherrliche Gewalt Verachtet er und will ſie nicht erkennen. Stauffacher. Das hätt' der Tell getan? Melchtal. Das lügſt du, Bube! Leuthold. Er hat dem Hut nicht Reverenz bewieſen. Walter Fürſt. Und darum ſoll er ins Gefängnis? Freund, Nimm meine Bürgſchaft an und laß ihn ledig. Frießhart. Bürg' du für dich und deinen eignen Leib! Wir tun, was unſers Amtes — Fort mit ihm! Melchtal (zu den Landleuten). Nein, das iſt ſchreiende Gewalt! Ertragen wir's, Daß man ihn fortführt, frech, vor unſern Augen? 1845 1850 Dritter Aufzug. 3. Szene 211 Sigriſt. Wir ſind die Stärkern. Freunde, duldet's nicht, Wir haben einen Rücken an den andern! Frießhart. Wer widerſetzt ſich dem Befehl des Vogts? Noch drei Tandleute (herbeieilend). Wir helfen euch. Was gibt's? Schlagt ſie zu Boden! (Hildegard, Mechthild und Elsbeth kommen zurück.) Tell. Ich helfe mir ſchon ſelbſt. Geht, gute Leute, Meint ihr, wenn ich die Kraft gebrauchen wollte, Ich würde mich vor ihren Spießen fürchten? Melchtal (zu Frießhart). Wag's, ihn aus unſrer Mitte wegzuführen! Walter Fürſt und Stauffacher. Gelaſſen! Ruhig! Frießhart (chreit). Aufruhr und Empörung! (Man hört Jagdhörner.) Weiber. Da kommt der Landvogt! Frießhart (erhebt die Stimme). Meuterei! Empörung! Stauffacher. Schrei, bis du berſteſt, Schurke! Nöſſelmann und Melchtal. Willſt du ſchweigen? 1855 1860 1865 212 Wilhelm Tell Frießhart (ruft noch lauter). Zu Hilf', zu Hilf' den Dienern des Geſetzes! Walter Fürſt. Da iſt der Vogt! Weh uns, was wird das werden! Geßler zu Pferd, den Falken auf der Fauſt, Rudolf der Harras, Berta und Rudenz, ein großes Gefolge von bewaffneten Knechten, welche einen Kreis von Piken um die ganze Szene ſchließen. Rudolf der Harras. Platz, Platz dem Landvogt! Geßler. Treibt ſie auseinander! Was läuft das Volk zuſammen? Wer ruft Hilfe? (Allgemeine Stille.) Wer war's? Ich will es wiſſen. (Zu Frießhart.) Du tritt vor! Wer biſt du, und was hältſt du dieſen Mann? (Er gibt den Falken einem Diener.) Frieß hart. Geſtrenger Herr, ich bin dein Waffenknecht Und wohlbeſtellter Wächter bei dem Hut. Dieſen Mann ergriff ich über friſcher Tat, Wie er dem Hut den Ehrengruß verſagte. Verhaften wollt' ich ihn, wie du befahlſt, Und mit Gewalt will ihn das Volk entreißen. Geßler (nach einer Pauſe). Verachteſt du ſo deinen Kaiſer, Tell, Und mich, der hier an ſeiner Statt gebietet, Daß du die Ehr' verſagſt dem Hut, den ich Zur Prüfung des Gehorſams aufgehangen? Dein böſes Trachten haſt du mir verraten. Dritter Aufzug. 3. Szene 213 Tell. 1870 Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht, Nicht aus Verachtung Eurer iſt's geſchehn. Wär' ich beſonnen, hieß' ich nicht der Tell — Ich bitt' um Gnad', es ſoll nicht mehr begegnen. Geßler (nach einigem Stillſchweigen). Du biſt ein Meiſter auf der Armbruſt, Tell, 1875 Man ſagt, du nehmſt es auf mit jedem Schützen? Walter Tell. Und das muß wahr ſein, Herr — 'nen Apfel ſchießt Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte. Geßler. Iſt das dein Knabe, Tell? Tell. Ja, lieber Herr. Geßler. Haſt du der Kinder mehr? Tell. Zwei Knaben, Herr. Geßler. isso Und welcher iſt's, den du am meiſten liebſt? Tell. Herr, beide ſind ſie mir gleich liebe Kinder. Geßler. Nun, Tell! Weil du den Apfel triffſt vom Baume Auf hundert Schritte, ſo wirſt du deine Kunſt Vor mir bewähren müſſen — Nimm die Armbruſt — 1885 Du haſt fie gleich zur Hand — und mach' dich fertig, 1890 1895 1900 1905 214 Wilhelm Tell Einen Apfel von des Knaben Kopf zu ſchießen — Doch will ich raten, ziele gut, daß du Den Apfel treffeſt auf den erſten Schuß, Denn fehlſt du ihn, ſo iſt dein Kopf verloren. (Alle geben Zeichen des Schreckens.) Tell. Herr — Welches Ungeheuere ſinnet Ihr Mir an — Ich ſoll vom Haupte meines Kindes — — Nein, nein doch, lieber Herr, das kömmt Euch nicht Zu Sinn — Verhüt's der gnäd'ge Gott — das könnt Ihr Im Ernſt von einem Vater nicht begehren! Geßler. Du wirſt den Apfel ſchießen von dem Kopf Des Knaben — Ich begehr's und will's. Tell. Ich ſoll Mit meiner Armbruſt auf das liebe Haupt Des eignen Kindes zielen — Eher ſterb' ich! Geßler. Du ſchießeſt oder ſtirbſt mit deinem Knaben. Tell. Ich ſoll der Mörder werden meines Kinds! Herr, Ihr habt keine Kinder — wiſſet nicht, Was ſich bewegt in eines Vaters Herzen. Geßler. Ei, Tell, du biſt ja plötzlich ſo beſonnen! Man ſagte mir, daß du ein Träumer ſeiſt Und dich entfernſt von andrer Menſchen Weiſe. Du liebſt das Seltſame — Drum hab' ich jetzt Ein eigen Wagſtück für dich ausgeſucht. 1910 1915 1920 1925 Dritter Aufzug. 3. Szene 215 Ein andrer wohl bedächte ſich — Du drückſt Die Augen zu und greifſt es herzhaft an. Berta. Scherzt nicht, o Herr! mit dieſen armen Leuten! Ihr ſeht ſie bleich und zitternd ſtehn — So wenig Sind ſie Kurzweils gewohnt aus Eurem Munde. Geßler. Wer ſagt Euch, daß ich ſcherze? (Greift nach einem Baumzweige, der über ihn herhängt.) Hier iſt der Apfel. Man mache Raum — Er nehme ſeine Weite, Wie's Brauch iſt — Achtzig Schritte geb' ich ihm — Nicht weniger, noch mehr — Er rühmte ſich, Auf ihrer hundert ſeinen Mann zu treffen — , Jetzt, Schütze, triff und fehle nicht das Ziel! Rudolf der Harras. Gott, das wird ernſthaft — Falle nieder, Knabe, Es gilt, und fleh' den Landvogt um dein Leben. Walter Fürſt (beiſeite zu Melchtal, der kaum ſeine Ungeduld bezwingt). Haltet an Euch, ich fleh' Euch drum, bleibt ruhig. Berta (zum Landvogt). Laßt es genug ſein, Herr! Unmenſchlich iſt's, Mit eines Vaters Angſt alſo zu ſpielen. Wenn dieſer arme Mann auch Leib und Leben Verwirkt durch ſeine leichte Schuld, bei Gott! Er hätte jetzt zehnfachen Tod empfunden. Entlaßt ihn ungekränkt in ſeine Hütte, Er hat Euch kennen lernen; dieſer Stunde Wird er und ſeine Kindeskinder denken. 1930 1935 1940 1945 1950 216 Wilhelm Tell Geßler. Offnet die Gaſſe — Friſch! Was zauderſt du? Dein Leben iſt verwirkt, ich kann dich töten, Und ſieh, ich lege gnädig dein Geſchick In deine eigne kunſtgeübte Hand. Der kann nicht klagen über harten Spruch, Den man zum Meiſter ſeines Schickſals macht. Du rühmſt dich deines ſichern Blicks! Wohlan! Hier gilt es, Schütze, deine Kunſt zu zeigen, Das Ziel iſt würdig, und der Preis iſt groß! Das Schwarze treffen in der Scheibe, das Kann auch ein andrer — der iſt mir der Meiſter, Der ſeiner Kunſt gewiß iſt überall, Dem 's Herz nicht in die Hand tritt noch ins Auge. Walter Fürſt (wirft ſich vor ihm nieder). Herr Landvogt, wir erkennen Eure Hoheit, Doch laſſet Gnad' vor Recht ergehen, nehmt Die Hälfte meiner Habe, nehmt ſie ganz, Nur dieſes Gräßliche erlaſſet einem Vater! Walter Tell. Großvater, knie nicht vor dem falſchen Mann! Sagt, wo ich hinſtehn ſoll. Ich fürcht' mich nicht, Der Vater trifft den Vogel ja im Flug, Er wird nicht fehlen auf das Herz des Kindes. Stauffacher. Herr Landvogt, rührt Euch nicht des Kindes Unſchuld? Nöſſelmann. O denket, daß ein Gott im Himmel iſt, Dem Ihr müßt Rede ſtehn für Eure Taten. Geßler (zeigt auf den Knaben). Man bind' ihn an die Linde dort! 1955 1960 1965 1970 1975 Dritter Aufzug. 3. Szene 217 Walter Tell. Mich binden! Nein, ich will nicht gebunden ſein. Ich will Still halten wie ein Lamm, und auch nicht atmen. Wenn ihr mich bindet, nein, ſo kann ich's nicht, So werd' ich toben gegen meine Bande. Rudolf der Harras. Die Augen nur laß dir verbinden, Knabe. Walter Tell. Warum die Augen? Denket Ihr, ich fürchte Den Pfeil von Vaters Hand? Ich will ihn feſt Erwarten und nicht zucken mit den Wimpern. — Friſch, Vater, zeig's, daß du ein Schütze biſt! Er glaubt dir's nicht, er denkt uns zu verderben — Dem Wütrich zum Verdruſſe, ſchieß und triff. (Er geht an die Linde, man legt ihm den Apfel auf.) Melchtal (zu den Landleuten). Was? Soll der Frevel ſich vor unſern Augen Vollenden? Wozu haben wir geſchworen? Stauffacher. Es iſt umſonſt. Wir haben keine Waffen, Ihr ſeht den Wald von Lanzen um uns her. Melchtal. O hätten wir's mit friſcher Tat vollendet, Verzeih's Gott denen, die zum Aufſchub rieten! Geßler (zum Tell). Ans Werk! Man führt die Waffen nicht vergebens. Gefährlich iſt's, ein Mordgewehr zu tragen, Und auf den Schützen ſpringt der Pfeil zurück. Dies ſtolze Recht, das ſich der Bauer nimmt, Beleidiget den höchſten Herrn des Landes. 1980 1985 1990 218 Wilhelm Tell Gewaffnet ſei niemand, als wer gebietet. Freut's euch, den Pfeil zu führen und den Bogen, Wohl, ſo will ich das Ziel euch dazu geben. Tell (ſpannt die Armbruſt und legt den Pfeil auf). Offnet die Gaſſe! Platz! Stauffader. Was, Tell? Ihr wolltet — Nimmermehr — Ihr zittert, Die Hand erbebt Euch, Eure Kniee wanken — Tell (läßt die Armbruſt ſinken). Mir ſchwimmt es vor den Augen! Weiber. Gott im Himmel! Tell (zum Landvogt). Erlaſſet mir den Schuß. Hier iſt mein Herz! (Er reißt die Bruſt auf.) Ruft Eure Reiſigen und ſtoßt mich nieder. Geßler. Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuß. — Du kannſt ja alles, Tell, an nichts verzagſt du: Das Steuerruder führſt du wie den Bogen, Dich ſchreckt kein Sturm, wenn es zu retten gilt — Jetzt, Retter, hilf dir ſelbſt — du retteſt alle! (Tell ſteht in fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend und die rollen— den Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet — Plötzlich greift er in ſeinen Köcher, nimmt einen zweiten Pfeil heraus und ſteckt ihn in ſeinen Goller. Der Landvogt bemerkt alle dieſe Bewegungen.) Walter Tell (unter der Linde). Vater, ſchieß zu, ich fürcht' mich nicht. Tell. Es muß! (Er rafft ſich zuſammen und legt an.) Dritter Aufzug. 3. Szene 219 Nudenz (der die ganze Zeit über in der heftigſten Spannung geſtanden und mit Gewalt an ſich gehalten, tritt hervor). Herr Landvogt, weiter werdet Ihr's nicht treiben, Ihr werdet nicht — Es war nur eine Prüfung — Den Zweck habt Ihr erreicht — Zu weit getrieben 1995 Verfehlt die Strenge ihres weiſen Zwecks, Und allzu ſtraff geſpannt zerſpringt der Bogen. Geßler. Ihr ſchweigt, bis man Euch aufruft. Nudenz. Ich will reden, Ich darf's! Des Königs Ehre iſt mir heilig, Doch ſolches Regiment muß Haß erwerben. 2000 Das iſt des Königs Wille nicht — Ich darf's Behaupten — Solche Grauſamkeit verdient Mein Volk nicht, dazu habt Ihr keine Vollmacht. Geßler. Ha, Ihr erkühnt Euch! Rudenz. Ich hab' ſtill geſchwiegen Zu allen ſchweren Taten, die ich jah; 2005 Mein ſehend Auge hab' ich zugeſchloſſen, Mein überſchwellend und empörtes Herz Hab' ich hinabgedrückt in meinen Buſen. Doch länger ſchweigen wär' Verrat zugleich An meinem Vaterland und an dem Kaiſer. Berta (wirft ſich zwiſchen ihn und den Landvogt). 2010 O Gott, Ihr reizt den Wütenden noch mehr. Nudenz. Mein Volk verließ ich, meinen Blutsverwandten Entſagt' ich, alle Bande der Natur 2015 2020 2025 2030 220 Wilhelm Tell Zerriß ich, um an Euch mich anzuſchließen — Das Beſte aller glaubt' ich zu befördern, Da ich des Kaiſers Macht befeſtigte — Die Binde fällt von meinen Augen — Schaudernd Seh' ich an einen Abgrund mich geführt — Mein freies Urteil habt Ihr irr geleitet, Mein redlich Herz verführt — Ich war daran, Mein Volk in beſter Meinung zu verderben. Geßler. Verwegner, dieſe Sprache deinem Herrn? Nudenz. Der Kaiſer iſt mein Herr, nicht Ihr — Frei bin ich Wie Ihr geboren, und ich meſſe mich Mit Euch in jeder ritterlichen Tugend. Und ſtündet Ihr nicht hier in Kaiſers Namen, Den ich verehre, ſelbſt wo man ihn ſchändet, Den Handſchuh wärf' ich vor Euch hin, Ihr ſolltet Nach ritterlichem Brauch mir Antwort geben. — Ja, winkt nur Euren Reiſigen — Ich ſtehe Nicht wehrlos da, wie die — (auf das Volk zeigend) Ich hab' ein Schwert, Und wer mir naht — Stauffacher (ruft). Der Apfel iſt gefallen! (Indem ſich alle nach dieſer Seite gewendet und Berta zwiſchen Rudenz und den Landvogt ſich geworfen, hat Tell den Pfeil abgedrückt.) Nöſſelmann. Der Knabe lebt! Viele Stimmen. Der Apfel iſt getroffen! (Walter Fürſt ſchwankt und droht zu ſinken, Berta hält ihn.) Dritter Aufzug. 3. Szene 221 Geßler lerſtaunt). Er hat geſchoſſen? Wie? der Raſende! Berta. Der Knabe lebt! kommt zu Euch, guter Vater! Walter Tell (kommt mit dem Apfel geſprungen). 2035 Vater, hier iſt der Apfel — Wußt' ich's ja, Du würdeſt deinen Knaben nicht verletzen. (Tell ſtand mit vorgebognem Leib, als wollt' er dem Pfeil folgen — die Armbruſt entſinkt ſeiner Hand — wie er den Knaben kommen ſieht, eilt er ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und hebt ihn mit heftiger Inbrunſt zu ſeinem Herzen hinauf, in dieſer Stellung finft er kraftlos zuſammen. Alle ſtehen gerührt.) Berta. O güt'ger Himmel! Walter Fürſt (zu Vater und Sohn). Kinder! meine Kinder! Stauffacher. Teuthold. Das war ein Schuß! Davon Wird man noch reden in den ſpätſten Zeiten. Gott ſei gelobt! Rudolf der Harras. 2040 Erzählen wird man von dem Schützen Tell, Solang' die Berge ſtehn auf ihrem Grunde. (Reicht dem Landvogt den Apfel.) Geßler. Bei Gott! der Apfel mitten durch geſchoſſen! Es war ein Meiſterſchuß, ich muß ihn loben. Röſſelmann. Der Schuß war gut, doch wehe dem, der ihn 2045 Dazu getrieben, daß er Gott verſuchte. 2050 2055 2060 222 Wilhelm Tell 5 Stauffacher. Kommt zu Euch, Tell, ſteht auf, Ihr habt Euch männlich Gelöſt, und frei könnt Ihr nach Hauſe gehen. Nöſſelmann. Kommt, kommt und bringt der Mutter ihren Sohn! (Sie wollen ihn wegführen.) Geßler. Tell, höre! Tell (kommt zurück). Was befehlt Ihr, Herr? Geßler. Du ſteckteſt Noch einen zweiten Pfeil zu dir — Ja, ja, Ich ſah es wohl — Was meinteſt du damit? Tell (verlegen). Herr, das iſt alſo bräuchlich bei den Schützen. Geßler. Nein, Tell, die Antwort laſſ' ich dir nicht gelten, Es wird was anders wohl bedeutet haben. Sag' mir die Wahrheit friſch und fröhlich, Tell: Was es auch ſei, dein Leben ſichr' ich dir. Wozu der zweite Pfeil? Tell. 1 Wohlan, o Herr, Weil Ihr mich meines Lebens habt geſichert, So will ich Euch die Wahrheit gründlich ſagen. (Er zieht den Pfeil aus dem Goller und ſieht den Landvogt mit einem furchtbaren Blick an.) Mit dieſem zweiten Pfeil durchſchoß ich — Euch, Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und Eurer — wahrlich! hätt' ich nicht gefehlt. 2065 2070 2075 2080 2085 Dritter Aufzug. 3. Szene 223 Geßler. Wohl, Tell! Des Lebens hab' ich dich geſichert, Ich gab mein Ritterwort, das will ich halten — Doch weil ich deinen böſen Sinn erkannt, Will ich dich führen laſſen und verwahren, Wo weder Mond noch Sonne dich beſcheint, Damit ich ſicher ſei vor deinen Pfeilen. Ergreift ihn, Knechte! Bindet ihn! (Tell wird gebunden.) Stauffacher. Wie, Herr? So könntet Ihr an einem Manne handeln, An dem ſich Gottes Hand ſichtbar verkündigt? Geßler. Laß ſehn, ob ſie ihn zweimal retten wird. — Man bring' ihn auf mein Schiff, ich folge nach Sogleich, ich ſelbſt will ihn nach Küßnacht führen. Nöſſelmann. Ihr wollt ihn außer Lands gefangen führen? Tandleute. Das dürft Ihr nicht, das darf der Kaiſer nicht, Das widerſtreitet unſern Freiheitsbriefen! Geßler. Wo ſind ſie? Hat der Kaiſer ſie beſtätigt? Er hat ſie nicht beſtätigt — Dieſe Gunſt Muß erſt erworben werden durch Gehorſam. Rebellen ſeid ihr alle gegen Kaiſers Gericht und nährt verwegene Empörung. Ich kenn' euch alle — ich durchſchau' euch ganz — Den nehm' ich jetzt heraus aus eurer Mitte, Doch alle ſeid ihr teilhaft ſeiner Schuld: Wer klug iſt, lerne ſchweigen und gehorchen. (Er entfernt ſich, Berta, Rudenz, Harras und Knechte folgen, Frießhart und Leuthold bleiben zurück.) 224 Wilhelm Tell Walter Fürſt (in heftigem Schmerz). Es iſt vorbei; er hat's beſchloſſen, mich Mit meinem ganzen Hauſe zu verderben! Stauffacher (zum Tell). O warum mußtet Ihr den Würrich reizen! Tell. 200 Bezwinge ſich, wer meinen Schmerz gefühlt! Stauffacher. O nun iſt alles, alles hin! Mit Euch Sind wir gefeſſelt alle und gebunden! Tandleute (umringen den Tell). Mit Euch geht unſer letzter Troſt dahin! Teuthold (nähert ſich). Tell, es erbarmt mich — doch ich muß gehorchen. Tell. 2095 Lebt wohl! Walter Tell (ſich mit heftigem Schmerz an ihn ſchmiegend). O Vater! Vater! Lieber Vater! Tell (hebt die Arme zum Himmel). Dort droben iſt dein Vater! den ruf an! Stauffacher. Tell, ſag' ich Eurem Weibe nichts von Euch? Tell hebt den Knaben mit Inbrunſt an ſeine Bruſt). Der Knab' iſt unverletzt, mir wird Gott helfen. (Reißt ſich ſchnell los und folgt den Waffenknechten.) Vierter Aufzug 1. Szene Oſtliches Ufer des Vierwaldſtättenſees. Die ſeltſam geſtalteten ſchroffen Felſen im Weſten ſchließen den Proſpekt. Der See iſt bewegt, heftiges Rauſchen und Toſen, dazwiſchen Blitze und Donnerſchläge. Kunz von Gerſau. Fiſcher und Fiſcherknabe. Kunz. Ich ſah's mit Augen an, Ihr könnt mir's glauben, 2100 & iſt alles fo geſchehn, wie ich Euch ſagte. Tiſcher. Der Tell gefangen abgeführt nach Küßnacht, Der beſte Mann im Land, der bravjte Arm, Wenn's einmal gelten ſollte für die Freiheit. Kunz. Der Landvogt führt ihn ſelbſt den See herauf; 2108 Sie waren eben dran, ſich einzuſchiffen, Als ich von Flüelen abfuhr, doch der Sturm, Der eben jetzt im Anzug iſt und der Auch mich gezwungen, eilends hier zu landen, Mag ihre Abfahrt wohl verhindert haben. Tiſcher. 2110 Der Tell in Feſſeln, in des Vogts Gewalt! O glaubt, er wird ihn tief genug vergraben, Daß er des Tages Licht nicht wieder ſieht! Denn fürchten muß er die gerechte Rache Des freien Mannes, den er ſchwer gereizt! Kunz. as Der Altlandammann auch, der edle Herr Von Attinghauſen, ſagt man, lieg' am Tode. Schillers Werke. VII. 15 2120 2125 2130 2135 226 Wilhelm Tell Fiſcher. So bricht der letzte Anker unſrer Hoffnung! Der war es noch allein, der ſeine Stimme Erheben durfte für des Volkes Rechte! 5 Kunz. Der Sturm nimmt überhand. Gehabt Euch wohl, Ich nehme Herberg' in dem Dorf, denn heut' Iſt doch an keine Abfahrt mehr zu denken. (Geht ab.) giſcher. Der Tell gefangen und der Freiherr tot! Erheb die freche Stirne, Tyrannei, Wirf alle Scham hinweg! Der Mund der Wahrheit Iſt ſtumm, das ſehnde Auge iſt geblendet, Der Arm, der retten ſollte, iſt gefeſſelt! Knabe. Es hagelt ſchwer, kommt in die Hütte, Vater, Es iſt nicht kommlich, hier im Freien hauſen. Sifter. Raſet, ihr Winde, flammt herab, ihr Blitze! Ihr Wolken, berſtet, gießt herunter, Ströme Des Himmels, und erſäuft das Land! Zerſtört Im Keim die ungeborenen Geſchlechter! Ihr wilden Elemente werdet Herr, Ihr Bären kommt, ihr alten Wölfe wieder Der großen Wüſte, euch gehört das Land — Wer wird hier leben wollen ohne Freiheit! Knabe. Hört, wie der Abgrund toſt, der Wirbel brüllt, So hat's noch nie geraſt in dieſem Schlunde! 2140 2145 2150 2165 2160 Vierter Aufzug. 1. Szene 227 Fiſcher. Zu zielen auf des eignen Kindes Haupt, Solches ward keinem Vater noch geboten! Und die Natur ſoll nicht in wildem Grimm Sich drob empören — O, mich ſoll's nicht wundern, Wenn ſich die Felſen bücken in den See, Wenn jene Zacken, jene Eiſestürme, Die nie auftauten ſeit dem Schöpfungstag, Von ihren hohen Kulmen niederſchmelzen, Wenn die Berge brechen, wenn die alten Klüfte Einſtürzen, eine zweite Sündflut alle Wohnſtätten der Lebendigen verſchlingt! (Man hört läuten.) Knabe. Hört Ihr, ſie läuten droben auf dem Berg, Gewiß hat man ein Schiff in Not geſehn Und zieht die Glocke, daß gebetet werde. (Steigt auf eine Anhöhe.) giſcher. Wehe dem Fahrzeug, das, jetzt unterwegs, In dieſer furchtbarn Wiege wird gewiegt! Hier iſt das Steuer unnütz und der Steurer, Der Sturm iſt Meiſter, Wind und Welle ſpielen Ball mit dem Menſchen — Da iſt nah und fern Kein Buſen, der ihm freundlich Schutz gewährte! Handlos und ſchroff anſteigend ſtarren ihm Die Felſen, die unwirtlichen, entgegen Und weiſen ihm nur ihre ſteinern ſchroffe Bruſt. Knabe (deutet links). Vater, ein Schiff, es kommt von Flüelen her. Tiſcher. Gott helf' den armen Leuten! Wenn der Sturm 2166 In dieſer Waſſerkluft ſich erſt verfangen, 228 Wilhelm Tell Dann raſt er um ſich mit des Raubtiers Angſt, Das an des Gitters Eiſenſtäbe ſchlägt; Die Pforte ſucht er heulend ſich vergebens, Denn ringsum ſchränken ihn die Felſen ein, 2170 Die himmelhoch den engen Paß vermauern. (Er ſteigt auf die Anhöhe.) Knabe. Es iſt das Herrenſchiff von Uri, Vater, Ich kenn's am roten Dach und an der Fahne. Fiſcher. Gerichte Gottes! Ja, er iſt es ſelbſt, Der Landvogt, der da fährt — Dort ſchifft er hin 2175 Und führt im Schiffe ſein Verbrechen mit! Schnell hat der Arm des Rächers ihn gefunden, Jetzt kennt er über ſich den ſtärkern Herrn, Dieſe Wellen geben nicht auf ſeine Stimme, Dieſe Felſen bücken ihre Häupter nicht 210 Vor ſeinem Hute — Knabe, bete nicht, Greif nicht dem Richter in den Arm! Knabe. Ich bete für den Landvogt nicht — Ich bete Für den Tell, der auf dem Schiff ſich mit befindet. Sifter. O Unvernunft des blinden Elements! 2185 Mußt du, um einen Schuldigen zu treffen, Das Schiff mitſamt dem Steuermann verderben! Knabe. Sieh, ſieh, ſie waren glücklich ſchon vorbei Am Buggisgrat, doch die Gewalt des Sturms, Der von dem Teufelsmünſter widerprallt, 210 Wirft ſie zum großen Axenberg zurück. — Ich ſeh' ſie nicht mehr. 2195 2200 2205 Vierter Aufzug. 1. Szene 229 Sifter. Dort iſt das Hakmeſſer, Wo ſchon der Schiffe mehrere gebrochen. Wenn ſie nicht weislich dort vorüberlenken, So wird das Schiff zerſchmettert an der Fluh, Die ſich gähſtotzig abſenkt in die Tiefe. — Sie haben einen guten Steuermann Am Bord: könnt' einer retten, wär's der Tell; Doch dem ſind Arm' und Hände ja gefeſſelt. Wilhelm Tell mit der Armbruſt. (Er kommt mit raſchen Schritten, blickt erſtaunt umher und zeigt die hef⸗ tigſte Bewegung. Wenn er mitten auf der Szene iſt, wirft er ſich nieder, die Hände zu der Erde und dann zum Himmel ausbreitend.) Knabe (bemerkt ihn). Sieh, Vater, wer der Mann iſt, der dort kniet? Sifter. Er faßt die Erde an mit ſeinen Händen Und ſcheint wie außer ſich zu ſein. Knabe (kommt vorwärts). Was ſeh' ich! Vater! Vater, kommt und ſeht! Ciſcher (nähert ſich). Wer iſt es? — Gott im Himmel! Was! der Tell? Wie kommt Ihr hieher? Redet! Knabe. Wart Ihr nicht Dort auf dem Schiff gefangen und gebunden? Lifer. Ihr wurdet nicht nach Küßnacht abgeführt? i Tell (ſteht auf). Ich bin befreit. 2210 2215 230 Wilhelm Tell Tiſcher und Knabe. Befreit! O Wunder Gottes! Knabe. Wo kommt Ihr her? Tell. Dort aus dem Schiffe. Ciſcher. Knabe (ugleich). Wo iſt der Landvogt? Tell. Auf den Wellen treibt er. Tiſcher. Iſt's möglich? Aber Ihr? Wie ſeid Ihr hier? Seid Euren Banden und dem Sturm entkommen? Tell. Durch Gottes gnäd'ge Fürſehung — Hört an! Sifter und Knabe. O redet, redet! Tell. Was in Altdorf ſich Begeben, wißt ihr's? Liſcher. Alles weiß ich, redet! Tell. Daß mich der Landvogt fahen ließ und binden, Nach ſeiner Burg zu Küßnacht wollte führen. Vierter Aufzug. 1. Szene 231 Eiſcher. Und ſich mit Euch zu Flüelen eingeſchifft! Wir wiſſen alles, ſprecht, wie Ihr entkommen? Tell. Ich lag im Schiff, mit Stricken feſt gebunden, 2220 Wehrlos, ein aufgegebner Mann — nicht hofft' ich, Das frohe Licht der Sonne mehr zu ſehn, Der Gattin und der Kinder liebes Antlitz, Und troſtlos blickt' ich in die Waſſerwüſte — TCiſcher. Tell. So fuhren wir dahin, 2226 Der Vogt, Rudolf der Harras und die Knechte. Mein Köcher aber mit der Armbruſt lag Am hintern Granſen bei dem Steuerruder. Und als wir an die Ecke jetzt gelangt Beim kleinen Axen, da verhängt' es Gott, 2230 Daß ſolch ein grauſam mördriſch Ungewitter Gählings herfürbrach aus des Gotthards Schlünden, Daß allen Ruderern das Herz entſank, Und meinten alle, elend zu ertrinken. Da hört' ich's, wie der Diener einer ſich 2233 Zum Landvogt wendet' und die Worte ſprach: „Ihr ſehet Eure Not und unſre, Herr, Und daß wir all' am Rand des Todes ſchweben — Die Steuerleute aber wiſſen ſich Für großer Furcht nicht Rat und ſind des Fahrens 22410 Nicht wohl berichtet — Nun aber iſt der Tell Ein ſtarker Mann und weiß ein Schiff zu ſteuern — Wie, wenn wir ſein jetzt brauchten in der Not?“ Da ſprach der Vogt zu mir: „Tell, wenn du dir's Getrauteſt, uns zu helfen aus dem Sturm, O armer Mann! 2245 2250 2255 2260 2265 2270 232 Wilhelm Tell So möcht' ich dich der Bande wohl entled'gen.“ Ich aber ſprach: „Ja, Herr, mit Gottes Hilfe Getrau' ich mir's und helf' uns wohl hiedannen.“ So ward ich meiner Bande los und ſtand Am Steuerruder und fuhr redlich hin. Doch ſchielt' ich ſeitwärts, wo mein Schießzeug lag, Und an dem Ufer merkt' ich ſcharf umher, Wo ſich ein Vorteil auftät' zum Entſpringen. Und wie ich eines Felſenriffs gewahre, Das abgeplattet vorſprang in den See — Ciſcher. Ich kenn's, es iſt am Fuß des großen Axen, Doch nicht für möglich acht' ich's — ſo gar ſteil Geht's an — vom Schiff es ſpringend abzureichen — Tell. Schrie ich den Knechten, handlich zuzugehn, Bis daß wir vor die Felſenplatte kämen, Dort, rief ich, ſei das Argſte überſtanden — Und als wir ſie friſchrudernd bald erreicht, Fleh' ich die Gnade Gottes an und drücke, Mit allen Leibeskräften angeſtemmt, Den hintern Granſen an die Felswand hin — Jetzt, ſchnell mein Schießzeug faſſend, ſchwing' ich ſelbſt Hochſpringend auf die Platte mich hinauf, Und mit gewalt'gem Fußſtoß hinter mich Schleudr' ich das Schifflein in den Schlund der Waſſer — Dort mag's, wie Gott will, auf den Wellen treiben! So bin ich hier, gerettet aus des Sturms Gewalt und aus der ſchlimmeren der Menſchen. Ciſcher. Tell, Tell, ein ſichtbar Wunder hat der Herr An Euch getan, kaum glaub' ich's meinen Sinnen — 2276 2280 2285 2290 Vierter Aufzug. 1. Szene 233 Doch ſaget! Wo gedenket Ihr jetzt hin? Denn Sicherheit iſt nicht für Euch, wofern Der Landvogt lebend dieſem Sturm entkommt. Tell. Ich hört' ihn ſagen, da ich noch im Schiff Gebunden lag, er woll' bei Brunnen landen Und über Schwyz nach ſeiner Burg mich führen. Ciſcher. Will er den Weg dahin zu Lande nehmen? Tell. FCiſcher. O ſo verbergt Euch ohne Säumen, Nicht zweimal hilft Euch Gott aus ſeiner Hand. Er denkt's. Tell. Nennt mir den nächſten Weg nach Arth und Küßnacht. Fiſcher. Die offne Straße zieht ſich über Steinen, Doch einen kürzern Weg und heimlichern Kann Euch mein Knabe über Lowerz führen. Tell (gibt ihm die Hand). Gott lohn' Euch Eure Guttat. Lebet wohl. (Geht und kehrt wieder um.) — Habt Ihr nicht auch im Rütli mit geſchworen? Mir deucht, man nannt' Euch mir — Fiſcher. Ich war dabei Und hab' den Eid des Bundes mit beſchworen. 2295 2300 234 Wilhelm Tell Tell. So eilt nach Bürglen, tut die Lieb' mir an, Mein Weib verzagt um mich, verkündet ihr, Daß ich gerettet ſei und wohl geborgen. Lifter. Doch wohin jag’ ich ihr, daß Ihr geflohn? Tell. Ihr werdet meinen Schwäher bei ihr finden Und andre, die im Rütli mit geſchworen — Sie ſollen wacker ſein und gutes Muts: Der Tell ſei frei und ſeines Armes mächtig, Bald werden ſie ein weitres von mir hören. Lifter. Was habt Ihr im Gemüt? Entdeckt mir's frei. Tell. Iſt es getan, wird's auch zur Rede kommen. (Geht ab.) Tiſcher. Zeig' ihm den Weg, Jenni — Gott ſteh' ihm bei! Er führt's zum Ziel, was er auch unternommen. (Geht ab.) 2. Szene Edelhof zu Attinghauſen. Der Freiherr, in einem Armſeſſel, ſterbend. Walter Fürſt, Stauf⸗ facher, Melchtal und Baumgarten um ihn beſchäftigt. Walter Tell, knieend vor dem Sterbenden. Walter Fürſt. Es iſt vorbei mit ihm, er iſt hinüber. Vierter Aufzug. 2. Szene 235 Stauffacher. 2305 Er liegt nicht wie ein Toter — Seht, die Feder Auf ſeinen Lippen regt ſich! Ruhig iſt Sein Schlaf, und friedlich lächeln ſeine Züge. (Baumgarten geht an die Türe und ſpricht mit jemand.) Walter Fürſt (zu Baumgarten). Wer iſt's? Baumgarten (kommt zurüch). Es iſt Frau Hedwig, Eure Tochter, Sie will Euch ſprechen, will den Knaben ſehn. (Walter Tell richtet ſich auf.) Walter Fürſt. 2310 Kann ich fie tröſten? Hab' ich ſelber Troſt? Häuft alles Leiden ſich auf meinem Haupt? Hedwig (hereindringend). Wo iſt mein Kind? Laßt mich, ich muß es ſehn — Stauffacher. Faßt Euch, bedenkt, daß Ihr im Haus des Todes — Hedwig (ſtürzt auf den Knaben). Mein Wälti! O, er lebt mir! Walter Tell (hängt an ihr). Arme Mutter! Hedwig. 2315 Iſt's auch gewiß? Biſt du mir unverletzt? (Betrachtet ihn mit ängſtlicher Sorgfalt.) Und iſt es möglich? Konnt' er auf dich zielen? Wie konnt' er's? O, er hat kein Herz — Er konnte Den Pfeil abdrücken auf ſein eignes Kind! Walter Fürſt. Er tat's mit Angſt, mit ſchmerzzerrißner Seele, 2320 Gezwungen tat er's, denn es galt das Leben. 2325 2330 2335 2340 236 Wilhelm Tell Hedwig. O, hätt' er eines Vaters Herz — eh' er's Getan, er wäre tauſendmal geſtorben! Stauffacher. Ihr ſolltet Gottes gnäd'ge Schickung preiſen, Die es ſo gut gelenkt — Hedwig. Kann ich vergeſſen, Wie's hätte kommen können — Gott des Himmels! Und lebt' ich achtzig Jahr — Ich ſeh' den Knaben ewig Gebunden ſtehn, den Vater auf ihn zielen, Und ewig fliegt der Pfeil mir in das Herz. Melchtal. Frau, wüßtet Ihr, wie ihn der Vogt gereizt! Hedwig. O rohes Herz der Männer! Wenn ihr Stolz Beleidigt wird, dann achten ſie nichts mehr, Sie ſetzen in der blinden Wut des Spiels Das Haupt des Kindes und das Herz der Mutter! Baumgarten. Iſt Eures Mannes Los nicht hart genug, Daß Ihr mit ſchwerem Tadel ihn noch kränkt? Für ſeine Leiden habt Ihr kein Gefühl? Hedwig (kehrt ſich nach ihm um und ſieht ihn mit einem großen Blick an). Haſt du nur Tränen für des Freundes Unglück? — Wo waret ihr, da man den Trefflichen In Bande ſchlug? Wo war da eure Hilfe? Ihr ſahet zu, ihr ließt das Gräßliche geſchehn, Geduldig littet ihr's, daß man den Freund Vierter Aufzug. 2 Szene 237 Aus eurer Mitte führte — Hat der Tell Auch ſo an euch gehandelt? Stand er auch Bedauernd da, als hinter dir die Reiter 2345 Des Landvogts drangen, als der wüt'ge See Vor dir erbrauſte? Nicht mit müß' gen Tränen Beklagt' er dich, in den Nachen ſprang er, Weib Und Kind vergaß er und befreite dich — Walter Fürſt. Was konnten wir zu ſeiner Rettung wagen, 2350 Die kleine Zahl, die unbewaffnet war! Hedwig (wirft ſich an ſeine Bruſt). O Vater! Und auch du haſt ihn verloren! Das Land, wir alle haben ihn verloren! Uns allen fehlt er, ach! wir fehlen ihm! Gott rette ſeine Seele vor Verzweiflung. 2356 Zu ihm hinab ins öde Burgverlies Dringt keines Freundes Troſt — Wenn er erkrankte! Ach, in des Kerkers feuchter Finſternis Muß er erkranken — Wie die Alpenroſe Bleicht und verkümmert in der Sumpfesluft, 2300 So iſt für ihn kein Leben als im Licht Der Sonne, in dem Balſamſtrom der Lüfte. Gefangen! Er! Sein Atem iſt die Freiheit, Er kann nicht leben in dem Hauch der Grüfte. Stauffacher. Beruhigt Euch. Wir alle wollen handeln, 2366 Um ſeinen Kerker aufzutun. Hedwig. Was könnt ihr ſchaffen ohne ihn? — Solang' Der Tell noch frei war, ja, da war noch Hoffnung, Da hatte noch die Unſchuld einen Freund, 238 Wilhelm Tell Da hatte einen Helfer der Verfolgte, 2370 Euch alle rettete der Tell — Ihr alle Zuſammen könnt nicht ſeine Feſſeln löſen! (Der Freiherr erwacht.) Baumgarten. Er regt ſich, fill! Attinghauſen (ſich aufrichtend). Wo iſt er? Stauffacher. Werd Attinghauſen. Er fehlt mir, Verläßt mich in dem letzten Augenblick! Stauffacher. Er meint den Junker — Schickte man nach ihm? Walter Fürſt. 2375 Es iſt nach ihm geſendet — Tröſtet Euch! Er hat ſein Herz gefunden, er iſt unſer. Attinghauſen. Hat er geſprochen für ſein Vaterland? Stauffacher. Mit Heldenkühnheit. Attinghauſen. Warum kommt er nicht, Um meinen letzten Segen zu empfangen? 2380 Ich fühle, daß es ſchleunig mit mir endet. Stauffacher. Nicht alſo, edler Herr! Der kurze Schlaf Hat Euch erquickt, und hell ijt Euer Blick. 2385 2390 2395 2400 Vierter Aufzug. 2. Szene 239 Attinghauſen. Der Schmerz iſt Leben, er verließ mich auch; Das Leiden iſt, ſo wie die Hoffnung, aus. (Er bemerkt den Knaben.) Wer iſt der Knabe? Walter Fürſt. Segnet ihn, o Herr! Er iſt mein Enkel und iſt vaterlos. (Hedwig ſinkt mit dem Knaben vor dem Sterbenden nieder.) Attinghauſen. Und vaterlos laſſ' ich euch alle, alle Zurück — Weh mir, daß meine letzten Blicke Den Untergang des Vaterlands geſehn! Mußt' ich des Lebens höchſtes Maß erreichen, Um ganz mit allen Hoffnungen zu ſterben! Stauffacher (zu Walter Fürſt). Soll er in dieſem finſtern Kummer ſcheiden? Erhellen wir ihm nicht die letzte Stunde Mit ſchönem Strahl der Hoffnung? — Edler Freiherr! Erhebet Euren Geiſt! Wir ſind nicht ganz Verlaſſen, ſind nicht rettungslos verloren. Attinghauſen. Wer ſoll euch retten? Walter Fürſt. Wir uns ſelbſt. Vernehmt! Es haben die drei Lande ſich das Wort Gegeben, die Tyrannen zu verjagen. Geſchloſſen iſt der Bund, ein heil'ger Schwur Verbindet uns. Es wird gehandelt werden, Eh' noch das Jahr den neuen Kreis beginnt, Euer Staub wird ruhn in einem freien Lande. 240 Wilhelm Tell Attinghauſen. O ſaget mir! Geſchloſſen iſt der Bund? Melchtal. 2405 Am gleichen Tage werden alle drei Waldſtätte ſich erheben. Alles iſt Bereit und das Geheimnis wohlbewahrt Bis jetzt, obgleich viel Hunderte es teilen. Hohl iſt der Boden unter den Tyrannen, 2410 Die Tage ihrer Herrſchaft find gezählt, Und bald iſt ihre Spur nicht mehr zu finden. Attinghauſen. Die feſten Burgen aber in den Landen? Melchtal. Sie fallen alle an dem gleichen Tag. Attinghauſen. Und ſind die Edeln dieſes Bunds teilhaftig? Stauffacher. 2415 Wir harren ihres Beiſtands, wenn es gilt; Jetzt aber hat der Landmann nur geſchworen. Attinghauſen (richtet ſich langſam in die Höhe mit großem Erſtaunen). Hat ſich der Landmann ſolcher Tat verwogen, Aus eignem Mittel, ohne Hilf' der Edeln, Hat er der eignen Kraft ſo viel vertraut — 2420 Ja, dann bedarf es unſerer nicht mehr, Getröſtet können wir zu Grabe ſteigen: Es lebt nach uns — durch andre Kräfte will Das Herrliche der Menſchheit ſich erhalten. (Er legt ſeine Hand auf das Haupt des Kindes, das vor ihm auf den Knieen liegt.) 2425 2430 2435 2440 2445 2450 Vierter Aufzug. 2 Szene 241 Aus dieſem Haupte, wo der Apfel lag, Wird euch die neue beßre Freiheit grünen; Das Alte ſtürzt, es ändert ſich die Zeit, Und neues Leben blüht aus den Ruinen. Stauffacher (zu Walter Fürſt). Seht, welcher Glanz ſich um ſein Aug' ergießt! Das iſt nicht das Erlöſchen der Natur, Das iſt der Strahl ſchon eines neuen Lebens. Attinghauſen. Der Adel ſteigt von ſeinen alten Burgen Und ſchwört den Städten ſeinen Bürgereid; Im UÜchtland ſchon, im Thurgau hat's begonnen, Die edle Bern erhebt ihr herrſchend Haupt, Freiburg iſt eine ſichre Burg der Freien, Die rege Zürich waffnet ihre Zünfte Zum kriegeriſchen Heer — Es bricht die Macht Der Könige ſich an ihren ew'gen Wällen — (Er ſpricht das folgende mit dem Ton eines Sehers — ſeine Rede ſteigt ; bis zur Begeiſterung.) Die Fürſten ſeh' ich und die edeln Herrn In Harniſchen herangezogen kommen, Ein harmlos Volk von Hirten zu bekriegen. Auf Tod und Leben wird gekämpft, und herrlich Wird mancher Paß durch blutige Entſcheidung. Der Landmann ſtürzt ſich mit der nackten Bruſt, Ein freies Opfer, in die Schar der Lanzen, Er bricht ſie, und des Adels Blüte fällt, Es hebt die Freiheit ſiegend ihre Fahne. (Walter Fürſts und Stauffachers Hände faſſend.) Drum haltet feſt zuſammen — feſt und ewig — Kein Ort der Freiheit ſei dem andern fremd — Hochwachten ſtellet aus auf euren Bergen, Schillers Werke. VII. 2455 2460 2465 242 Wilhelm Tell Daß ſich der Bund zum Bunde raſch verſammle — Seid einig — einig — einig — (Er fällt in das Kiſſen zurück — ſeine Hände halten entſeelt noch die andern gefaßt. Fürſt und Stauffacher betrachten ihn noch eine Zeitlang ſchweigend, dann treten ſie hinweg, jeder ſeinem Schmerz überlaſſen. Unterdeſſen ſind die Knechte ſtill hereingedrungen, ſie nähern ſich mit Zeichen eines ſtillern oder heftigern Schmerzens, einige knieen bei ihm nieder und weinen auf ſeine Hand; während dieſer ſtummen Szene wird die Burgglocke geläutet.) Rudenz zu den Vorigen. Nudenz (rajesh eintretend). Lebt er? O ſaget, kann er mich noch hören? Walter Fürſt (deutet hin mit weg gewandtem Gefidt). Ihr ſeid jetzt unſer Lehensherr und Schirmer, Und dieſes Schloß hat einen andern Namen. Nudenz (erblickt den Leichnam und ſteht von heftigem Schmerz ergriffen). O güt'ger Gott — Kommt meine Reu zu ſpät? Konnt' er nicht wen'ge Pulſe länger leben, Um mein geändert Herz zu ſehn? Verachtet hab' ich ſeine treue Stimme, Da er noch wandelte im Licht — Er iſt Dahin, iſt fort auf immerdar und läßt mir Die ſchwere, unbezahlte Schuld! — O ſaget! Schied er dahin im Unmut gegen mich? Stauffacher. Er hörte ſterbend noch, was Ihr getan, Und ſegnete den Mut, mit dem Ihr ſpracht! Rudenz (eniet an dem Toten nieder). Ja, heil'ge Reſte eines teuren Mannes! Entſeelter Leichnam! hier gelob' ich dir's In deine kalte Totenhand — Zerriſſen Hab' ich auf ewig alle fremden Bande, 2470 2475 2480 2485 2490 Vierter Aufzug. 2. Szene 243 Zurückgegeben bin ich meinem Volk, Ein Schweizer bin ich, und ich will es ſein Von ganzer Seele — — (Aufſtehend.) Trauert um den Freund, Den Vater aller, doch verzaget nicht! Nicht bloß ſein Erbe iſt mir zugefallen, Es ſteigt ſein Herz, ſein Geiſt auf mich herab, Und leiſten ſoll euch meine friſche Jugend, Was euch ſein greiſes Alter ſchuldig blieb. — Ehrwürd'ger Vater, gebt mir Eure Hand! Gebt mir die Eurige! Melchtal, auch Ihr! Bedenkt Euch nicht! O wendet Euch nicht weg! Empfanget meinen Schwur und mein Gelübde. Walter Fürſt. Gebt ihm die Hand. Sein wiederkehrend Herz Verdient Vertraun. Melchtal. Ihr habt den Landmann nichts geachtet. Sprecht, weſſen ſoll man ſich zu Euch verſehn? Nudenz. O denket nicht des Irrtums meiner Jugend! Stauffacher (zu Melchtal). Seid einig! war das letzte Wort des Vaters, Gedenket deſſen! Melchtal. Hier iſt meine Hand! Des Bauern Handſchlag, edler Herr, iſt auch Ein Manneswort! Was iſt der Ritter ohne uns? Und unſer Stand iſt älter als der Eure. Nudenz. Ich ehr' ihn, und mein Schwert ſoll ihn beſchützen. 2495 2500 2505 2510 2516 244 Wilhelm Tell Melchtal. Der Arm, Herr Freiherr, der die harte Erde Sich unterwirft und ihren Schoß befruchtet, Kann auch des Mannes Bruſt beſchützen. Rudens. Ihr Sollt meine Bruſt, ich will die eure ſchützen, So ſind wir einer durch den andern ſtark. — Doch wozu reden, da das Vaterland Ein Raub noch iſt der fremden Tyrannei? Wenn erſt der Boden rein iſt von dem Feind, Dann wollen wir's in Frieden ſchon vergleichen. (Nachdem er einen Augenblick inne gehalten.) Ihr ſchweigt? Ihr habt mir nichts zu ſagen? Wie! Verdien' ich's noch nicht, daß ihr mir vertraut? So muß ich wider euren Willen mich In das Geheimnis eures Bundes drängen. — Ihr habt getagt — geſchworen auf dem Rütli — Ich weiß — weiß alles, was ihr dort verhandelt; Und, was mir nicht von euch vertrauet ward, Ich hab's bewahrt gleich wie ein heilig Pfand. Nie war ich meines Landes Feind, glaubt mir, Und niemals hätt' ich gegen euch gehandelt. — Doch übel tatet ihr, es zu verſchieben, Die Stunde dringt, und raſcher Tat bedarf's — Der Tell ward ſchon ein Opfer eures Säumens — Stauffacher. Das Chriſtfeſt abzuwarten, ſchwuren wir. Nudenz. Ich war nicht dort, ich hab' nicht mit geſchworen. Wartet ihr ab, ich handle. Melchtal. Was? Ihr wolltet — 2520 2525 2530 2535 2540 Vierter Aufzug. 2. Szene 245 Nudenz. Des Landes Vätern zähl' ich mich jetzt bei, Und meine erſte Pflicht iſt, euch zu ſchützen. Walter Fürſt. Der Erde dieſen teuren Staub zu geben, Iſt Eure nächſte Pflicht und heiligſte. Rudenz. Wenn wir das Land befreit, dann legen wir Den friſchen Kranz des Siegs ihm auf die Bahre. — O Freunde! Eure Sache nicht allein, Ich habe meine eigne auszufechten Mit dem Tyrannen — Hört und wißt! Verſchwunden Iſt meine Berta, heimlich weggeraubt, Mit kecker Freveltat, aus unſrer Mitte! Stauffacher. Solcher Gewalttat hätte der Tyrann Wider die freie Edle ſich verwogen? Nudenz. O meine Freunde! Euch verſprach ich Hilfe, Und ich zuerſt muß ſie von euch erflehn. Geraubt, entriſſen iſt mir die Geliebte, Wer weiß, wo ſie der Wütende verbirgt, Welcher Gewalt ſie frevelnd ſich erkühnen, Ihr Herz zu zwingen zum verhaßten Band! Verlaßt mich nicht, o helft mir ſie erretten — Sie liebt euch, o ſie hat's verdient ums Land, Daß alle Arme ſich für ſie bewaffnen — Walter Fürſt. Was wollt Ihr unternehmen? | Nudenz. Weiß ich's? Ach! In dieſer Nacht, die ihr Geſchick umhüllt, 2545 2550 2555 2560 246 Wilhelm Tell In dieſes Zweifels ungeheurer Angſt, Wo ich nichts Feſtes zu erfaſſen weiß, Iſt mir nur dieſes in der Seele klar: Unter den Trümmern der Tyrannenmacht Allein kann ſie hervorgegraben werden, Die Feſten alle müſſen wir bezwingen, Ob wir vielleicht in ihren Kerker dringen. Melchtal. Kommt, führt uns an. Wir folgen Euch. Warum Bis morgen ſparen, was wir heut' vermögen? Frei war der Tell, als wir im Rütli ſchwuren, Das Ungeheure war noch nicht geſchehen. Es bringt die Zeit ein anderes Geſetz — Wer iſt ſo feig, der jetzt noch könnte zagen! Rudenz (zu Stauffacher und Walter Fürſt). Indes bewaffnet und zum Werk bereit Erwartet ihr der Berge Feuerzeichen, Denn ſchneller, als ein Botenſegel fliegt, Soll euch die Botſchaft unſers Siegs erreichen; Und ſeht ihr leuchten die willkommnen Flammen, Dann auf die Feinde ſtürzt, wie Wetters Strahl, Und brecht den Bau der Tyrannei zuſammen. (Gehen ab.) 3. Szene Die hohle Gaſſe bei Küßnacht. Man ſteigt von hinten zwiſchen Felſen herunter, und die Wanderer werden, ehe ſie auf der Szene erſcheinen, ſchon von der Höhe geſehen. Felſen um— ſchließen die ganze Szene; auf einem der vorderſten iſt ein Vorſprung mit Geſträuch bewachſen. Tell tritt auf mit der Armbruſt. Durch dieſe hohle Gaſſe muß er kommen, Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht — Hier Vollend' ich's — Die Gelegenheit iſt günſtig. 2665 2570 2575 2580 2585 2590 2595 Vierter Aufzug. 3. Szene 247 Dort der Holunderſtrauch verbirgt mich ihm, Von dort herab kann ihn mein Pfeil erlangen, Des Weges Enge wehret den Verfolgern. Mach' deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, Fort mußt du, deine Uhr iſt abgelaufen. Ich lebte ſtill und harmlos — Das Geſchoß War auf des Waldes Tiere nur gerichtet, Meine Gedanken waren rein von Mord — Du haſt aus meinem Frieden mich heraus Geſchreckt, in gärend Drachengift haſt du Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt, Zum Ungeheuren haſt du mich gewöhnt — Wer ſich des Kindes Haupt zum Ziele ſetzte, Der kann auch treffen in das Herz des Feinds. Die armen Kindlein, die unſchuldigen, Das treue Weib muß ich vor deiner Wut Beſchützen, Landvogt. — Da, als ich den Bogenſtrang Anzog — als mir die Hand erzitterte — Als du mit grauſam teufeliſcher Luſt Mich zwangſt, aufs Haupt des Kindes anzulegen — Als ich ohnmächtig flehend rang vor dir, Damals gelobt' ich mir in meinem Innern Mit furchtbarm Eidſchwur, den nur Gott gehört, Daß meines nächſten Schuſſes erſtes Ziel Dein Herz ſein ſollte — Was ich mir gelobt In jenes Augenblickes Höllenqualen, Iſt eine heil'ge Schuld — ich will ſie zahlen. Du biſt mein Herr und meines Kaiſers Vogt, Doch nicht der Kaiſer hätte ſich erlaubt, Was du — Er ſandte dich in dieſe Lande, Um Recht zu ſprechen — ſtrenges, denn er zürnet — Doch nicht, um mit der mörderiſchen Luſt 2600 2605 2610 2615 2620 2625 248 Wilhelm Tell Dich jedes Greuels ſtraflos zu erfrechen: Es lebt ein Gott, zu ſtrafen und zu rächen. Komm du hervor, du Bringer bittrer Schmerzen, Mein teures Kleinod jetzt, mein höchſter Schatz — Ein Ziel will ich dir geben, das bis jetzt Der frommen Bitte undurchdringlich war — Doch dir ſoll es nicht widerſtehn — Und du, Vertraute Bogenſehne, die ſo oft Mir treu gedient hat in der Freude Spielen, Verlaß mich nicht im fürchterlichen Ernſt. Nur jetzt noch halte feſt, du treuer Strang, Der mir ſo oft den herben Pfeil beflügelt — Entränn' er jetzo kraftlos meinen Händen, Ich habe keinen zweiten zu verſenden. (Wanderer gehen über die Szene.) Auf dieſer Bank von Stein will ich mich ſetzen, Dem Wanderer zur kurzen Ruh bereitet — Denn hier iſt keine Heimat — Jeder treibt Sich an dem andern raſch und fremd vorüber Und fraget nicht nach ſeinem Schmerz — Hier geht Der ſorgenvolle Kaufmann und der leicht Geſchürzte Pilger — der andächt'ge Mönch, Der düſtre Räuber und der heitre Spielmann, Der Säumer mit dem ſchwerbeladnen Roß, Der ferne herkommt von der Menſchen Ländern, Denn jede Straße führt ans End' der Welt. Sie alle ziehen ihres Weges fort An ihr Geſchäft — und meines ijt der Mord! Gest fig.) Sonſt, wenn der Vater auszog, liebe Kinder, Da war ein Freuen, wenn er wiederfam; Denn niemals kehrt' er heim, er bracht' euch etwas, War's eine ſchöne Alpenblume, war's 2630 2635 2640 2645 2650 Vierter Aufzug. 3. Szene 249 Ein ſeltner Vogel oder Ammonshorn, Wie es der Wandrer findet auf den Bergen — Jetzt geht er einem andern Weidwerk nach, Am wilden Weg ſitzt er mit Mordgedanken: Des Feindes Leben iſt's, worauf er lauert. — Und doch an euch nur denkt er, lieben Kinder, Auch jetzt — Euch zu verteid'gen, eure holde Unſchuld Zu ſchützen vor der Rache des Tyrannen, Will er zum Morde jetzt den Bogen ſpannen! Steht auf.) Ich laure auf ein edles Wild — Läßt ſich's Der Jäger nicht verdrießen, tagelang Umherzuſtreifen in des Winters Strenge, Von Fels zu Fels den Wageſprung zu tun, Hinanzuklimmen an den glatten Wänden, Wo er ſich anleimt mit dem eignen Blut, — Um ein armſelig Grattier zu erjagen. Hier gilt es einen köſtlicheren Preis, Das Herz des Todfeinds, der mich will verderben. (Man hört von ferne eine heitre Muſik, welche ſich nähert.) Mein ganzes Leben lang hab' ich den Bogen Gehandhabt, mich geübt nach Schützenregel, Ich habe oft geſchoſſen in das Schwarze Und manchen ſchönen Preis mir heimgebracht Vom Freudenſchießen — Aber heute will ich Den Meiſterſchuß tun und das Beſte mir Im ganzen Umkreis des Gebirgs gewinnen. Eine Hochzeit zieht über die Szene und durch den Hohlweg hinauf. Tell betrachtet fie, auf ſeinen Bogen gelehnt, Stüſſi der Flurſchütz geſellt ſich zu ihm. Stüſſi. Das iſt der Kloſtermei'r von Mörliſchachen, Der hier den Brautlauf hält — Ein reicher Mann, Er hat wohl zehen Senten auf den Alpen. 2655 2660 2665 2670 2675 250 Wilhelm Tell Die Braut holt er jetzt ab zu Imiſee, Und dieſe Nacht wird hoch geſchwelgt zu Küßnacht. Kommt mit! 's iſt jeder Biedermann geladen. Tell. Ein ernſter Gaſt ſtimmt nicht zum Hochzeithaus. Stüſſi. Drückt Euch ein Kummer, werft ihn friſch vom Herzen! Nehmt mit, was kommt, die Zeiten ſind jetzt ſchwer. Drum muß der Menſch die Freude leicht ergreifen. Hier wird gefreit und anderswo begraben. Tell. Und oft kommt gar das eine zu dem andern. Stüſſi. So geht die Welt nun. Es gibt allerwegen Unglücks genug — Ein Ruffi iſt gegangen Im Glarner Land, und eine ganze Seite Vom Glärniſch eingeſunken. Tell. Wanken auch Die Berge ſelbſt? Es ſteht nichts feſt auf Erden. Stüſſi. Auch anderswo vernimmt man Wunderdinge. Da ſprach ich einen, der von Baden kam. Ein Ritter wollte zu dem König reiten, Und unterwegs begegnet ihm ein Schwarm Von Horniſſen, die fallen auf ſein Roß, Daß es für Marter tot zu Boden ſinkt Und er zu Fuße ankommt bei dem König. Tell. Dem Schwachen iſt ſein Stachel auch gegeben. 2680 2685 2690 Vierter Aufzug. 3. Szene 251 Armgard kommt mit mehreren Kindern und ſtellt ſich an den Eingang des Hohlwegs. Stüſſt. Man deutet's auf ein großes Landesunglück, Auf ſchwere Taten wider die Natur. Tell. Dergleichen Taten bringet jeder Tag, Kein Wunderzeichen braucht ſie zu verkünden. Stüſſi. Ja, wohl dem, der ſein Feld beſtellt in Ruh Und ungekränkt daheim ſitzt bei den Seinen. Tell. Es kann der Frömmſte nicht im Frieden bleiben, Wenn es dem böſen Nachbar nicht gefällt. (Tell ſieht oft mit unruhiger Erwartung nach der Höhe des Weges.) Stilt. Gehabt Euch wohl — Ihr wartet hier auf jemand? Tell. Das tu' ich. Stüſſi. Frohe Heimkehr zu den Euren! — Ihr ſeid aus Uri? Unſer gnäd'ger Herr Der Landvogt wird noch heut' von dort erwartet. Wanderer (kommt). Den Vogt erwartet heut' nicht mehr. Die Waſſer Sind ausgetreten von dem großen Regen, Und alle Brücken hat der Strom zerriſſen. (Tell ſteht auf.) Armgard (kommt vorwärts). Der Landvogt kommt nicht! 2695 2700 252 Wilhelm Tell Stüſſi. Sucht Ihr was an ihn? Armgard. Atüſſi. Warum ſtellet Ihr Euch denn In dieſer hohlen Gaſſ' ihm in den Weg? Armgard. Hier weicht er mir nicht aus, er muß mich hören. Ach freilich! Trießhart (kommt eilfertig den Hohlweg herab und ruft in die Szene). Man fahre aus dem Weg — Mein gnäd'ger Herr Der Landvogt kommt dicht hinter mir geritten. (Tell geht ab.) Armgard (lebhaft). Der Landvogt kommt! (Sie geht mit ihren Kindern nach der vordern Szene. Geßler und Rudolf der Harras zeigen ſich zu Pferd auf der Höhe des Wegs.) Stüſſi (zum Frießhart). Wie kamt ihr durch das Waſſer, Da doch der Strom die Brücken fortgeführt? Trießhart. Wir haben mit dem See gefochten, Freund, Und fürchten uns vor keinem Alpenwaſſer. Stüſſi. Ihr wart zu Schiff in dem gewalt'gen Sturm? Frießhart. Das waren wir. Mein Lebtag denk' ich dran — Stüſſi. O bleibt, erzählt! 2705 2710 2715 2720 2725 Vierter Aufzug. 3. Szene 253 Frießhart. Laßt mich, ich muß voraus, Den Landvogt muß ich in der Burg verkünden. (Ab.) Stüſſi. Wär'n gute Leute auf dem Schiff geweſen, In Grund geſunken wär's mit Mann und Maus: Dem Volk kann weder Waſſer bei noch Feuer. (Er ſieht ſich um.) Wo kam der Weidmann hin, mit dem ich ſprach? (Geht ab.) Geßler und Rudolf der Harras zu Pferd. Geßler. Sagt, was Ihr wollt, ich bin des Kaiſers Diener Und muß drauf denken, wie ich ihm gefalle. Er hat mich nicht ins Land geſchickt, dem Volk Zu ſchmeicheln und ihm ſanft zu tun — Gehorſam Erwartet er; der Streit iſt, ob der Bauer Soll Herr ſein in dem Lande oder der Kaiſer. Armgard. Jetzt iſt der Augenblick! Jetzt bring' ich's an! (Nähert ſich furchtſam.) Geßler. Ich hab' den Hut nicht aufgeſteckt zu Altdorf Des Scherzes wegen, oder um die Herzen Des Volks zu prüfen; dieſe kenn' ich längſt. Ich hab' ihn aufgeſteckt, daß ſie den Nacken Mir lernen beugen, den ſie aufrecht tragen — Das Un bequeme hab' ich hingepflanzt Auf ihren Weg, wo ſie vorbeigehn müſſen, Daß ſie drauf ſtoßen mit dem Aug' und ſich Erinnern ihres Herrn, den ſie vergeſſen. Nudolf der Harras. Das Volk hat aber doch gewiſſe Rechte — 254 Wilhelm Tell Geßler. Die abzuwägen, iſt jetzt keine Zeit! — Weitſchicht'ge Dinge ſind im Werk und Werden, Das Kaiſerhaus will wachſen; was der Vater 2730 Glorreich begonnen, will der Sohn vollenden. Dies kleine Volk iſt uns ein Stein im Weg — So oder ſo — Es muß ſich unterwerfen. (Sie wollen vorüber. Die Frau wirft ſich vor dem Landvogt nieder.) Armgard. Barmherzigkeit, Herr Landvogt! Gnade! Gnade! Geßler. Was dringt Ihr Euch auf offner Straße mir 2735 In Weg — Zurück! Armgard. Mein Mann liegt im Gefängnis, Die armen Waiſen ſchrein nach Brot — Habt Mitleid, Geſtrenger Herr, mit unſerm großen Elend. Rudolf der Harras. Wer ſeid Ihr? Wer iſt Euer Mann? Armgard. Ein armer Wildheuer, guter Herr, vom Rigiberge, 2740 Der überm Abgrund weg das freie Gras Abmähet von den ſchroffen Felſenwänden, Wohin das Vieh ſich nicht getraut zu ſteigen — Rudolf der Harras (zum Landvogt). Bei Gott, ein elend und erbärmlich Leben! Ich bitt' Euch, gebt ihn los, den armen Mann, 2745 Was er auch Schweres mag verſchuldet haben, Strafe genug iſt ſein entſetzlich Handwerk. (Zu der Frau.) Euch ſoll Recht werden — Drinnen auf der Burg Nennt Eure Bitte — hier iſt nicht der Ort. 2750 2756 2760 2765 Vierter Aufzug. 3. Szene 255 Armgard. Nein, nein, ich weiche nicht von dieſem Platz, Bis mir der Vogt den Mann zurückgegeben! Schon in den ſechſten Mond liegt er im Turm Und harret auf den Richterſpruch vergebens. Geßler. Weib, wollt Ihr mir Gewalt antun? Hinweg! f Armgard. Gerechtigkeit, Landvogt! Du biſt der Richter Im Lande an des Kaiſers Statt und Gottes. Tu deine Pflicht! So du Gerechtigkeit Vom Himmel hoffeſt, ſo erzeig' ſie uns. Geßler. Fort, ſchafft das freche Volk mir aus den Augen. Armgard (greift in die Zügel des Pferdes). Nein, nein, ich habe nichts mehr zu verlieren. — Du kommſt nicht von der Stelle, Vogt, bis du Mir Recht geſprochen — Falte deine Stirne, Rolle die Augen, wie du willſt — Wir ſind So grenzenlos unglücklich, daß wir nichts Nach deinem Zorn mehr fragen — Geßler. Weib, mach' Platz, Oder mein Roß geht über dich hinweg. Armgard. Laß es über mich dahin gehn — da — (Sie reißt ihre Kinder zu Boden und wirft ſich mit ihnen ihm in den Weg.) Hier lieg' ich Mit meinen Kindern — Laß die armen Waiſen Von deines Pferdes Huf zertreten werden, Es iſt das Argſte nicht, was du getan — 2770 2775 2780 2785 256 Wilhelm Tell Rudolf der Harras. Weib, ſeid Ihr raſend? Armgard (heftiger fortfahrend). Trateſt du doch längſt Das Land des Kaiſers unter deine Füße! — O, ich bin nur ein Weib! Wär' ich ein Mann, Ich wüßte wohl was Beſſeres, als hier Im Staub zu liegen — (Man hört die vorige Muſik wieder auf der Höhe des Wegs, aber gedämpft.) Geßler. Wo ſind meine Knechte? Man reiße ſie von hinnen, oder ich Vergeſſe mich und tue, was mich reuet. Rudolf der Harras. Die Knechte können nicht hindurch, o Herr, Der Hohlweg iſt geſperrt durch eine Hochzeit. Geßler. Ein allzu milder Herrſcher bin ich noch Gegen dies Volk — die Zungen ſind noch frei, Es ijt noch nicht ganz, wie es ſoll, gebändigt — Doch es ſoll anders werden, ich gelob' es, Ich will ihn brechen, dieſen ſtarren Sinn, Den kecken Geiſt der Freiheit will ich beugen. Ein neu Geſetz will ich in dieſen Landen Verkündigen — Ich will — (Ein Pfeil durchbohrt ihn, er fährt mit der Hand ans Herz und will ſinken. Mit matter Stimme.) Gott ſei mir gnädig! Vudolf der Harras. Herr Landvogt — Gott, was iſt das? Woher kam das? 2790 2795 2800 Vierter Aufzug. 3. Szene 257 Armgard (auffahrend). Mord! Mord! Er taumelt, ſinkt! Er iſt getroffen! Mitten ins Herz hat ihn der Pfeil getroffen! Rudolf der Harras (ſpringt vom Pferde). Welch gräßliches Ereignis — Gott — Herr Ritter — Ruft die Erbarmung Gottes an — Ihr ſeid Ein Mann des Todes! — Geßler. Das iſt Tells Geſchoß. (Iſt vom Pferd herab dem Rudolf Harras in den Arm gegleitet und wird auf der Bank niedergelaſſen.) Tell lerſcheint oben auf der Höhe des Felſen). Du kennſt den Schützen, ſuche keinen andern! Frei ſind die Hütten, ſicher iſt die Unſchuld Vor dir, du wirſt dem Lande nicht mehr ſchaden. (Verſchwindet von der Höhe. Volk ſtürzt herein.) Stüſſi (voran). Was gibt es hier? Was hat ſich zugetragen? Armgard. Der Landvogt iſt von einem Pfeil durchſchoſſen. Volk (im Hereinſtürzen). Wer iſt erſchoſſen? (Indem die vorderſten von dem Brautzug auf die Szene kommen, ſind die hinterſten noch auf der Höhe, und die Muſik geht fort.) Rudolf der Harras. Er verblutet ſich. Fort, ſchaffet Hilfe! Setzt dem Mörder nach! — Verlorner Mann, ſo muß es mit dir enden, Doch meine Warnung wollteſt du nicht hören! Stüſſi. Bei Gott! da liegt er bleich und ohne Leben! Schillers Werke. VII. 17 2805 2810 2815 258 Wilhelm Tell Viele Stimmen. Wer hat die Tat getan? Rudolf der Harras. Raſt dieſes Volk, Daß es dem Mord Muſik macht? Laßt ſie ſchweigen. (Muſik bricht plötzlich ab, es kommt noch mehr Volk nach.) Herr Landvogt, redet, wenn Ihr könnt — Habt Ihr Mir nichts mehr zu vertraun? (Geßler gibt Zeichen mit der Hand, die er mit Heftigkeit wiederholt, da ſie nicht gleich verſtanden werden.) Wo ſoll ich hin? — Nach Küßnacht? — Ich verſteh' Euch nicht — O werdet Nicht ungeduldig — Laßt das Irdiſche, Denkt jetzt, Euch mit dem Himmel zu verſöhnen. (Die ganze Hochzeitgeſellſchaft umſteht den Sterbenden mit einem fühl⸗ loſen Grauſen.) Stüſſi. Sieh, wie er bleich wird — Jetzt, jetzt tritt der Tod Ihm an das Herz — die Augen ſind gebrochen. Armgard (hebt ein Kind empor). Seht, Kinder, wie ein Wüterich verſcheidet! Rudolf der Harras. Wahnſinn'ge Weiber, habt ihr kein Gefühl, Daß ihr den Blick an dieſem Schrecknis weidet? — Helft — Leget Hand an — Steht mir niemand bei, Den Schmerzenspfeil ihm aus der Bruſt zu ziehn? Weiber (treten zurück). Wir ihn berühren, welchen Gott geſchlagen! Rudolf der Harras. Fluch treff' euch und Verdammnis! (Zieht das Schwert.) Vierter Aufzug. 3. Szene 259 Stüſſi (faut ihm in den Arm). Wagt es, Herr! Eu'r Walten hat ein Ende. Der Tyrann 2820 Des Landes iſt gefallen. Wir erdulden Keine Gewalt mehr. Wir ſind freie Menſchen. Alle (tumultuariſch). Das Land iſt frei! Nudolf der Harras. Iſt es dahin gekommen? Endet die Furcht ſo ſchnell und der Gehorſam? (Zu den Waffenknechten, die hereindringen.) Ihr ſeht die grauſenvolle Tat des Mords, 2825 Die hier geſchehen — Hilfe iſt umſonſt — Vergeblich iſt's, dem Mörder nachzuſetzen. Uns drängen andre Sorgen — Auf, nach Küßnacht, Daß wir dem Kaiſer ſeine Feſte retten! Denn aufgelöſt in dieſem Augenblick 2830 Sind aller Ordnung, aller Pflichten Bande, Und keines Mannes Treu iſt zu vertrauen. Indem er mit den Waffenknechten abgeht, erſcheinen ſechs barmherzige Brüder. Armgard. Platz! Platz! da kommen die barmherz'gen Brüder. Hit. Das Opfer liegt — Die Raben ſteigen nieder. Barmherzige Brüder (ſchließen einen Halbkreis um den Toten und ſingen in tiefem Ton). Raſch tritt der Tod den Menſchen an, 2835 Es iſt ihm keine Friſt gegeben; 260 Wilhelm Tell Es ſtürzt ihn mitten in der Bahn, Es reißt ihn fort vom vollen Leben. Bereitet oder nicht, zu gehen, Er muß vor ſeinen Richter ſtehen! (Indem die letzten Zeilen wiederholt werden, fällt der Vorhang.) Fünfter Aufzug 1. Szene Offentlicher Platz bei Altdorf. Im Hintergrunde rechts die Feſte Zwing Uri mit dem noch ſtehenden Bau- gerüſte, wie in der dritten Szene des erſten Aufzugs; links eine Ausſicht in viele Berge hinein, auf welchen allen Signalfeuer brennen. Es iſt eben Tagesanbruch, Glocken ertönen aus verſchiedenen Fernen. Ruodi, Kuoni, Werni, Meiſter Steinmetz und viele andre Land— leute, auch Weiber und Kinder. Nuodi. 2840 Seht ihr die Feuerſignale auf den Bergen? Steinmetz. Hört ihr die Glocken drüben überm Wald? Nuodi. Die Feinde ſind verjagt. Steinmetz. Die Burgen ſind erobert. Rudi. Und wir im Lande Uri dulden noch Auf unſerm Boden das Tyrannenſchloß? 2815 Sind wir die Letzten, die ſich frei erklären? 2850 2855 2860 Fünfter Aufzug. 1. Szene Steinmetz. Das Joch ſoll ſtehen, das uns zwingen wollte? Auf, reißt es nieder! Alle. Nieder! Nieder! Nieder! Ruodi, Wo ijt der Stier von Uri? Stier von Ari. Hier. Was ſoll ich? Nuodi. Steigt auf die Hochwacht, blaſt in Euer Horn, Daß es weitſchmetternd in die Berge ſchalle Und, jedes Echo in den Felſenklüften Aufweckend, ſchnell die Männer des Gebirgs Zuſammenrufe. Stier von Uri geht ab. Walter Fürſt kommt. Walter Fürſt. Haltet, Freunde! Haltet! Noch fehlt uns Kunde, was in Unterwalden Und Schwyz geſchehen. Laßt uns Boten erſt Erwarten. Ruodi. Was erwarten? Der Tyrann Iſt tot, der Tag der Freiheit iſt erſchienen. Steinmetz. Iſt's nicht genug an dieſen flammenden Boten, Die rings herum auf allen Bergen leuchten? Nuodi. 261 Kommt alle, kommt, legt Hand an, Männer und Weiber! Brecht das Gerüſte! Sprengt die Bogen! Reißt Die Mauern ein! Kein Stein bleib' auf dem andern. 2865 2870 2875 2880 262 Wilhelm Tell Steinmetz. Geſellen, kommt! Wir haben's aufgebaut, Wir wiſſen's zu zerſtören. Alle. Kommt! Reißt nieder. (Sie ſtürzen ſich von allen Seiten auf den Bau.) Walter Fürſt. Es iſt im Lauf. Ich kann ſie nicht mehr halten. Melchtal und Baumgarten kommen. Melchtal. Was? Steht die Burg noch, und Schloß Sarnen liegt In Aſche, und der Roßberg iſt gebrochen? Walter Fürſt. Seid Ihr es, Melchtal? Bringt Ihr uns die Freiheit? Sagt! Sind die Lande alle rein vom Feind? Melchtal (umarmt ihn). Rein iſt der Boden. Freut Euch, alter Vater! In dieſem Augenblicke, da wir reden, Iſt kein Tyrann mehr in der Schweizer Land. Walter Fürſt. O ſprecht, wie wurdet ihr der Burgen mächtig? Melchtal. Der Rudenz war es, der das Sarner Schloß Mit mannlich kühner Wagetat gewann, Den Roßberg hatt' ich Nachts zuvor erſtiegen. — Doch höret, was geſchah. Als wir das Schloß Vom Feind geleert, nun freudig angezündet, Die Flamme praſſelnd ſchon zum Himmel ſchlug, Da ſtürzt der Diethelm, Geßlers Bub, hervor Und ruft, daß die Bruneckerin verbrenne. 2885 2890 2895 2900 Fünfter Aufzug. 1. Szene 263 Walter Fürſt. Gerechter Gott! (Man hört die Balken des Gerüſtes ſtürzen.) Melchtal. Sie war es ſelbſt, war heimlich Hier eingeſchloſſen auf des Vogts Geheiß. Raſend erhub ſich Rudenz — denn wir hörten Die Balken ſchon, die feſten Pfoſten ſtürzen Und aus dem Rauch hervor den Jammerruf Der Unglückſeligen. Walter Fürſt. Sie iſt gerettet? Melchtal. Da galt Geſchwindſein und Entſchloſſenheit! — Wär' er nur unſer Edelmann geweſen, Wir hätten unſer Leben wohl geliebt, Doch er war unſer Eidgenoß, und Berta Ehrte das Volk — So ſetzten wir getroſt Das Leben dran und ſtürzten in das Feuer. Walter Fürſt. Sie iſt gerettet? Melchtal. Sie iſt's. Rudenz und ich, Wir trugen ſie ſelbander aus den Flammen, Und hinter uns fiel krachend das Gebälk. — Und jetzt, als ſie gerettet ſich erkannte, Die Augen aufſchlug zu dem Himmelslicht, Jetzt ſtürzte mir der Freiherr an das Herz, Und ſchweigend ward ein Bündnis jetzt beſchworen, Das, feſt gehärtet in des Feuers Glut, Beſtehen wird in allen Schickſalsproben — 264 Wilhelm Tell Walter Fürſt. Wo iſt der Landenberg? Melchtal. Über den Brünig. Nicht lag's an mir, daß er das Licht der Augen 2005 Davontrug, der den Vater mir geblendet. Nach jagt' ich ihm, erreicht' ihn auf der Flucht Und riß ihn zu den Füßen meines Vaters. Geſchwungen über ihm war ſchon das Schwert — Von der Barmherzigkeit des blinden Greiſes 2010 Erhielt er flehend das Geſchenk des Lebens. Urfehde ſchwur er, nie zurückzukehren; Er wird ſie halten, unſern Arm hat er Gefühlt. Walter Fürſt. Wohl Euch, daß Ihr den reinen Sieg Mit Blute nicht geſchändet! Kinder (eilen mit Trümmern des Gerüſtes über die Szene). Freiheit! Freiheit! (Das Horn von Uri wird mit Macht geblaſen.) Walter Fürſt. 2018 Seht, welch ein Feſt! Des Tages werden ſich Die Kinder ſpät als Greiſe noch erinnern. (Mädchen bringen den Hut auf einer Stange getragen, die ganze Szene füllt ſich mit Volk an.) Nuodi. Hier iſt der Hut, dem wir uns beugen mußten. Baumgarten. Gebt uns Beſcheid, was damit werden ſoll. Walter Fürſt. Gott! Unter dieſem Hute ſtand mein Enkel! Fünfter Aufzug. 1. Szene 265 Mehrere Stimmen. 2920 Zerſtört das Denkmal der Tyrannenmacht! Ins Feuer mit ihm! Walter Fürſt. Nein, laßt ihn aufbewahren! Der Tyrannei mußt' er zum Werkzeug dienen, Er ſoll der Freiheit ewig Zeichen ſein! (Die Landleute, Männer, Weiber und Kinder ſtehen und ſitzen auf den Balken des zerbrochenen Gerüſtes maleriſch gruppiert in einem großen Halbkreis umher.) Melchtal. So ſtehen wir nun fröhlich auf den Trümmern 29025 Der Tyrannei, und herrlich iſt's erfüllt, Was wir im Rütli ſchwuren, Eidgenoſſen. Walter Fürſt. Das Werk iſt angefangen, nicht vollendet. Jetzt iſt uns Mut und feſte Eintracht not, Denn ſeid gewiß, nicht ſäumen wird der König, 2930 Den Tod zu rächen ſeines Vogts und den Vertriebnen mit Gewalt zurückzuführen. Melchtal. Er zieh' heran mit ſeiner Heeresmacht: Iſt aus dem Innern doch der Feind verjagt, Dem Feind von außen wollen wir begegnen. Nuodi. 2035 Nur wen'ge Päſſe öffnen ihm das Land, Die wollen wir mit unſern Leibern decken. Baumgarten. Wir ſind vereinigt durch ein ewig Band, Und ſeine Heere ſollen uns nicht ſchrecken! 2940 2945 266 Wilhelm Tell Röſſelmann und Stauffacher kommen. Röſſelmann (im Eintreten). Das ſind des Himmels furchtbare Gerichte. Landleute. Was gibt's? Nöſſelmann. In welchen Zeiten leben wir! Walter Fürſt. Sagt an, was iſt es? — Ha, ſeid Ihr's, Herr Werner? Was bringt Ihr uns? Tandleute. Was gibt's? Nöſſelmann. Hört und erſtaunet! Stauffacher. Von einer großen Furcht ſind wir befreit — Nöſſelmann. Der Kaiſer iſt ermordet. Walter Fürſt. Gnäd'ger Gott! (Landleute machen einen Aufſtand und umdrängen den Stauffacher.) Alle. Ermordet! Was! Der Kaiſer! Hört! Der Kaiſer! Melchtal. Nicht möglich! Woher kam Euch dieſe Kunde? Stauffacher. Es iſt gewiß. Bei Bruck fiel König Albrecht Durch Mörders Hand — ein glaubenwerter Mann, Johannes Müller, bracht' es von Schaffhauſen. Fünfter Aufzug. 1. Szene 267 Walter Fürſt. 2050 Wer wagte ſolche grauenvolle Tat? Stauffacher. Sie wird noch grauenvoller durch den Täter. Es war ſein Neffe, ſeines Bruders Kind, Herzog Johann von Schwaben, der's vollbrachte. Melchtal. Was trieb ihn zu der Tat des Vatermords? Stauffacher. 2955 Der Kaiſer hielt das väterliche Erbe Dem ungeduldig Mahnenden zurück; Es hieß, er denk' ihn ganz darum zu kürzen, Mit einem Biſchofshut ihn abzufinden. Wie dem auch ſei — der Jüngling öffnete 2060 Der Waffenfreunde böſem Rat fein Ohr, Und mit den edeln Herrn von Eſchenbach, Von Tegerfelden, von der Wart und Palm Beſchloß er, da er Recht nicht konnte finden, Sich Rach' zu holen mit der eignen Hand. Walter Fürſt. 2965 O ſprecht, wie ward das Gräßliche vollendet? Stauffacher. Der König ritt herab vom Stein zu Baden, Gen Rheinfeld, wo die Hofſtatt war, zu ziehn, Mit ihm die Fürſten, Hans und Leopold, Und ein Gefolge hochgeborner Herren. 2070 Und als fie kamen an die Reuß, wo man Auf einer Fähre ſich läßt überſetzen, Da drängten ſich die Mörder in das Schiff, Daß ſie den Kaiſer vom Gefolge trennten. 268 Wilhelm Tell Drauf, als der Fürſt durch ein geackert Feld 2075 Hinreitet — eine alte große Stadt Soll drunter liegen aus der Heiden Zeit — Die alte Feſte Habsburg im Geſicht, Wo ſeines Stammes Hoheit ausgegangen — Stößt Herzog Hans den Dolch ihm in die Kehle, 2580 Rudolf von Palm durchrennt ihn mit dem Speer, Und Eſchenbach zerſpaltet ihm das Haupt, Daß er herunterſinkt in ſeinem Blut, Gemordet von den Seinen, auf dem Seinen. Am andern Ufer ſahen ſie die Tat, 2035 Doch, durch den Strom geſchieden, konnten fie Nur ein ohnmächtig Wehgeſchrei erheben; Am Wege aber ſaß ein armes Weib — In ihrem Schoß verblutete der Kaiſer. Melchtal. So hat er nur ſein frühes Grab gegraben, 200 Der unerſättlich alles wollte haben! Stauffacher. Ein ungeheurer Schrecken iſt im Land umher, Geſperrt ſind alle Päſſe des Gebirgs, Jedweder Stand verwahret ſeine Grenzen; Die alte Zürich ſelbſt ſchloß ihre Tore, 2095 Die dreißig Jahr lang offen ſtanden, zu, Die Mörder fürchtend und noch mehr — die Rächer. Denn mit des Bannes Fluch bewaffnet kommt Der Ungarn Königin, die ſtrenge Agnes, Die nicht die Milde kennet ihres zarten 3000 Geſchlechts, des Vaters königliches Blut Zu rächen an der Mörder ganzem Stamm, An ihren Knechten, Kindern, Kindeskindern, Ja an den Steinen ihrer Schlöſſer ſelbſt. 3005 3010 3016 3020 3025 Fünfter Aufzug. 1. Szene Geſchworen hat ſie, ganze Zeugungen Hinabzuſenden in des Vaters Grab, In Blut ſich wie in Maientau zu baden. Melchtal. Weiß man, wo ſich die Mörder hingeflüchtet? Stauffacher. Sie flohen alsbald nach vollbrachter Tat Auf fünf verſchiednen Straßen auseinander Und trennten ſich, um nie ſich mehr zu ſehn — Herzog Johann ſoll irren im Gebirge. Walter Fürſt. So trägt die Untat ihnen keine Frucht! Rache trägt keine Frucht! Sich ſelbſt iſt ſie Die fürchterliche Nahrung, ihr Genuß Iſt Mord, und ihre Sättigung das Grauſen. Stauffacher. Den Mördern bringt die Untat nicht Gewinn; Wir aber brechen mit der reinen Hand Des blut'gen Frevels ſegenvolle Frucht. Denn einer großen Furcht ſind wir entledigt: Gefallen iſt der Freiheit größter Feind, Und wie verlautet, wird das Zepter gehn Aus Habsburgs Haus zu einem andern Stamm, Das Reich will ſeine Wahlfreiheit behaupten. Walter Fürſt und mehrere. Vernahmt Ihr was? Stauffacher. Der Graf von Luxemburg Iſt von den mehrſten Stimmen ſchon bezeichnet. 269 3030 3035 3040 270 Wilhelm Tell Walter Fürſt. Wohl uns, daß wir beim Reiche treu gehalten: Jetzt iſt zu hoffen auf Gerechtigkeit! Stauffacher. Dem neuen Herrn tun tapfre Freunde not, Er wird uns ſchirmen gegen Sſtreichs Rache. (Die Landleute umarmen einander.) Sigriſt mit einem Reichs boten. Sigriſt. Hier ſind des Landes würd'ge Oberhäupter. Rofelmann und mehrere. Sigriſt, was gibt's? Sigriſt. Ein Reichsbot' bringt dies Schreiben. Alle (zu Walter Fürſt). Erbrecht und leſet. Walter Fürſt (left). „Den beſcheidnen Männern Von Uri, Schwyz und Unterwalden bietet Die Königin Elsbeth Gnad' und alles Gutes.“ Viele Stimmen. Was will die Königin? Ihr Reich iſt aus. Walter Fürſt (ieſt). „In ihrem großen Schmerz und Witwenleid, Worein der blut'ge Hinſcheid ihres Herrn Die Königin verſetzt, gedenkt ſie noch Der alten Treu und Lieb' der Schwyzerlande.“ Melchtal. In ihrem Glück hat ſie das nie getan. 3045 3050 3055 3060 3065 Fünfter Aufzug. 1. Szene Nöſſelmann. Still! Laſſet hören! Walter Fürſt (eft). „Und ſie verſieht ſich zu dem treuen Volk, Daß es gerechten Abſcheu werde tragen Vor den verfluchten Tätern dieſer Tat. Darum erwartet ſie von den drei Landen, Daß ſie den Mördern nimmer Vorſchub tun, Vielmehr getreulich dazu helfen werden, Sie auszuliefern in des Rächers Hand, Der Lieb' gedenkend und der alten Gunſt, Die ſie von Rudolfs Fürſtenhaus empfangen.“ (Zeichen des Unwillens unter den Landleuten.) Viele Stimmen. Der Lieb' und Gunſt! Stauffacher. Wir haben Gunſt empfangen von dem Vater, Doch weſſen rühmen wir uns von dem Sohn? Hat er den Brief der Freiheit uns beſtätigt, Wie vor ihm alle Kaiſer doch getan? Hat er gerichtet nach gerechtem Spruch Und der bedrängten Unſchuld Schutz verliehn? Hat er auch nur die Boten wollen hören, Die wir in unſrer Angſt zu ihm geſendet? Nicht eins von dieſem allen hat der König An uns getan, und hätten wir nicht ſelbſt Uns Recht verſchafft mit eigner mut'ger Hand, Ihn rührte unſre Not nicht an — Ihm Dank? Nicht Dank hat er geſät in dieſen Tälern. Er ſtand auf einem hohen Platz, er konnte Ein Vater ſeiner Völker ſein, doch ihm Gefiel es, nur zu ſorgen für die Seinen: Die er gemehrt hat, mögen um ihn weinen! 271 272 Wilhelm Tell Walter Fürſt. Wir wollen nicht frohlocken ſeines Falls, 3070 Nicht des empfangnen Böſen jetzt gedenken, Fern ſei's von uns! Doch, daß wir rächen ſollten Des Königs Tod, der nie uns Gutes tat, Und die verfolgen, die uns nie betrübten, Das ziemt uns nicht und will uns nicht gebühren. 307 Die Liebe will ein freies Opfer jein; Der Tod entbindet von erzwungnen Pflichten, — Ihm haben wir nichts weiter zu entrichten. Melchtal. Und weint die Königin in ihrer Kammer, Und klagt ihr wilder Schmerz den Himmel an, 3030 So ſeht ihr hier ein angſtbefreites Volk Zu eben dieſem Himmel dankend flehen — Wer Tränen ernten will, muß Liebe ſäen. (Reichsbote geht ab.) Stauffacher (zu dem Goll). Wo iſt der Tell? Soll er allein uns fehlen, Der unſrer Freiheit Stifter iſt? Das Größte zoss Hat er getan, das Härteſte erduldet, Kommt alle, kommt, nach ſeinem Haus zu wallen, Und rufet Heil dem Retter von uns allen. (Alle gehen ab.) 2. Szene Tells Hausflur. Ein Feuer brennt a dem Herd. Die 1 iu se zeigt ins Freie. Hedwig. Walter und Wilhel Hedwig. Heut' kommt der Vater. Kinder, liebe Kinder! Er lebt, iſt frei, und wir ſind frei und alles! 3000 Und euer Vater iſt's, der 's Land gerettet. Fünfter Aufzug. 2. Szene 273 Walter. Und ich bin auch dabei geweſen, Mutter! Mich muß man auch mit nennen. Vaters Pfeil Ging mir am Leben hart vorbei, und ich Hab' nicht gezittert. Hedwig (umarmt ihn). Ja, du biſt mir wieder 3095 Gegeben! Zweimal hab' ich dich geboren! Zweimal litt ich den Mutterſchmerz um dich! Es iſt vorbei — ich hab' euch beide, beide! Und heute kommt der liebe Vater wieder! Ein Mönch erſcheint an der Haustüre. Wilhelm. Sieh, Mutter, ſieh — dort ſteht ein frommer Bruder, 3100 Gewiß wird er um eine Gabe flehn. Hedwig. Führ' ihn herein, damit wir ihn erquicken; Er fühl's, daß er ins Freudenhaus gekommen. (Geht hinein und kommt bald mit einem Becher wieder.) Wilhelm (zum Mönch). Kommt, guter Mann. Die Mutter will Euch laben. Walter. Kommt, ruht Euch aus und geht geſtärkt von dannen. Mönch (ſcheu umherblickend mit zerſtörten Zügen). 3103 Wo bin ich? Saget an, in welchem Lande? Walter. Seid Ihr verirret, daß Ihr das nicht wißt? Ihr ſeid zu Bürglen, Herr, im Lande Uri, Wo man hineingeht in das Schächental. Schillers Werke. VII. 18 274 Wilhelm Tell Mönch (zur Hedwig, welche zurückkommt). Seid Ihr allein? Iſt Euer Herr zu Hauſe? Hedwig. 3110 Ich erwart' ihn eben — doch was ijt Euch, Mann? Ihr ſeht nicht aus, als ob Ihr Gutes brächtet. — Wer Ihr auch ſeid, Ihr ſeid bedürftig, nehmt! (Reicht ihm den Becher.) Mönch. Wie auch mein lechzend Herz nach Labung ſchmachtet, Nichts rühr' ich an, bis Ihr mir zugeſagt — Hedwig. 11s Berührt mein Kleid nicht, tretet mir nicht nah, Bleibt ferne ſtehn, wenn ich Euch hören ſoll. Mönch. Bei dieſem Feuer, das hier gaſtlich lodert, Bei Eurer Kinder teurem Haupt, das ich Umfaſſe — Ergreift die Knaben.) Hedwig. Mann, was ſinnet Ihr? Zurück 3120 Von meinen Kindern! — Ihr ſeid kein Mönch! Ihr ſeid Es nicht! Der Friede wohnt in dieſem Kleide, In Euren Zügen wohnt der Friede nicht. Mönch. Ich bin der unglückſeligſte der Menſchen. Hedwig. Das Unglück ſpricht gewaltig zu dem Herzen, 3125 Doch Euer Blick ſchnürt mir das Innre zu. Walter (aufſpringend). Mutter, der Vater! (Cit hinaus.) 3130 8135 Fünfter Aufzug. 2 Szene 275 Hedwig. O mein Gott! (Will nach, zittert und hält ſich an.) Wilhelm (eilt nach). Der Vater! Walter (draußen). Da biſt du wieder! Wilhelm (draußen). Vater, lieber Vater! Tell (draußen). Da bin ich wieder — Wo iſt eure Mutter? (Treten herein.) Walter. Da ſteht ſie an der Tür und kann nicht weiter, So zittert ſie für Schrecken und für Freude. Tell. O Hedwig, Hedwig! Mutter meiner Kinder! Gott hat geholfen — Uns trennt kein Tyrann mehr. Hedwig (an ſeinem Halſe). O Tell! Tell! Welche Angſt litt ich um dich! (Mönch wird aufmerkſam.) Tell. Vergiß ſie jetzt und lebe nur der Freude! Da bin ich wieder! Das iſt meine Hütte! Ich ſtehe wieder auf dem Meinigen! Wilhelm. Wo aber haſt du deine Armbruſt, Vater? Ich ſeh' ſie nicht. 276 Wilhelm Tell Tell. Du wirſt ſie nie mehr ſehn. An heil'ger Stätte iſt ſie aufbewahrt, 3140 Sie wird hinfort zu keiner Jagd mehr dienen. Hedwig. O Tell! Tell! cCcritt zurück, läßt ſeine Hand los.) Tell. Was erſchreckt dich, liebes Weib? Hedwig. Wie — wie kommſt du mir wieder? — Dieſe Hand — Darf ich ſie faſſen? — Dieſe Hand — O Gott! Tell (herzlich und mutig). Hat euch verteidigt und das Land gerettet, 3145 Ich darf fie frei hinauf zum Himmel heben. (Mönch macht eine raſche Bewegung, er erblickt ihn.) Wer iſt der Bruder hier? Hedwig. Ach ich vergaß ihn! Sprich du mit ihm, mir graut in ſeiner Nähe. Mönch (tritt näher). Seid Ihr der Tell, durch den der Landvogt fiel? Tell. Der bin ich, ich verberg' es keinem Menſchen. Mönch. 8180 Ihr ſeid der Tell! Ach, es ijt Gottes Hand, Die unter Euer Dach mich hat geführt. Tell (mißt ihn mit den Augen). Ihr ſeid kein Mönch! Wer ſeid Ihr? Fünfter Aufzug. 2. Szene 277 Mönch. Ihr erſchlugt Den Landvogt, der Euch Böſes tat — Auch ich Hab' einen Feind erſchlagen, der mir Recht 155 Verſagte — Er war Euer Feind wie meiner — Ich hab' das Land von ihm befreit. Tell (zurückfahrend). Ihr ſeid — Entſetzen! — Kinder! Kinder, geht hinein. Geh, liebes Weib! Geh! Geh! — Unglücklicher, Ihr wäret — Hedwig. Gott, wer iſt es? Tell. Frage nicht! 3160 Fort! Fort! Die Kinder dürfen es nicht hören. Geh aus dem Hauſe — Weit hinweg — Du darfſt Nicht unter einem Dach mit dieſem wohnen. Hedwig. Weh mir, was iſt das? Kommt! Geht mit den Kindern.) Tell (zu dem Mönch). Ihr ſeid der Herzog Von Oſterreich — Ihr ſeid's! Ihr habt den Kaiſer 3165 Erſchlagen, Euern Ohm und Herrn. Johannes Parricida. Er war Der Räuber meines Erbes. Tell. Euern Ohm Erſchlagen, Euern Kaiſer! Und Euch trägt Die Erde noch! Euch leuchtet noch die Sonne! 3170 3175 3180 3185 278 Wilhelm Tell Parricida. Tell, hört mich, eh' Ihr — Tell. Von dem Blute triefend Des Vatermordes und des Kaiſermords, Wagſt du zu treten in mein reines Haus, Du wagſt's, dein Antlitz einem guten Menſchen Zu zeigen und das Gaſtrecht zu begehren? Parricida. Bei Euch hofft' ich Barmherzigkeit zu finden, Auch Ihr nahmt Rach' an Euerm Feind. Tell. Unglücklicher! Darfſt du der Ehrſucht blut'ge Schuld vermengen Mit der gerechten Notwehr eines Vaters? Haſt du der Kinder liebes Haupt verteidigt? Des Herdes Heiligtum beſchützt? das Schrecklichſte, Das Letzte von den Deinen abgewehrt? — Zum Himmel heb' ich meine reinen Hände, Verfluche dich und deine Tat — Gerächt Hab' ich die heilige Natur, die du Geſchändet — Nichts teil' ich mit dir — Gemordet Haſt du, ich hab' mein Teuerſtes verteidigt. Parricida. Ihr ſtoßt mich von Euch, troſtlos, in Verzweiflung? Tell. Mich faßt ein Grauſen, da ich mit dir rede. Fort! Wandle deine fürchterliche Straße, Laß rein die Hütte, wo die Unſchuld wohnt. Parricida (wendet ſich zu gehn). 8190 So kann ich, und fo will ich nicht mehr leben! 3195 3200 3205 3210 3215 Fünfter Aufzug. 2. Szene 279 Tell. Und doch erbarmt mich deiner — Gott des Himmels! So jung, von ſolchem adeligen Stamm, Der Enkel Rudolfs, meines Herrn und Kaiſers, Als Mörder flüchtig, hier an meiner Schwelle, Des armen Mannes, flehend und verzweifelnd — (Verhüllt ſich das Geſicht.) ; Parricida. O wenn Ihr weinen könnt, laßt mein Geſchick Euch jammern; es iſt fürchterlich — Ich bin Ein Fürſt — ich war's — ich konnte glücklich werden, Wenn ich der Wünſche Ungeduld bezwang. Der Neid zernagte mir das Herz — Ich ſah Die Jugend meines Vetters Leopold Gekrönt mit Ehre und mit Land belohnt, Und mich, der gleiches Alters mit ihm war, In ſklaviſcher Unmündigkeit gehalten — Tell. Unglücklicher, wohl kannte dich dein Ohm, Da er dir Land und Leute weigerte! Du ſelbſt mit raſcher, wilder Wahnſinnstat Rechtfertigſt furchtbar ſeinen weiſen Schluß. — Wo ſind die blut'gen Helfer deines Mords? Parricida. Wohin die Rachegeiſter ſie geführt. Ich ſah ſie ſeit der Unglückstat nicht wieder. Tell. Weißt du, daß dich die Acht verfolgt, daß du Dem Freund verboten und dem Feind erlaubt? Parricida. Darum vermeid' ich alle offne Straßen, An keine Hütte wag' ich anzupochen — 3220 3230 280 Wilhelm Tell Der Wüſte kehr' ich meine Schritte zu, Mein eignes Schrecknis irr' ich durch die Berge Und fahre ſchaudernd vor mir ſelbſt zurück, Zeigt mir ein Bach mein unglückſelig Bild. O wenn Ihr Mitleid fühlt und Menſchlichkeit — (Fällt vor ihm nieder.) Tell (abgewendet). Steht auf! Steht auf! Parricida. Nicht, bis Ihr mir die Hand gereicht zur Hilfe. Tell. Kann ich Euch helfen? Kann's ein Menſch der Sünde? Doch ſtehet auf — Was Ihr auch Grüßliches Verübt — Ihr ſeid ein Menſch — Ich bin es auch — Vom Tell ſoll keiner ungetröſtet ſcheiden — Was ich vermag, das will ich tun. Parricida (aufſpringend und ſeine Hand mit Heftigkeit ergreifend). O Tell! Ihr rettet meine Seele von Verzweiflung. Tell. Laßt meine Hand los — Ihr müßt fort. Hier könnt Ihr unentdeckt nicht bleiben, könnt entdeckt Auf Schutz nicht rechnen — Wo gedenkt Ihr hin? Wo hofft Ihr Ruh zu finden? Parricida. Weiß ich's? Ach! Tell. Hört, was mir Gott ins Herz gibt — Ihr müßt fort Ins Land Italien, nach Sankt Peters Stadt; 3235 3240 3245 3250 Fünfter Aufzug. 2. Szene 281 Dort werft Ihr Euch dem Papſt zu Füßen, beichtet Ihm Eure Schuld und löſet Eure Seele. Purricida. Wird er mich nicht dem Rächer überliefern? Tell. Was er Euch tut, das nehmet an von Gott. Parricida. Wie komm' ich in das unbekannte Land? Ich bin des Wegs nicht kundig, wage nicht Zu Wanderern die Schritte zu geſellen. Tell. Den Weg will ich Euch nennen, merket wohl! Ihr ſteigt hinauf, dem Strom der Reuß entgegen, Die wildes Laufes von dem Berge ſtürzt — Parricida lerſchrickt). Seh' ich die Reuß? Sie floß bei meiner Tat. Tell. Am Abgrund geht der Weg, und viele Kreuze Bezeichnen ihn, errichtet zum Gedächtnis Der Wanderer, die die Lawine begraben. Parricida. Ich fürchte nicht die Schrecken der Natur, Wenn ich des Herzens wilde Qualen zähme. Tell. Vor jedem Kreuze fallet hin und büßet Mit heißen Reuetränen Eure Schuld — Und ſeid Ihr glücklich durch die Schreckensſtraße, Sendet der Berg nicht ſeine Windeswehen 8255 3260 3265 3270 8276 282 Wilhelm Tell Auf Euch herab von dem beeiſten Joch, So kommt Ihr auf die Brücke, welche ſtäubet. Wenn ſie nicht einbricht unter Eurer Schuld, Wenn Ihr ſie glücklich hinter Euch gelaſſen, So reißt ein ſchwarzes Felſentor ſich auf — Kein Tag hat's noch erhellt — da geht Ihr durch, Es führt Euch in ein heitres Tal der Freude — Doch ſchnellen Schritts müßt Ihr vorüber eilen, Ihr dürft nicht weilen, wo die Ruhe wohnt. Parricida. O Rudolf! Rudolf! Königlicher Ahn! So zieht dein Enkel ein auf deines Reiches Boden! Tell. So immer ſteigend, kommt Ihr auf die Höhen Des Gotthards, wo die ew'gen Seen ſind, Die von des Himmels Strömen ſelbſt ſich füllen. Dort nehmt Ihr Abſchied von der deutſchen Erde, Und muntern Laufs führt Euch ein andrer Strom Ins Land Italien hinab, Euch das gelobte — (Man hört den Kuhreihen von vielen Alphörnern geblaſen.) Ich höre Stimmen. Fort! Hedwig (eilt herein). Wo biſt du, Tell? Der Vater kommt! Es nahn in frohem Zug Die Eidgenoſſen alle — Parricida (verhüllt ſich). Wehe mir! Ich darf nicht weilen bei den Glücklichen. Tell. Geh, liebes Weib. Erfriſche dieſen Mann, Belad ihn reich mit Gaben, denn ſein Weg 3285 Fünfter Aufzug. 3. Szene 283 Iſt weit, und keine Herberg' findet er. Eile! Sie nahn. Hedwig. Wer iſt es? Tell. Forſche nicht! Und wenn er geht, ſo wende deine Augen, Daß ſie nicht ſehen, welchen Weg er wandelt! Parrieida geht auf den Tell zu mit einer raſchen Bewegung, dieſer aber bedeutet ihn mit der Hand und geht. Wenn beide zu verſchiedenen Seiten abgegangen, verändert ſich der Schauplatz, und man ſieht in der Letzten Szene den ganzen Talgrund vor Tells Wohnung, nebſt den Anhöhen, welche ihn einſchließen, mit Landleuten beſetzt, welche fic) zu einem Ganzen grup⸗ pieren. Andre kommen über einen hohen Steg, der über den Schächen führt, gezogen. Walter Fürſt mit den beiden Knaben, Melchtal und Stauffacher kommen vorwärts, andre drängen nach; wie Tell heraustritt, empfangen ihn alle mit lautem Frohlocken. Alle. Es lebe Tell! der Schütz und der Erretter! Indem ſich die vorderſten um den Tell drängen und ihn umarmen, er— ſcheinen noch Rudenz und Berta, jener die Landleute, dieſe die Hedwig umarmend. Die Muſik vom Berge begleitet dieſe ſtumme Szene. Wenn ſie geendigt, tritt Berta in die Mitte des Volks. Berta. Landleute! Eidgenoſſen! Nehmt mich auf In euern Bund, die erſte Glückliche, Die Schutz gefunden in der Freiheit Land. In eure tapfre Hand leg' ich mein Recht — Wollt ihr als eure Bürgerin mich ſchützen? Tandleute. Das wollen wir mit Gut und Blut. 284 Wilhelm Tell Berta, Wohlan! So reich' ich dieſem Jüngling meine Rechte, 3290 Die freie Schweizerin dem freien Mann! Nudenz. Und frei erklär' ich alle meine Knechte. (Indem die Muſik von neuem raſch einfällt, fällt der Vorhang.) Semele in zwei Szenen Perſonen Juno. Semele, Prinzeſſin von Theben. Jupiter. Merkur. Die Handlung iſt im Palaſte des Kadmus zu Theben. 10 15 20 Erſte Szene Juno (ſteigt aus ihrem Wagen, von einer Wolke umgeben). Hinweg den geflügelten Wagen, Pfauen Junos! Erwartet mein Auf Cithärons wolkigtem Gipfel. (Wagen und Wolke verſchwinden.) Ha! ſei gegrüßt, Haus meines grauen Zornes! Sei grimmig mir gegrüßt, feindſelig Dach, Verhaßtes Pflaſter! — Hier alſo die Stätte, Wo wider meinen Torus Jupiter Im Angeſicht des keuſchen Tages frevelt! Hier, wo ein Weib ſich, eine Sterbliche Erfrecht, ein ſtaubgebildetes Geſchöpf, Den Donnerer aus meinem Arm zu ſchmeicheln, An ihren Lippen ihn gefangen hält! Juno! Juno! Einſam Stehſt du, ſtehſt verlaſſen Auf des Himmels Thron! Reichlich dampfen dir Altäre, Und dir beugt ſich jedes Knie. Was iſt ohne Liebe Ehre? Was der Himmel ohne ſie? Wehe, deinen Stolz zu beugen, Mußte Venus aus dem Schaume ſteigen — Götter betörte, Menſchen und Götter ihr zaubriſcher Blick! 25 30 35 40 45 50 288 Semele Wehe, deinen Gram zu mehren, Mußt' Hermione gebären, Und vernichtet iſt dein Glück! Bin ich nicht Fürſtin der Götter? Nicht Schweſter des Donnerers, Nicht die Gattin des herrſchenden Zeus? Achzen nicht die Achſen des Himmels Meinem Gebot? Umrauſcht nicht mein Haupt die olym⸗ piſche Krone? Ha! ich fühle mich! Kronos' Blut in den unſterblichen Adern, Königlich ſchwillt mein göttliches Herz. Rache! Rache! Soll ſie mich ungeſtraft ſchmähen? Ungeſtraft unter die ewigen Götter Werfen den Streit und die Eris rufen In den fröhlichen himmliſchen Saal? Eitle! Vergeſſene! Stirb und lerne am ſtygiſchen Strom Göttliches unterſcheiden von irdiſchem Staub! Deine Rieſenrüſtung mag dich erdrücken, Nieder dich ſchmettern Deine Götterſucht! Rachegepanzert Steig' ich vom hohen Olympus herab! Süße, verſtrickende, Schmeichelnde Reden Hab' ich erſonnen; Tod und Verderben Lauern darin. Horch, ihre Tritte! Sie naht! Erſte Szene 289 58 Naht dem Sturz, dem gewiſſen Verderben! Verhülle dich, Gottheit, in ſterblich Gewand! (Sie geht ab.) Semele (ruft in die Szene). Die Sonne neigt ſich ſchon! Jungfrauen, eilt, Durchwürzt den Saal mit ſüßen Ambradüften, Streut Roſen und Narziſſen rings umher, co Vergeßt auch nicht das goldgewebte Polſter — Er kommt noch nicht — die Sonne neigt ſich ſchon — Juno lin Geſtalt einer Alten hereinſtürzend). Gelobet ſeien die Götter! Meine Tochter! Semele. Ha! Wach' ich? Träum' ich? Götter! Beroe! Juno. Sollt' ihre alte Amme Semele os Vergeſſen haben? Semele. Beroe! Beim Zeus! Laß an mein Herz dich drücken — deine Tochter! Du lebſt! Was führt von Epidaurus dich Hieher zu mir? Wie lebſt du? Du biſt doch Noch immer meine Mutter? Juno. Deine Mutter! 70 Eh' nannteſt du mich fo. Semele. Du biſt es noch, Wirſt's bleiben, bis von Lethes Taumeltrank Ich trunken bin — Schillers Werke. VII. 19 80 85 90 290 Semele Juno. Bald wird wohl Beroe Vergeſſenheit aus Lethes Wellen trinken; Die Tochter Kadmus' trinkt vom Lethe nicht. Semele. Wie, meine Gute? Rätſelhaft war ſonſt Nie deine Rede, nie geheimnisvoll; Der Geiſt der grauen Haare ſpricht aus dir — Ich werde, ſagſt du, Lethes Trank nicht koſten? Juno. So ſagt' ich, ja! Was aber ſpotteſt du Der grauen Haare? — Freilich haben ſie Noch keinen Gott beſtricket wie die blonden! Semele. Verzeih der Unbeſonnenen! Wie wollt' ich Der grauen Haare ſpotten? Werden wohl Die meinen ewig blond vom Nacken fließen? Was aber war's, das zwiſchen deinen Zähnen Du murmelteſt? — Ein Gott? Juno. Sagt' ich, ein Gott? Nun ja, die Götter wohnen überall: Sie anzuflehn ſteht ſchwachen Menſchen ſchön. Die Götter ſind, wo du biſt — Semele! Was fragſt du mich? Semele. Boshaftes Herz! Doch ſprich, Was führte dich von Epidaurus her? Das doch wohl nicht, daß gern die Götter wohnen Um Semele? 95 100 106 110 115 120 Erſte Szene 291 Juno. Beim Jupiter, nur das! Welch Feuer fuhr in deinen Wangen auf, Als ich das Jupiter ausſprach? — nichts anders Als jenes, meine Tochter — ſchrecklich raſt Die Peſt zu Epidaurus, tötend Gift Iſt jeder Hauch, und jeder Atem würget; Den Sohn verbrennt die Mutter, ſeine Braut Der Bräutigam, die feuerflammenden Holzſtöße machen Tag aus Mitternacht, Und Klagen heulen raſtlos in die Luft; Unüberſchwänglich iſt das Weh! — entrüſtet Blickt Zeus auf unſer armes Volk herab; Vergebens ſtrömt ihm Opferblut, vergebens Zermartert am Altare ſeine Knie Der Prieſter, taub iſt unſerm Flehn ſein Ohr — Drum ſandt' zu Kadmus' Königstochter mich Mein wehbelaſtet Vaterland, ob ich Von ihr erbitten könnte, ſeinen Grimm Von uns zu wenden — Beroe, die Amme, Gilt viel, gedachten ſie, bei Semelen — bei Zeus Gilt Semele ſo viel — mehr weiß ich nicht, Verſteh' noch weniger, was ſie damit Bedeuten: Semele vermag bei Zeus ſo viel. Semele (heftig und vergeffen). Die Peſt wird morgen weichen — ſag's dem Volk, Zeus liebt mich! ſag's! heut' muß die Peſt noch weichen! Juno (auffabrend mit Staunen). Ha! iſt es wahr, was tauſendzüngiges Gerücht Vom Ida bis zum Hämus hat geplaudert? Zeus liebt dich? Zeus grüßt dich in aller Pracht, Worin des Himmels Bürger ihn beſtaunen, Wenn in Saturnias Umarmungen er ſinkt? — 125 130 135 140 146 150 292 Semele Laßt, Götter! laßt die grauen Haare nun Zum Orkus fahren — ſatt hab' ich gelebt — In ſeiner Götterpracht ſteigt Kronos' großer Sohn Zu ihr, zu ihr, die einſt an dieſer Bruſt Getrunken hat — zu ihr — Semele. O Beroe! Er kam, Ein ſchöner Jüngling, reizender, als keiner Auroras Schoß entfloſſen, paradieſiſch reiner Als Heſperus, wenn er balſamiſch haucht, In Atherflut die Glieder eingetaucht, Voll Ernſt ſein Gang und majeſtätiſch, wie Hyperions, wenn Köcher, Pfeil und Bogen Die Schultern niederſchwirren, wie Vom Ozean ſich heben Silberwogen, Auf Maienlüften hintennachgeflogen Sein Lichtgewand, die Stimme Melodie, Wie Silberklang aus fließenden Kriſtallen — Entzückender, als Orpheus' Saiten ſchallen — Juno. Ha! meine Tochter! — die Begeiſterung Erhebt dein Herz zum helikonſchen Schwung! Wie muß das Hören ſein, wie himmelvoll das Blicken, Wenn ſchon die ſterbende Erinnerung Von hinnen rückt in delphiſchem Entzücken! — Wie aber? warum ſchweigſt du mir Das Koſtbarſte? Kronions höchſte Zier, Die Majeſtät auf roten Donnerkeilen, Die durch zerriſſene Wolken eilen, Willſt du mir geizig ſchweigen? — Liebereiz Mag auch Prometheus und Deukalion Verliehen haben — Donner wirft nur Zeus! Die Donner, die zu deinen Füßen 155 160 Erſte Szene 293 Er niederwarf, die Donner ſind es nur, Die zu der Herrlichſten auf Erden dich gemacht. — N Semele. Wie, was ſagſt du? hier iſt von keinen Donnern Die Rede. — Juno (lächelnd). Semele! auch Scherzen ſteht dir ſchön! Semele, So himmliſch wie mein Jupiter war noch Kein Sohn Deukalions — von Donnern weiß ich nichts! Juno. Fy! Eiferſucht! Semele. Nein, Beroe! beim Zeus! Juno. Du ſchwörſt? Semele. Beim Zeus! Bei meinem Zeus! Juno (cchreiend). Du ſchwörſt? Unglückliche! Semele längſtlich). Wie wird dir? Beroe! Juno. Sprich's noch einmal, das Wort, das zur Elendeſten Auf Tellus' ganzem großen Rund dich macht! — Verlorene! das war nicht Zeus! Semele, Nicht Zeus, 165 Abſcheuliche? 170 175 180 185 190 294 Semele Juno. Ein liſtiger Betrüger Aus Attika, der unter Gottes Larve Dir Ehre, Scham und Unſchuld wegbetrog — (Semele ſinkt um.) Ja, ſtürz' nur hin! Steh ewig niemals auf! Laß ew'ge Nacht dein Licht verſchlingen, laß Um dein Gehör ſich lagern ew'ge Stille! Bleib ewig hier, ein Felſenzacken, kleben! — O Schande! Schande! die den keuſchen Tag Zurück in Hekates Umarmung ſchleudert! So, Götter! Götter! ſo muß Beroe Nach ſechzehn ſchwer durchlebten Trennungsjahren Die Tochter Kadmus' wiederſehn! — Frohlockend Zog ich von Epidaurus her — mit Scham Muß ich zurück nach Epidaurus kehren! — Verzweiflung bring' ich mit! O Jammer! O mein Volk! Die Peſt mag ruhig bis zur zwoten Überſchwemmung Fortwüten, mag mit aufgebäumten Leichen Den Oeta übergipfeln, mag Ganz Griechenland in ein Gebeinhaus wandeln, Eh' Semele den Grimm der Götter beugt. Betrogen ich und du und Griechenland und alles! Semele (richtet ſich zitternd auf und ſtreckt einen Arm nach ihr aus). O meine Beroe! Juno. Ermuntre dich, mein Herz! Vielleicht iſt's Zeus! Wahrſcheinlich doch wohl nicht! Vielleicht iſt's dennoch Zeus! Itzt müſſen wir's erfahren! Itzt muß er ſich enthüllen, oder du Fliehſt ewig ſeine Spur, gibſt den Abſcheulichen Der ganzen Todesrache Thebens preis. — Schau', teure Tochter, auf — ſchau' deiner Beroe 195 200 205 210 Erſte Szene 295 Ins Angeſicht, das ſympathetiſch dir Sich öffnet — wollen wir ihn nicht Verſuchen, Semele? Semele. Nein, bei den Göttern! Ich würd' ihn dann nicht finden — Juno. Würdeſt du Wohl minder elend ſein, wenn du in bangen Zweifeln Fortſchmachteteſt — und wenn er's dennoch wäre — Semele (verbirgt das Haupt in Junos Schoß). Ach! Er iſt's nicht! Juno. Und ſich in allem Glanz, Worin ihn der Olympus je geſehn, Dir ſichtbar ſtellte? — Semele! wie nun? Dann ſollte dich's gereuen, ihn verſucht Zu haben? Semele (auffahrend). Ha! Enthüllen muß er ſich! Juno (ſchnelh. Eh' darf er nicht in deine Arme ſinken — Enthüllen muß er ſich — drum höre, gutes Kind! Was dir die redlich treue Amme rät, Was Liebe mir itzt zugeliſpelt, Liebe Vollbringen wird — ſprich, wird er bald erſcheinen? Semele. Eh' noch Hyperion in Tethys' Bette ſteigt, Verſprach er zu erſcheinen — Juno (vergeffen, heftig). Wirklich? Ha! Verſprach er? heut' ſchon wieder! (Fase ſich.) Laß ihn kommen, Und wenn er eben liebestrunken nun 215 220 225 230 235 240 245 296 Semele Die Arme auseinander ſchlingt nach dir, So trittſt du — merk' dir's — wie vom Blitz Gerührt zurück. Ha! wie er ſtaunen wird! Nicht lange läſſeſt du, mein Kind, ihn ſtaunen, Du fährſt ſo fort, mit froſt'gen Eiſesblicken Ihn wegzuſtoßen — wilder, feuriger Beſtürmt er dich — die Sprödigkeit der Schönen Iſt nur ein Damm, der einen Regenſtrom Zurückepreßt, und ungeſtümer prallen Die Fluten an — Itzt hebſt du an, zu weinen — Giganten mocht' er ſtehn, mocht' ruhig niederſchaun, Wenn Cypheus’ hundertarmiger Grimm Den Oſſa und Olymp nach ſeinem Erbthron jagte — Die Tränen einer Schönen fällen Zeus — Du lächelſt? — Gelt! die Schülerin Iſt weiſer hier als ihre Meiſterin? — Nun bitteſt du den Gott, dir eine kleine, kleine, Unſchuld'ge Bitte zu gewähren, die Dir ſeine Lieb' und Gottheit ſiegeln ſollte — Er ſchwört's beim Styx! — Der Styx hat ihn gebannt! Entſchlüpfen darf er nimmermehr! Du ſprichſt: „Eh' ſollſt du dieſen Leib nicht koſten, bis In aller Kraft, worin dich Kronos' Tochter Umarmt, du zu der Tochter Kadmus' ſteigeſt!“ Laß dich's nicht ſchrecken, Semele, wenn er Die Grauen ſeiner Gegenwart, die Feuer, Die um ihn krachen, dir die Donner, die Den Kommenden umrollen, zu Popanzen Aufſtellen wird, den Wunſch dir zu entleiden: Das ſind nur leere Schrecken, Semele, Die Götter tun mit dieſer herrlichſten Der Herrlichkeiten gegen Menſchen karg — Beharre du nur ſtarr auf deiner Bitte, Und Juno ſelbſt wird neidiſch auf dich ſchielen. Erſte Szene 297 Semele, Die Häßliche mit ihren Ochſenaugen! Er hat mir's oft im Augenblick der Liebe Geklagt, wie ſie mit ihrer ſchwarzen Galle Ihn martere — Juno lergrimmt, verlegen beiſeite). Ha! Wurm! den Tod für dieſen Hohn! Semele. Wie? meine Beroe! — Was haſt du da gemurmelt? Juno (verlegen). Nichts — meine Semele. Die ſchwarze Galle quält Auch mich — Ein ſcharfer, ſtrafender Blick Muß oft bei Buhlenden für ſchwarze Galle gelten — Und Ochſenaugen ſind ſo wüſte Augen nicht. Semele, O pfui doch! Beroe! die garſtigſten, Die je in einem Kopfe ſtecken können! — Und noch dazu die Wangen gelb und grün, Des gift'gen Neides ſichtbarliche Strafe — Mich jammert Zeus, daß ihn die Keiferin Mit ihrer ekelhaften Liebe keine Nacht Verſchont und ihren eiferſücht'gen Grillen: Das muß Ixions Rad im Himmel fein. Juno (in der äußerſten Verwirrung und Wut auf und ab raſend). Nichts mehr davon! Semele, Wie? Berve! ſo bitter? Hab' ich wohl mehr geſagt, als wahr iſt, mehr, Als klug iſt? — 270 280 285 298 Semele Juno. Mehr haſt du geſagt, Als wahr iſt, mehr, als klug iſt, junges Weib! Preiſ' dich beglückt, wenn deine blauen Augen Dich nicht zu früh in Charons Nachen lächeln! Saturnia hat auch Altär' und Tempel Und wandelt unter Sterblichen — die Göttin Rächt nichts ſo ſehr als höhniſch Naſenrümpfen. Semele. Sie wandle hier und ſei des Hohnes Zeugin! Was kümmert's mich? — Mein Jupiter beſchützt Mir jedes Haar: was kann mir Juno leiden? — Doch laß uns davon ſchweigen, Beroe, Zeus muß mir heute noch in ſeiner Pracht erſcheinen, Und wenn Saturnia darob den Pfad Zum Orkus finden ſollte — Juno (beifeit). Dieſen Pfad Wird eine andre wohl noch vor ihr finden, Wenn je ein Blitz Kronions trifft! — (Zu Semele.) Ja, Semele, ſie mag vor Neid zerberſten, Wenn Kadmus' Tochter, Griechenland zur Schau, Hoch im Triumphe zum Olympus ſteigt! — Semele (leidtfertig lächelnd). Meinſt du, Man werd' in Griechenland von Kadmus' Tochter hören? Juno. Ha! ob man auch von Sidon bis Athen Von einem andern höret! Semele! Götter, Götter werden ſich vom Himmel neigen, Götter vor dir niederknien, o — Erſte Szene 299 Sterbliche in demutsvollem Schweigen Vor des Rieſentöters Braut ſich beugen Und in zitternder Entfernung — — Semele (riſch aufhüpfend, ihr um den Hals fallend). Beroe! Juno. Ewigkeiten — grauen Welten Wird's ein weißer Marmor melden: Hier verehrt' man Semele! Semele, der Frauen ſchönſte, Die den Donnerſchleuderer Vom Olymp zu ihren Küſſen In den Staub herunterzwang. Und auf Famas tauſendfach rauſchenden Flügeln Wird's von Meeren ſchallen und brauſen von Hügeln — Semele (außer ſich). Pythia! Apollo! — Wenn er doch Nur erſchiene! Juno. Und auf dampfenden Altären Werden ſie dich göttlich ehren — Semele (begeiſtert). Und erhören will ich ſie! Seinen Grimm mit Bitten ſöhnen, Löſchen ſeinen Blitz in Tränen! Glücklich, glücklich machen will ich ſie! Juno (vor fid). Armes Ding! das wirſt du nie. — (Nachdenkend.) Bald zerſchmilzt — — — doch — garſtig mich zu heißen! — 315 320 325 330 335 300 Semele Nein! das Mitleid in den Tartarus! (Zu Semele.) Flieh nur! Flieh nur, meine Liebe, Daß dich Zeus nicht merke! Laß ihn lang' Deiner harren, daß er feuriger Nach dir ſchmachte — Semele. Beroe! der Himmel Hat erkoren dich zu ſeiner Stimme! Ich Glückſel'ge! vom Olympus neigen Werden ſich die Götter, vor mir niederknien Sterbliche in demutsvollem Schweigen — — Laß nur — laß — ich muß von hinnen fliehn! (eilig ab.) Juno (ſiegjauchzend ihr nachblickend). Schwaches, ſtolzes, leichtbetrognes Weib! Freſſendes Feuer ſeine ſchmachtenden Blicke, Seine Küſſe Zermalmung, Gewitterſturm Seine Umarmung dir! — Menſchliche Leiber Mögen nicht ertragen die Gegenwart Des, der die Donner wirft! — Ha! (In raſender Entzückung.) Wenn nun ihr wächſerner ſterblicher Leib Unter des Feuertriefenden Armen Niederſchmilzt, wie vor der Sonne Glut Flockigter Schnee — der Meineidige Statt der ſanften, weicharmigten Braut Seine eignen Schrecken umhalſt — wie frohlockend dann Will ich herüber vom Cithäron weiden mein Auge, Rufen herüber, daß in der Hand ihm der Donnerkeil Niederbebt: Pfui doch! umarme Nicht jo unſanft, Saturnius! (Sie eilt davon.) (Symphonie.) 340 345 350 355 301 Zweite Szene Der vorige Saal. Plötzliche Klarheit. Zeus in Jünglingsgeſtalt. Merkur in Entfernung. Zeus. Sohn Maja! Merkur (tnieend mit geſenktem Haupt). Zeus! Zeus. Auf! Eile! Schwing Die Flügel fort nach des Skamanders Ufer, Dort weint am Grabe ſeiner Schäferin Ein Schäfer — Niemand ſoll weinen, Wenn Saturnius liebet — Ruf die Tote ins Leben zurück. Merkur l(aufſtehend). Deines Hauptes ein allmächtiger Wink Führt mich in einem Hui dahin, zurück In einem Hui — Zeus. Verzeuch! Als ich ob Argos flog, Kam wallend mir ein Opferdampf entgegen Aus meinen Tempeln — das ergötzte mich, Daß mich das Volk ſo ehrt — Erhebe deinen Flug Zu Ceres, meiner Schweſter — ſo ſpricht Zeus: Zehntauſendfach ſoll ſie auf fünfzig Jahr Den Argiern die Halmen wiedergeben — Merkur. Mit zitternder Eile Vollſtreck' in deinen Zorn — mit jauchzender, Allvater, deine Huld; denn Wolluſt iſt's Den Göttern, Menſchen zu beglücken; zu verderben 360 365 370 375 880 885 302 Gemele Die Menſchen, ift den Göttern Schmerz — Gebeut! Wo ſoll ich ihren Dank vor deine Ohren bringen, Nieden im Staub oder droben im Götterſitz? Deus. Nieden im Götterſitz! — Im Palaſte Meiner Semele! Fleuch! (Merkur geht ab.) — — — — — — Sie kommt mir nicht entgegen, Wie ſonſt, an ihre wolluſtſchwellende Bruſt Den König des Olympus zu empfangen? Warum kommt meine Semele mir nicht Entgegen? — Odes — totes — grauenvolles Schweigen Herrſcht ringsumher im einſamen Palaſt, Der ſonſt ſo wild und ſo bacchantiſch lärmte — Kein Lüftchen regt ſich — auf Cithärons Gipfel Stand ſiegfrohlockend Juno — ihrem Zeus Will Semele nicht mehr entgegeneilen — — — (Pauſe, er fährt auf.) Ha! ſollte wohl die Frevlerin gewagt In meiner Liebe Heiligtum ſich haben? — Saturnia — Cithäron — ihr Triumph — Entſetzen, Ahnung! — Semele — — Getroſt! — Getroſt! Ich bin dein Zeus! Der weggehauchte Himmel Soll's lernen: Semele! Ich bin dein Zeus! Wo iſt die Luft, die ſich erfrechen wollte, Rauh anzuwehn, die Zeus die Seine nennt? — Der Ränke ſpott' ich — Semele, wo biſt du? — Lang' ſchmachtet' ich, mein weltbelaſtet Haupt An deinem Buſen zu begraben, meine Sinnen Vom wilden Sturm der Weltregierung eingelullt, Und Zügel, Steu'r und Wagen weggeträumt Und im Genuß der Seligkeit vergangen! O Wonnerauſch! Selbſt Göttern ſüßer Taumel! Glückſel'ge Trunkenheit! — Was iſt Uranos' Blut, 390 395 400 410 Zweite Szene 303 Was Nektar und Ambroſia, was iſt Der Thron Olymps, des Himmels goldnes Zepter, Was Allmacht, Ewigkeit, Unſterblichkeit, ein Gott — Ohne Liebe? Der Schäfer, der an ſeines Stroms Gemurmel Der Lämmer an der Gattin Bruſt vergißt, Beneidete mir meine Keile nicht. Sie naht — Sie kommt — O Perle meiner Werke, Weib! — Anzubeten iſt der Künſtler, der Dich ſchuf — — Ich ſchuf dich — bet' mich an, Zeus betet an vor Zeus, der dich erſchuf! Ha! wer im ganzen Weſenreiche, wer Verdammet mich? — Wie unbemerkt, verächtlich Verſchwinden meine Welten, meine ſtrahlenquillenden Geſtirne, meine tanzenden Syſteme, Mein ganzes großes Saitenſpiel, wie es Die Weiſen nennen, wie das alles tot Gegen eine Seele! Semele kommt näher, ohne aufzuſchauen. Zeus. Mein Stolz! Mein Thron ein Staub! O Semele! (Fliegt ihr entgegen, ſie will fliehen.) Du fliehſt? — Du ſchweigſt? — Ha! Semelel du fliehſt? Semele (ihn wegſtoßend). Hinweg! Zeus (nach einer Pauſe des Erſtaunens). Träumt Jupiter? Will die Natur Zu Grunde ſtürzen? — So ſpricht Semele? — Wie, keine Antwort? — Gierig ſtreckt mein Arm Nach dir ſich aus — ſo pochte nie mein Herz Der Tochter Agenors entgegen, ſo Schlug's nie an Ledas Bruſt, ſo brannten meine Lippen 415 420 425 304 Semele Nach Danaes verſchloßnen Küſſen nie, Als jetzo — Semele. Schweig, Verräter! Zeus (unwillig zärtlich). Semele! Semele. Fleuch! Deus (mit Majeſtät fie anſehend). Ich bin Zeus! Semele. Du Zeus? Erzittre, Salmoneus, mit Schrecken wird Er wiederfordern den geſtohlnen Schmuck, Den du geläſtert haſt — Du biſt nicht Zeus! Zeus (groß). Der Weltbau dreht im Wirbel ſich um mich Und nennt mich fo — Semele. Ha! Gottesläſterung! Zeus (ſanfter). Wie, meine Göttliche? Von wannen dieſer Ton? Wer iſt der Wurm, der mir dein Herz entwendet? Semele. Mein Herz war dem geweiht, des Aff' du biſt — Oft kommen Menſchen, unter Götterlarve Ein Weib zu fangen — Fort! Du biſt nicht Zeus! Zeus. Du zweifelſt? Kann an meiner Gottheit Semele Noch zweifeln? 430 435 440 445 450 Zweite Szene 305 Semele (wehmütig). Wärſt du Zeus! Kein Sohn Des Morgennimmerſeins ſoll dieſen Mund berühren, Zeus iſt dies Herz geweiht — — — O wärſt du Zeus! Zeus. Du weineſt? Zeus iſt da, und Semele ſoll weinen? (Niederfallend.) Sprich, fordre! und die knechtiſche Natur Soll zitternd vor der Tochter Kadmus' liegen! Gebeut! und Ströme machen gählings Halt! Und Helikon und Kaukaſus und Cynthus Und Athos, Mykale und Rhodope und Pindus, Von meines Winkes Allgewalt Entfeſſelt, küſſen Tal und Triften Und tanzen, Flocken gleich, in den verfinſterten Lüften. Gebeut! und Nord und Oſt und Wirbelwind Belagern den allmächtigen Trident, Durchrütteln Poſidaons Throne, Empöret ſteigt das Meer, Geſtad' und Damm zu Hohne, Der Blitz prahlt mit der Nacht, und Pol und Himmel krachen, Der Donner brüllt aus tauſendfachem Rachen, Der Ozean lauft gegen den Olympus Sturm, Dir flötet der Orkan ein Siegeslied entgegen, Gebeut — Semele. Ich bin ein Weib, ein ſterblich Weib, Wie kann vor ſeinem Topf der Töpfer liegen, Der Künſtler knien vor ſeiner Statue? Zeus. Pygmalion beugt ſich vor ſeinem Meiſterſtücke — Zeus betet an vor ſeiner Semele! Schillers Werke. VII. 20 455 460 465 306 Semele Semele (heftiger weinend). Steh auf — Steh auf — O weh mir armen Mädchen! Zeus hat mein Herz, nur Götter kann ich lieben. Und Götter lachen mein, und Zeus verachtet mich! Zeus. Zeus, der zu deinen Füßen liegt — Semele. Steh auf! Zeus thronet über höh'ren Donnerkeilen Und ſpottet eines Wurms in Junos Armen. Zeus (mit Heftigkeit). Ha! — Semele und Juno! — Wer Ein Wurm? Semele. O unausſprechlich glücklich wär' Die Tochter Kadmus' — wärſt du Zeus — O weh, Du biſt nicht Zeus! Zeus (ſteht auf). Ich bin's! (Reckt die Hand aus, ein Regenbogen ſteht im Saal. Die Muſik be— gleitet die Erſcheinung.) Kennſt du mich nun? Semele. Stark iſt des Menſchen Arm, wenn ihn die Götter ſtützen, Dich liebt Saturnius — Nur Götter kann Ich lieben — Zeus. Noch! Noch zweifelſt du, Ob meine Kraft nur Göttern abgeborget, Nicht gottgeboren fei? — Die Götter, Semele, Verleihn den Menſchen oft wohltätige Kräfte, Doch ihre Schrecken leihen Götter nie — 470 475 480 485 Zweite Szene 307 Tod und Verderben iſt der Gottheit Siegel, Tötend enthüllt ſich Jupiter dir! (Er reckt die Hand aus. Knall, Feuer, Rauch und Erdbeben. Muſik be⸗ gleitet hier und in Zukunft den Zauber.) Semele. Zieh deine Hand zurück! — O Gnade! Gnade Dem armen Volk! — Dich hat Saturnius Gezeuget — Zeus. Ha! Leichtfertige! Soll Zeus dem Starrſinn eines Weibes wohl Planeten drehn und Sonnen ſtillſtehn heißen? Zeus wird es tun! — Oft hat ein Götterſohn Den feuerſchwangern Bauch der Felſen aufgeritzt, Doch ſeine Kraft erlahmt in Tellus' Schranken; Das kann nur Zeus! (Er reckt die Hand aus, die Sonne verſchwindet, es wird plötzlich Nacht.) Semele (ſtürzt vor ihm nieder). Allmächtiger! — O wenn Du lieben könnteſt! (Es wird wiederum Tag.) Zeus. Ha! die Tochter Kadmus' fragt Kronion, ob Kronion lieben könnte? Ein Wort — und er wirft ſeine Gottheit ab, Wird Fleiſch und Blut und ſtirbt und wird geliebt. Semele. Das täte Zeus? Zeus. Sprich, Semele, was mehr? Apollo ſelbſt geſtand, es ſei Entzücken, Menſch unter Menſchen ſein — Ein Wink von dir — Ich bin's! 490 600 308 Semele Semele (fäut ihm um den Hals). O Jupiter, die Weiber Epidaurus' ſchelten Ein törigt Mädchen deine Semele, Die, von dem Donnerer geliebet, nichts Von ihm erbitten kann — Seus (Heftig). Erröten ſollen Die Weiber Epidaurus'! — Bitte! Bitte nur! Und bei dem Styx, des ſchrankenloſe Macht Selbſt Götter ſklaviſch beugt — Wenn Zeus dir zaudert, So ſoll der Gott in einem einz'gen Nu Hinunter mich in die Vernichtung donnern! Semele (froh aufſpringend). Daran erkenn' ich meinen Jupiter! Du ſchwureſt mir — der Styx hat es gehört! So laß mich denn nie anders dich umarmen, Als wie — Zeus lerſchrocken ſchreiend). Unglückliche! halt ein! Semele. Saturnia — Zeus (will ihr den Mund zuhalten). Verſtumme! Semele. Dich umarmt! Zeus (bleich, von ihr weggewandt). , Zu ſpät! Der Laut entrann! Der Styx! Du haſt den Tod Erbeten, Semele! — Semele, Ha! So liebt Jupiter? 505 510 Zweite Szene 309 Zeus. Den Himmel gäb' ich drum, hätt' ich dich minder nur Geliebt! Git kaltem Entſetzen fie anſtarrend.) Du biſt verloren — Semele. Jupiter! Zeus (grimmig vor ſich hinredend). Ha! merk' ich nun dein Siegfrohlocken, Juno? Verwünſchte Eiferſucht! — O, dieſe Roſe ſtirbt! Zu ſchön — O weh! Zu koſtbar für den Acheron! Jemele. Du geizeſt nur mit deiner Herrlichkeit! Zeus. Fluch über meine Herrlichkeit, die dich Verblendete! Fluch über meine Größe, Die dich zerſchmettert! Fluch! Fluch über mich! Daß ich mein Glück auf morſchen Staub gebaut! Semele. Das ſind nur leere Schrecken, Zeus, mir bangt Vor deinem Drohen nicht! Zeus. Betörtes Kind! Geh — nimm das letzte Lebewohl auf ewig Von deinen Freundinnen — nichts — nichts vermag Dich mehr zu retten — Semele! ich bin dein Zeus! Auch das nicht mehr — Geh — Semele. Neidiſcher! der Styx! Du wirſt mir nicht entſchlüpfen. (Sie geht ab.) 520 525 310 Semele Zeus. Nein! triumphieren ſoll ſie nicht — Erzittern Soll ſie — und kraft der tötenden Gewalt, Die Erd' und Himmel mir zum Schemel macht, Will an den ſchroffſten Felſen Thraciens Mit diamantnen Ketten ich die Arge ſchmieden — Auch dieſen Schwur — Merkur erſcheint in Entfernung. Was will dein raſcher Flug? Merkur. Feurigen, geflügelten, weinenden Dank Der Glücklichen — Zeus. Verderbe fie wieder! Merkur lerſtaunt). Zeus! Zeus. Glücklich ſoll niemand ſein! Sie ſtirbt — (Der Vorhang fällt.) W Der Menſchenfeind Ein Fragment — 10 15 20 Gegend in einem Park. Erſte Szene Angelika von Hutten. Wilhelmine von Hutten, ihre Tante und Stiftsdame, kommen aus einem Wäldchen; bald darauf Gärtner Biber. Angelika. Hier wollten wir ihn ja erwarten, liebe Tante. Sie ſetzen ſich ſo lange ins Kabinett und leſen. Ich hole mir meine Blumen beim Gärtner. Unterdeſſen wird's neun Uhr, und er kommt. — Sie ſind's doch zu⸗ frieden? Wilhelmine. Wie es dir Vergnügen macht, meine Liebe. (Geht nach der Laube.) Gürtner Biber (bringt Blumen). Das Beſte, was ich heute im Vermögen habe, gnädiges Fräulein. Meine Hyazinthen ſind alle. Angelika. Recht ſchönen Dank auch für dieſes. giber. Aber eine Roſe ſollen Sie morgen haben, die erſte vom ganzen Frühling, wenn Sie mir verſprechen wollen — Angelika. Was wünſchen Sie, guter Biber? Biber. Sehen Sie, gnädiges Fräulein, meine Aurikeln find nun auch fort, und mein ſchöner Levkojenflor geht zu Ende, und der gnädige Herr haben mir wieder nicht ein Blatt angeſehen. Da hab' ich voriges Jahr den großen Sumpf laſſen austrocknen gegen Mitternacht und einige tauſend Stück Bäume darauf gezogen. Die junge Welt treibt ſich und ſchießt empor — es iſt ein Seelenver— gnügen, drunter hinzuwandeln — Ich bin da, wie die Sonne kommt, und freue mich ſchon im voraus der 314 Der Menſchenfeind Herrlichkeit, wenn ich den gnädigen Herrn einmal werde hereinführen. Es wird Abend — und wieder Abend — und der Herr hat ſie nicht bemerkt. Sehen Sie, mein Fräulein, das ſchmerzt mich, ich kann's nicht leugnen. Angelika. Es geſchieht noch, gewiß geſchieht's noch — haben Sie indes Geduld, guter Biber. Biber. Der Park koſtet ihm, jahraus jahrein, ſeine baren zweitauſend Taler, und ich werde bezahlt, wie ich's nicht verdiene — wozu nütz' ich denn, wenn ich dem Herrn für fein vieles Geld nicht einmal eine frih- liche Stunde gebe? Nein, gnädiges Fräulein, ich kann nicht länger das Brot Ihres Herrn Vaters eſſen, oder er muß mich ihm beweiſen laſſen, daß ich ihn nicht drum beſtehle. Angelika. Ruhig, ruhig, lieber Mann! Das wiſſen wir alle, daß Sie das und noch weit mehr verdienen. Biber. Mit Ihrer Erlaubnis, mein Fräulein, davon können Sie nicht ſprechen. Daß ich meine zwölf Stun⸗ den des Tags ſeinen Garten beſchicke, daß ich ihm nichts veruntreue und Ordnung unter meinen Leuten erhalte, das bezahlt mir der gnädige Herr mit Geld. Aber daß ich es mit Freuden tue, weil ich es ihm tue, daß ich des Nachts davon träume, daß es mich mit der Morgenſonne heraustreibt — das, mein Fräulein, muß er mir mit ſeiner Zufriedenheit lohnen. Ein einziger Beſuch in ſeinem Park tut hier mehr als alle jein Mammon — und ſehen Sie, mein gnädiges Fräulein — das eben war's, warum ich Sie jetzt habe — Angelika. Brechen Sie davon ab, ich bitte. Sie ſelbſt wiſſen, wie oft und immer vergeblich — Ach! Sie kennen ja meinen Vater. Biber (ihre Hand faſſend und mit Lebhaftigteit). Er ijt noch nicht in ſeiner Baumſchule geweſen. Bitten Sie ihn, daß er mir erlaube, ihn in ſeine Baumſchule zu führen. 10 15 20 2⁵ 30 10 15 20 26 Zweite Szene 315 Es iſt nicht möglich, dieſen Dank einzuſammeln von der unvernünftigen Kreatur, und Menſchen verloren geben. Wer darf ſagen, daß er an der Freude verzweifle, ſolange noch Arbeiten lohnen und Hoffnungen ein⸗ ſchlagen? — Angelika. Ich verſtehe Sie, redlicher Biber — viel⸗ leicht aber waren Sie mit Gewächſen glücklicher als mein Vater mit Menſchen. Biber (ſchnell und bewegt). Und er hat eine ſolche Tochter? (Er will mehr ſagen, unterdrückt es aber und ſchweigt einen Augenblick.) Der gnädige Herr mögen viel erfahren haben von Menſchen — der ſchlecht belohnten Erwartungen viel, der geſcheiterten Plane viel — aber (die Hand des Fräuleins mit Lebhaftigkeit ergreifend) eine Hoffnung iſt ihm aufge⸗ gangen — alles hat er nicht erfahren, was eines Mannes Herz zerreißen kann — (er entfernt ſich.) Zweite Szene Angelika. Wilhelmine. Wilhelmine (ſteht auf und folgt ihm mit den Augen). Ein ſonderbarer Mann! Immer fällt's ihm aufs Herz, wenn dieſe Saite berührt wird. Es iſt etwas Unbegreifliches in ſeinem Schickſal. Angelika (fis) unruhig umſehend). Es wird ſehr ſpät. Er hat ſonſt nie ſo lang' auf ſich warten laſſen — Roſenberg. Wilhelmine. Er wird nicht ausbleiben. Wie ängſt⸗ lich wieder und ungeduldig! Angelika. Und diesmal nicht ohne Grund, liebe Tante — Wenn es fehlſchlagen ſollte! Ich habe dieſen Tag mit Herzensangſt herannahen ſehen. 316 Der Menſchenfeind Wilhelmine. Erwarte nicht zu viel von dieſem ein⸗ zigen Tage. Angelika. Wenn er ihm mißfiele? — Wenn ſich ihre Charaktere zurückſtießen? — Wie kann ich hoffen, daß er mit ihm die erſte Ausnahme machen werde? — wenn ſich ihre Charaktere zurückſtießen? — Meines Vaters kränkende Bitterkeit und Roſenbergs leicht zu reizender Stolz! Jenes Trübſinn und Roſenbergs heitre mutwillige Freude! — Unglücklicher konnte die Natur nicht ſpielen — und wer iſt mir Bürge, daß er ihm einen zweiten Beſuch nicht eben darum verweigert, weil er ſchon bei dem erſten Gefahr lief, ihn hochzuſchätzen? Wilhelmine. Leicht möglich, meine Liebe — Doch von allem dem ſagte dir noch geſtern dein Herz nichts. Angelika. Geſtern! Solang' ich nur ihn ſah, nur ihn fühlte, nichts wußte als ihn! Da ſprach noch das leichtſinnige, liebende Mädchen. Jetzt ergreift mich das Bild meines Vaters, und alle meine Hoffnungen ver- ſchwinden. O warum konnte denn dieſer liebliche Traum nicht fortdauern? Warum mußte die ganze Freude meines Lebens einem einzigen ſchrecklichen Wurf überlaſſen werden? Wilhelmine. Deine Furcht macht dich alles ver— geſſen, Angelika. Von dem Tage an, da dir Roſenberg feine Liebe bekannte, da er deinetwegen alle Bande zer— riß, die ihn an ſeinen Hof, an die Vergnügungen der Hauptſtadt gefeſſelt hielten, da er ſich freiwillig in die traurige Einöde ſeiner Güter verbannte, um dir näher zu ſein — ſeit jenem Tage hat der Gedanke an deinen Vater deine Ruhe vergiftet. Warſt du es nicht ſelbſt, die an der Heimlichkeit dieſes Verſtändniſſes Anſtoß nahm? Die mit unabläſſigen Bitten und Mahnungen ſo lange in ihn ſtürmte, bis er, ungern genug, ſein Verſprechen gab, ſich um die Gunſt deines Vaters zu bewerben. Mein 10 15 20 25 30 10 15 20 25 30 Zweite Szene 317 Vater, ſagteſt du, hängt nur noch durch ein einziges Band an den Menſchen; die Welt hat ihn auf ewig ver⸗ loren, wenn er die Entdeckung macht, daß auch ſeine Tochter ihn hintergangen hat. Angelika (mit reger Empfindung). Nie, nie ſoll er das! — Erinnern Sie mich noch oft, liebe Tante. Ich fühle mich ſtärker, entſchloßner. Alle Welt hat ihn hinter⸗ gangen — aber wahr ſoll ſeine Tochter ſein. Ich will keinen Hoffnungen Raum geben, die ſich vor meinem Vater verbergen müßten. Bin ich es ſeiner Güte nicht ſchuldig? Er gab mir ja alles. Selbſt für die Freuden des Lebens erſtorben, was hat er nicht getan, um mir ſie zu ſchenken? Mir zur Luſt ſchuf er dieſe Gegend zum Paradieſe und ließ alle Künſte wetteifern, das Herz ſeiner Angelika zu entzücken und ihren Geiſt zu ver— edeln. Ich bin eine Königin in dieſem Gebiet. An mich trat er das göttliche Amt der Wohltätigkeit ab, das er mit blutendem Herzen ſelbſt niederlegte. Mir gab er die ſüße Vollmacht, das verſchämte Elend zu ſuchen, verhehlte Tränen zu trocknen und der flüchtigen Armut eine Zuflucht in dieſen ſtillen Bergen zu öffnen. — Und für alles dieſes, Wilhelmine, legt er mir nur die leichte Bedingung auf, eine Welt zu entbehren, die ihn von ſich ſtieß. Wilhelmine. Und Haft du fie nie übertreten, dieſe leichte Bedingung? Angelika. — Ich bin ihm ungehorſam geworden. Meine Wünſche ſind über dieſe Mauern geflogen — Ich bereue es, aber ich kann nicht wieder umkehren. Wilhelmine. Ehe Roſenberg in dieſen Wäldern jagte, warſt du noch ſehr glücklich. Angelika. Glücklich wie eine Himmliſche — aber ich kann nicht wieder umkehren. Wilhelmine. So auf einmal hat ſich alles verändert? 318 Der Menſchenfeind Auch deine ſonſt ſo traute Geſpielin, dieſe ſchöne Natur, iſt dieſelbe nicht mehr? Angelika. Die Natur iſt die nämliche, aber mein Herz iſt es nicht mehr. Ich habe Leben gekoſtet, kann mich mit der toten Bildſäule nicht mehr zufrieden geben. O wie jetzt alles verwandelt iſt um mich herum. Er hat alle Erſcheinungen um mich her beſtochen. Die auf— ſteigende Sonne iſt mir jetzt nur ein Stundenweiſer ſeiner Ankunft, die fallende Fontäne murmelt mir ſeinen Namen, meine Blumen hauchen nur ſeinen Atem aus ihren Kelchen. — Sehen Sie mich nicht fo finjter an, liebe Tante — Iſt es denn meine Schuld, daß der erſte Mann, der mir außerhalb unſrer Grenzſteine begegnete, gerade Roſenberg war? Wilhelmine (gerührt ſie anſehend). Liebes unglückliches Mädchen — alſo auch du — ich bin unſchuldig, ich hab' es nicht hintertreiben können — Klage mich nicht an, Angelika, wenn du einſt deinem Schickſale nicht ent- fliehen wirſt. Angelika, Immer ſagen Sie mir das vor, liebe Tante. Ich verſtehe Sie nicht. Wilhelmine. — Der Park wird geöffnet. Angelika. Das Schnauben ſeiner Diana! — Er kommt. Es ijt Roſenberg. (Ihm entgegen.) Schluß der dritten Szene Angelika. Ach, Roſenberg, was haben Sie getan? Sie haben ſehr übel getan. Roſenberg. Das fürcht' ich nicht, meine Liebe. Es war ja Ihr Wille, daß wir miteinander bekannt werden ſollten; Sie wünſchten, daß ich ihn intereſſieren möchte. 10 20 25 10 15 20 80 Dritte Szene 319 Angelika, Wie? Und das wollen Sie dadurch er⸗ reichen, daß Sie ihn gegen ſich aufbringen? Roſenberg. Für jetzt durch nichts anders. Sie haben mir ſelbſt erzählt, wie viele Verſuche auf ſeine Gemütskrankheit ſchon mißlungen find. Alle jene un⸗ beſtellten feierlichen Sachwalter der Menſchheit haben ihn nur ſeine Überlegenheit fühlen laſſen und ſind ſchlecht genug gegen die verfängliche Beredſamkeit ſeines Kummers beſtanden. Ihm mag es einerlei ſein, ob wir übrigen an die Gerechtigkeit dieſes Haſſes glau- ben, aber nie wird er's dulden, daß wir geringſchätzig davon denken. Dieſer Demütigung fügt ſich ſein Stolz nicht. Uns zu widerlegen war ihm freilich nicht der Mühe wert, aber in ſeinem Unwillen kann er ſich wohl entſchließen, uns zu beſchämen — Es kommt zum Geſpräch — das iſt alles, was wir fürs erſte wünſchten. Angelika. Sie nehmen es zu leicht, lieber Roſen⸗ berg. — Sie getrauen ſich, mit meinem Vater zu ſpielen. Wie ſehr fürchte ich — Roſenberg. Fürchten Sie nichts, meine Angelika. Ich fechte für Wahrheit und Liebe. Seine Sache iſt ſo ſchlimm, als die meinige gut iſt. Wilhelmine (welche dieſe ganze Zeit über wenig Anteil an der Unterredung zu nehmen geſchienen hat). Sind Sie deſſen wirklich ſo gewiß, Herr von Roſenberg? Rofenberg (der ſich raſch zu ihr wendet, nach einem kurzen Still- ſchweigen ernsthaft). Ich denke, daß ich's bin, mein gnädiges Fräulein. Wilhelmine (ſteht auß. Dann ſchade um meinen armen Bruder. Es iſt ihm ſo ſchwer gefallen, der unglückliche Mann zu werden, der er iſt, und wie ich ſehe, iſt es etwas ſo Leichtes, ihm das Urteil zu ſprechen. Angelika. Laſſen Sie uns nicht zu voreilig richten, 320 Der Menſchenfeind Roſenberg. Wir wiſſen ſo wenig von den Schickſalen meines Vaters. Rofenberg. Mein ganzes Mitleid ſoll ihm dafür werden, liebe Angelika — aber nie meine Achtung, wenn ſie ihn wirklich zum Menſchenhaſſer machten. — Es iſt ihm ſchwer gefallen, ſagen Sie (zu der Stiftsdame), dieſer unglückliche Mann zu werden — aber wollten Sie wohl die Rechtfertigung eines Menſchen übernehmen, der das— jenige an ſich vollendet, was ein ſchreckliches Schickſal ihm noch erlaſſen hat? Dem Raſenden wohl das Wort reden, der auch den einzigen Mantel noch von ſich wirft, den ihm Räuber gelaſſen haben? — Oder wiſſen Sie mir einen ärmern Mann zwiſchen Himmel und Erde als den Menſchenfeind? Wilhelmine. Wenn er in der Verfinſterung ſeines Jammers nach Giften greift, wo er Linderung ſuchte, was geht das Sie Glücklichen an? Ich möchte den blin- den Armen nicht hart anlaſſen, dem ich kein Auge zu ſchenken habe. Noſenberg (mit auffteigender Röte und etwas lebhafter Stimme). Nein, bei Gott! Nein! — aber meine Seele entbrennt über den Undankbaren, der ſich die Augen mutwillig zu⸗ drückt und dem Geber des Lichtes flucht — Was kann er gelitten haben, das ihm durch den Beſitz dieſer Tochter nicht unendlich erſtattet wird? Darf er einem Geſchlechte fluchen, das er täglich, ſtündlich in dieſem Spiegel ſieht? Menſchenhaſſer, Menſchenfeind! Er iſt keiner. Ich will es beſchwören, er iſt keiner. Glauben Sie mir, Fräu⸗ lein von Hutten, es gibt keinen Menſchenhaſſer in der Natur, als wer ſich allein anbetet oder ſich ſelbſt ver— achtet. Angelika. Gehen Sie, Roſenberg. Ich beſchwöre Sie, gehen Sie. In dieſer Stimmung dürfen Sie ſich meinem Vater nicht zeigen. 10 15 20 25 80 10 15 20 25 Vierte Szene 321 Rofenberg. Recht gut, daß Sie mich erinnern, An⸗ gelika. — Wir haben hier ein Geſpräch angefangen, wo⸗ bei ich immer verſucht bin, allzu lebhaft Partei zu neh⸗ men — Verzeihen Sie, meine Fräulein. — Auch möcht' ich nicht gern Gefahr laufen, vorſchnell zu ſein, und ſoll doch erſt heute mit dem Vater meiner Angelika bekannt werden. — Von etwas anderm denn! — Dieſes Geſicht wird ſo ernſthaft, und die Wangen der Tochter muß ich erſt heiter ſehen, wenn ich Mut haben ſoll, bei dem Vater für meine Liebe zu kämpfen. — Das ganze Städt⸗ chen war ja geſchmückt wie an einem Feſttag, als ich vorbeikam. Wozu dieſe Anſtalt? Angelika. Meinen Vater zu ſeinem Geburtstage zu begrüßen. Vierte Szene Julchen, in Angelikas Dienſten, zu den Vorigen. Julchen. Der Herr hat geſchickt, gnädiges Fräulein. Er will Sie vor Mittag noch ſprechen. — Sie auch da, Herr von Roſenberg? Sie will er auch ſprechen. Angelika. Uns beide! Beide zuſammen — Roſen⸗ berg — Uns beide! Was bedeutet das? Julchen. Zuſammen? Nein, davon weiß ich nichts. Noſenberg (im Begriff wegzugehen, zu Angelika). Ich laſſe Sie vorangehen, gnädiges Fräulein. Sanfter werd' ich ihn aus Ihren Händen empfangen. Angelika (ängstlich. Sie verlaſſen mich, Roſenberg — Wohin? — Ich muß Sie noch etwas Wichtiges fragen. Rofenberg (führt fie beiſeite. Wilhelmine und Julchen verlieren ſich im Hintergrunde). Julchen. Kommen Sie mit, gnädiges Fräulein, den feſtlichen Aufzug zu ſehen. Angelika. Das iſt ein banger, fürchterlicher 9 Schillers Werke. VII. 322 Der Menſchenfeind für uns, Roſenberg — Es gilt Trennung, ewige Tren- nung! — Sind Sie auch vorbereitet — gefaßt auf alles, was geſchehen kann? — Wozu ſind Sie entſchloſſen, wenn Sie meinem Vater mißfallen? Roſenberg. Ich bin entſchloſſen, ihm nicht zu miß⸗ fallen. Angelika. Jetzt nicht dieſen leichten Sinn, wenn ich Ihnen jemals teuer war, Roſenberg — Es ſteht nicht bei Ihnen, wie die Würfel fallen — Wir müſſen das Schlimmſte erwarten wie das Erfreulichſte — Ich darf Sie nicht mehr ſehen, wenn Sie unfreundlich von ein⸗ ander ſcheiden — was haben Sie beſchloſſen zu tun, wenn er Ihnen Achtung verweigert? Roſenberg. Gute Liebe! — fie ihm abzunötigen. Angelika. O wie wenig kennen Sie den Mann, dem Sie ſo zuverſichtlich entgegengehen! Sie erwarten einen Menſchen, den Tränen rühren, weil er weinen kann — hoffen, daß die ſanften Töne Ihres Herzens widerhallen werden in dem ſeinigen? — Ach es iſt zer— riſſen, dieſes Saitenſpiel, und wird ewig keinen Klang mehr geben. Alle Ihre Waffen können fehlen, alle Stürme auf ſein Herz mißlingen — Roſenberg! noch einmal! Was beſchließen Sie, wenn ſie alle mißlingen? Noſenberg (ruhig ihre Hand faſſend). Alle werden's nicht, alle gewiß nicht! Faſſen Sie Herz, liebe Furchtſame. Mein Entſchluß ijt gefaßt. Ich habe mir dieſen Men⸗ ſchen zum Ziele gemacht, habe mir vorgeſetzt, ihn nicht aufzugeben, alſo hab' ich ihn ja gewiß. (Sie gehen ab.) 10 15 20 10 15 20 5 82 Fünfte Szene Ein Saal. v. Hutten aus einem Kabinett. Abel, fein Haushoſmeiſter, folgt ihm mit einem Rechnungsbuch. Abel (eft). Herrſchaftlicher Vorſchuß an die Gemeine nach der großen Waſſersnot vom Jahr 1784. Zwei⸗ tauſend neunhundert Gülden — vu. Hutten (hat ſich niedergeſetzt und durchſieht einige Papiere, die auf dem Tiſch liegen). Der Acker hat ſich erholt; der Menſch ſoll nicht länger leiden als ſeine Felder. Streich' Er aus dieſen Poſten. Ich will nicht mehr daran erinnert ſein. Abel (durchſtreicht mit Kopſſchütteln die Rechnung). Ich muß mir's gefallen laſſen — blieben alſo noch zu berechnen die Intereſſen von ſechsthalb Jahren — v. Hutten. Intereſſen? — Menſch! Abel. Hilft nichts, Ihr Gnaden. Ordnung muß fein in den Rechnungen eines Verwalters. (Win weiter leſen.) uv. Hutten. Den Reſt ein andermal. Jetzt ruf' Er den Jäger, ich will meine Doggen füttern. Abel. Der Pachter vom Holzhof hätte Luſt zu dem Polacken, mit dem Euer Gnaden neulich verunglückten. Man ſoll ihm die Mähre hingeben, meint der Reitknecht, ehe ein zweites Unheil geſchehe. n. Hutten. Soll das edle Tier darum vor dem Pfluge altern, weil es in zehen Jahren einmal falſch gegen mich war? So hab' ich es mit keinem gehalten, der mir mit Undank lohnte. Ich werde es nie mehr reiten. Abel (nimmt das Rechnungsbuch und will gehen). v. Hutten. Es fehlten ja neulich wichtige Empfang⸗ ſcheine in der Kaſſe, ſagt Er mir, und der Rentmeiſter ſei ausgeblieben? Abel. Ja, das war vorigen Donnerstag. v. Hutten (ſteht auf). Das freut mich, freut mich — 324 Der Menſchenfeind daß er doch endlich noch zum Schelm geworden iſt, dieſer Rentmeiſter. Er hat mir elf Jahre ohne Tadel gedient — Setz' Er das nieder, Abel. Erzähl' Er mir mehr davon. Abel. Schade um den Mann, Ihr Gnaden! Er hatte einen unglücklichen Sturz mit dem Pferde getan und iſt heute morgen mit einem gebrochenen Arm hereingebracht worden. Die Quittungen fanden ſich unter andern Papieren. v. Hutten (mit Heftigkeit). Und er war alſo kein Be⸗ trüger! — Menſch, warum haſt du mir Lügen berichtet? Abel. Gnädiger Herr, man muß immer das Schlimmſte von ſeinem Nächſten denken. v. Hutten (nach einem düſtern Stillſchweigen). Er ſoll aber ein Betrüger ſein, und die Quittungen ſoll man ihm zahlen. Abel. Das war mein Gedanke auch, Ihr Gnaden. Steckbriefe waren einmal ausgefertigt, und das Nachſetzen hat mir gewaltiges Geld gekoſtet. Es iſt verdrießlich, daß dies alles nun ſo weggeworfen iſt. v. Hutten (ſieht ihn lang’ verwundernd an). Teurer Mann! Ein wahres Kleinod biſt du mir — wir dürfen nie von- einander. Abel. Das wolle Gott nicht — und wenn mir ge- wiſſe Leute auch noch ſo große Verſprechungen — v. Hutten. Gewiſſe Leute! Was? Abel. Ja, Ihr Gnaden. Ich weiß auch nicht, warum ich länger damit hinter dem Berge halte. Der alte Graf — v. Hutten. Regt der ſich auch wieder? Nun? Abel. Zweihundert Piſtolen ließ er mir bieten und doppelten Gehalt auf zeitlebens, wenn ich ihm ſeine Enkelin, Fräulein Angelika, ausliefern wollte. v. Hutten (ſteht ſchnell auf und macht einen Gang durch das Zimmer. Nachdem er ſich wieder geſetzt hat, zum Verwalter). Und dieſes Gebot hat Er ausgeſchlagen? Abel. Bei meiner armen Seele, ja! Das hab' ich. v. Hutten. Zweihundert Piſtolen, Menſch, und dop- 15 30 10 20 26 Fünfte Szene 325 pelten Gehalt auf zeitlebens! — Wo denkt Er hin? Hat Er das wohl erwogen? Abel. Reiflich erwogen, Ihr Gnaden, und rundweg ausgeſchlagen. Schelmerei gedeiht nicht, bei Euer Gnaden will ich leben und ſterben. v. Hutten (falt und fremd). Wir taugen nicht für ein⸗ ander. — (Man hört von ferne eine muntere ländliche Muſik, mit vielen Menſchen⸗ ſtimmen untermiſcht. Sie kommt dem Schloß immer näher.) Ich höre da Töne, die mir zuwider ſind. Folg' Er mir in ein andres Zimmer. Abel (ijt auf den Altan getreten und kommt eine Weile darauf wieder). Das ganze Städtchen, Ihr Gnaden, kommt an⸗ gezogen im Sonntagsſchmuck und mit klingendem Spiel und hält unten vor dem Schloß. Der gnädige Herr, rufen ſie, möchten doch auf den Altan treten und ſich Ihren getreuen Untertanen zeigen. uv. Hutten. Was wollen fie von mir? Was haben ſie anzubringen? Abel. Euer Gnaden vergeſſen — uv. Hutten. Was? Abel. Sie kommen diesmal nicht ſo leicht los, wie im vorigen Jahre — v. Hutten (ſteht ſchnell auf. Weg! Weg! Ich will nichts weiter hören. Abel. Das hab' ich ihnen ſchon geſagt, Ihr Gna- den — aber ſie kämen aus der Kirche, hieß es, und Gott im Himmel habe ſie gehört. v. Hutten. Er hört auch das Bellen des Hundes und den falſchen Schwur in der Kehle des Heuchlers und muß wiſſen, warum er beides gewollt hat — (indem das Volk hineindringt) O Himmel! Wer hat mir das ge- tan? (Er will in ein Kabinett entweichen, viele halten ihn zurück und faſſen den Saum ſeines Kleides.) 326 Der Menſchenfeind Sechſte Szene Die Vorigen. Die Vaſallen und Beamten Huttens, Bürger und Landleute, welche Geſchenke tragen, junge Mädchen und Frauen, die Kinder an der Hand führen oder auf den Armen tragen. Alle ein= fach, aber anſtändig gekleidet. Vorſteher. Kommt alle herein, Väter, Mütter und Kin⸗ der. Fürchte ſich keines. Er wird Graubärte keine Fehlbitte tun laſſen. Er wird unſre Kleinen nicht von ſich ſtoßen. Einige Mädchen (welche ſich ihm nähern). Gnädiger Herr, dieſes wenige bringen Ihnen Ihre dankbaren Unter⸗ tanen, weil Sie uns alles gaben. Zwei andre Mädchen. Dieſen Kranz der Freude flechten wir Ihnen, weil Sie das Joch der Leibeigenſchaft zerbrachen. Ein drittes und viertes Mädchen. Und dieſe Blumen ſtreuen wir Ihnen, weil Sie unſre Wildnis zum Paradies gemacht haben. Erſtes und zweites Mädchen. Warum wenden Sie das Geſicht weg, lieber gnädiger Herr? Sehen Sie uns an. Reden Sie mit uns. Was taten wir Ihnen, daß Sie unſern Dank ſo zurückſtoßen? (Eine lange Pauſe.) v. Hutten (ohne fie anzuſehen, den Blick auf den Boden ge- ſchlagen). Werf' Er Geld unter ſie, Verwalter — Geld, ſo viel ſie mögen — Schon' Er meine Kaſſe nicht — Er ſieht ja, die Leute warten auf ihren Lohn. Gin alter Mann (der aus der Menge hervortritt). Das haben wir nicht verdient, gnädiger Herr. Wir ſind keine Lohn⸗ knechte. Einige andre. Wir wollen ein ſanftes Wort und einen gütigen Blick. Gin vierter. Wir haben Gutes von Ihrer Hand emp⸗ fangen, wir wollen danken dafür, denn wir ſind Menſchen. Mehrere. Wir ſind Menſchen, und das haben wir nicht verdient. 10 15 20 25 10 15 20 25 30 Sechſte Szene 327 v. Hutten. Werft dieſen Namen von euch und ſeid mir unter einem ſchlechtern willkommen — Es beleidigt euch, daß ich euch Geld anbiete? Ihr ſeid gekommen, ſagt ihr, mir zu danken? — Wofür anders könnt ihr mir denn danken als für Geld? Ich wüßte nicht, daß ich einem von euch etwas Beſſeres gegeben. Wahr iſt's, eh' ich Beſitz von dieſer Grafſchaft nahm, kämpftet ihr mit dem Mangel, und ein Unmenſch häufte alle Laſten der Leibeigenſchaft auf euch. Euer Fleiß war nicht euer, mit ungerührtem Auge ſaht ihr die Saaten grünen und die Halmen ſich vergolden, und der Vater verbot ſich jede Regung der Freude, wenn ihm ein Sohn geboren war. Ich zerbrach dieſe Feſſeln, ſchenkte dem Vater ſeinen Sohn und dem Sämann ſeine Ernte. Der Segen ſtieg herab auf eure Fluren, weil die Freiheit und die Hoff⸗ nung den Pflug regierten. Jetzt iſt keiner unter euch ſo arm, der des Jahrs nicht ſeinen Ochſen ſchlachtet; ihr legt euch in geräumigen Häuſern ſchlafen, mit der Not⸗ durft ſeid ihr abgefunden und habt noch übrig für die Freude. (Indem er ſich aufrichtet und gegen ſie wendet.) Ich ſehe die Geſundheit in euren Augen und den Wohlſtand auf euren Kleidern. Es iſt nichts mehr zu wünſchen übrig. Ich hab' euch glücklich gemacht. Ein alter Mann (aus dem Haufen). Nein, gnädiger Herr! Geld und Gut iſt Ihre geringſte Wohltat geweſen. Ihre Vorfahren haben uns dem Vieh auf unſern Feldern gleich gehalten. Sie haben uns zu Menſchen gemacht. Ein zweiter. Sie haben uns eine Kirche gebaut und unſre Jugend erziehen laſſen. Ein dritter. Und haben uns gute Geſetze und ge⸗ wiſſenhafte Richter gegeben. Ein vierter. Ihnen danken wir, daß wir menſchlich leben, daß wir uns unſers Lebens freuen. v. Hutten (in Nachdenken vertieft). Ja, ja — das Erdreich 328 Der Menſchenfeind war gut, und es fehlte nicht an der milden Sonne, wenn ſich der kriechende Buſch nicht zum Baume aufrichtete. — Es iſt meine Schuld nicht, wenn ihr da liegen bliebet, wo ich euch hinwarf. Euer eigen Geſtändnis ſpricht euch das Urteil. Dieſe Genügſamkeit beweiſt mir, daß meine Arbeit an euch verloren iſt. Hättet ihr etwas an eurer Glückſeligkeit vermißt — es hätte euch zum erſtenmal meine Achtung erworben. (indem er ſich abwendet) Seid, was ihr ſein könnt — Ich werde darum nicht weniger meinen Weg verfolgen. Einer aus der Menge. Sie gaben uns alles, was uns glücklich machen kann. Schenken Sie uns noch Ihre Liebe. v. Hutten (mit finſterm Ernſt). Wehe dir, der du mich erinnerſt, wie oft meine Torheit dieſes Gut verſchleuderte. Es iſt kein Geſicht in dieſer Verſammlung, das mich zum Rückfall bringen könnte. — Meine Liebe — Wärme dich an den Strahlen der Sonne, preiſe den Zufall, der ſie über deinen Weinſtock dahin führte, aber den ſchwind— ligten Wunſch unterſage dir, dich in ihre glühende Quelle zu tauchen. Traurig für dich und ſie, wenn ſie von dir gewußt haben müßte, um dir zu leuchten, wenn ſie, die eilende, in ihrer himmliſchen Bahn deinem Danke jtill- halten müßte! Ihrer ewigen Regel gehorſam, gießt ſie ihren Strahlenſtrom aus — gleich unbekümmert um die Fliege, die ſich darin ſonnt, und um dich, der ihr himm⸗ liſches Licht mit ſeinen Laſtern beſudelt — Was ſollen mir dieſe Gaben? — Von meiner Liebe habt ihr euer Glück nicht empfangen. Mir gebührt nichts von der eurigen. Der Alte. O das ſchmerzt uns, mein teurer Herr, daß wir alles beſitzen ſollen und nur die Freude des Dankens entbehren. v. Hutten. Weg damit. Ich verabſcheue Dank aus ſo unheiligen Händen. Waſchet erſt die Verleumdung von euren Lippen, den Wucher von euren Fingern, 10 15 20 25 30 10 15 20 25 Siebente Szene 329 die ſcheelſehende Mißgunſt aus euren Augen. Reinigt euer Herz von Tücke, werft eure gleisneriſchen Larven ab, laſſet die Wage des Richters aus euren ſchuldigen Händen fallen. Wie? Glaubet ihr, daß dieſes Gaukelſpiel von Eintracht mir die neidiſche Zwietracht verberge, die auch an den heiligſten Banden eures Lebens nagt? Kenne ich nicht jeden einzelnen aus dieſer Verſammlung, die durch ihre Menge mir ehrwürdig ſein will? — Ungeſehen folgt euch mein Auge — Die Gerechtigkeit meines Haſſes lebt von euren Laſtern. (Zu dem Alten.) Du maßeſt dich an, mir Ehrfurcht abzufordern, weil das Alter deine Schläfe bleichte, weil die Laſt eines langen Lebens deinen Nacken beugt? — Deſto gewiſſer weiß ich nun, daß du auch meiner Hoffnung verloren biſt! Mit leeren Händen ſteigſt du von dem Zenith des Lebens herunter: was du bei voller Mannkraft verfehlteſt, wirſt du an der Krücke nicht mehr einholen. — War es eure Meinung, daß der Anblick dieſer ſchuldloſen Würmer (auf die Kinder zeigend) zu meinem Herzen ſprechen ſollte? — O ſie alle werden ihren Vätern gleichen, alle dieſe Unſchuldigen werdet ihr nach eurem Bilde verſtümmeln, alle dem Zweck ihres Daſeins entführen — O warum ſeid ihr hieher gekom⸗ men? — Ich kann nicht — Warum mußtet ihr mir dieſes Geſtändnis abnötigen? — Ich kann nicht ſanft mit euch reden. (er geht ab.) Siebente Szene Eine abgelegene Gegend des Parks, ringsum eingefdloffen, von an⸗ ziehendem, etwas ſchwermütigem Charakter. v. Hutten (tritt auf, mit ſich ſelbſt redend). Daß ihr dieſes Namens ſo wert wäret, als er mir heilig iſt! — Menſch! Herrliche, hohe Erſcheinung! Schönſter von allen Ge- 330 Der Menſchenfeind danken des Schöpfers! Wie reich, wie vollendet gingſt du aus ſeinen Händen! Welche Wohllaute ſchliefen in deiner Bruſt, ehe deine Leidenſchaft das goldene Spiel zerſtörte! Alles um dich und über dir ſucht und findet das ſchöne Maß der Vollendung — Du allein ſtehſt unreif und mißgeſtaltet in dem untadeligen Plan. Von keinem Auge ausgeſpäht, von keinem Verſtande bewundert, ringt in der ſchweigenden Muſchel die Perle, ringt der Kriſtall in den Tiefen der Berge nach der ſchönſten Geſtalt. Wohin nur dein Auge blickt — der einſtimmige Fleiß aller Weſen, das Geheimnis der Kräfte zur Verkündi⸗ gung zu bringen. Dankbar tragen alle Kinder der Natur der zufriedenen Mutter die gereiften Früchte entgegen, und wo ſie geſäet hat, findet ſie eine Ernte — Du allein, ihr liebſter, ihr beſchenkteſter Sohn, bleibſt aus — nur was ſie dir gab, findet ſie nicht wieder, erkennt ſie in ſeiner entſtellten Schönheit nicht mehr. Sei vollkommen. Zahlloſe Harmonien ſchlummern in dir, auf dein Geheiß zu erwachen — Rufe ſie heraus durch deine Vortrefflichkeit. Fehlte je der ſchöne Licht⸗ ſtrahl in deinem Auge, wenn die Freude dein Herz durchglühte, oder die Anmut auf deinen Wangen, wenn die Milde durch deinen Buſen floß? Kannſt du es dulden, daß das Gemeine, das Vergängliche in dir das Edle, das Unſterbliche beſchäme? Dich zu beglücken iſt der Kranz, um den alle Weſen buhlen, wornach alle Schönheit ringt — deine wilde Be⸗ gierde ſtrebt dieſem gütigen Willen entgegen, gewaltſam verkehrſt du die wohltätigen Zwecke der Natur — Fülle des Lebens hat die freundliche um dich her gebreitet, s und Tod nötigſt du ihr ab. Dein Haß ſchärfte das friedliche Eiſen zum Schwerte; mit Verbrechen und Flüchen belaſtet deine Habſucht das ſchuldloſe Gold, an deiner unmäßigen Lippe wird das Leben des Weinſtocks 10 20 25 20 25 30 Siebente Szene 331 zum Gifte. Unwillig dient das Vollkommene deinen Laſtern, aber deine Laſter ſtecken es nicht an. Rein be⸗ wahrt ſich das mißbrauchte Werkzeug in deinem unreinen Dienſte. Seine Beſtimmung kannſt du ihm rauben, aber nie den Gehorſam, womit es ihr dienet. Sei menſchlich oder ſei Barbar — mit gleich kunſtreichem Schlage wird das folgſame Herz deinen Haß und deine Sanftmut begleiten. Lehre mich deine Genügſamkeit, deinen ruhigen Gleichmut, Natur — Treu, wie du, habe ich an der Schönheit gehangen, von dir laß mich lernen die ver— fehlte Luſt des Beglückens verſchmerzen. Aber damit ich den zarten Willen bewahre, damit ich den freudigen Mut nicht verliere — laß mich deine glückliche Blindheit mit dir teilen. Verbirg mir in deinem ſtillen Frieden die Welt, die mein Wirken empfängt. Würde der Mond ſeine ſtrahlende Scheibe füllen, wenn er den Mörder ſähe, deſſen Pfad ſie beleuchten ſoll? — Zu dir flüchte ich dieſes liebende Herz — Tritt zwiſchen meine Menſch⸗ lichkeit und den Menſchen. — Hier, wo mir ſeine rauhe Hand nicht begegnet, wo die feindſelige Wahrheit meinen entzückenden Traum nicht verſcheucht, abgeſchieden von dem Geſchlechte, laß mich die heilige Pflicht meines Daſeins in die Hand meiner großen Mutter, an die ewige Schönheit entrichten. (ſich umſchauend) Ruhige Pflan⸗ zenwelt, in deiner kunſtreichen Stille vernehme ich das Wandeln der Gottheit, deine verdienſtloſe Trefflichkeit trägt meinen forſchenden Geiſt hinauf zu dem höchſten Verſtande, aus deinem ruhigen Spiegel ſtrahlt mir ſein göttliches Bild. Der Menſch wühlt mir Wolken in den ſilberklaren Strom — wo der Menſch wandelt, ver— ſchwindet mir der Schöpfer. (Er will aufſtehen. Angelika ſteht vor ihm.) 332 Der Menſchenfeind Achte Szene v. Hutten. Angelika. Angelika (tritt ſchüchtern zurüc). Es war Ihr Befehl, mein Vater — Aber wenn ich Ihre Einſamkeit ſtöre — v. Hutten (der fie eine Zeitlang ſtillſchweigend mit den Augen mißt, mit ſanftem Vorwurf). Du haſt nicht gut an mir ge⸗ handelt, Angelika. Angelika (betroffen). Mein Vater — v. Hutten. Du wußteſt um dieſen Überfall — Ge⸗ ſteh es — du ſelbſt haſt ihn veranlaßt. Angelika. Ich darf nicht nein ſagen, mein Vater. v. Hutten. Sie find traurig von mir gegangen. Keiner hat mich verſtanden. Sieh, du haſt nicht gut gehandelt. Angelika. Meine Abſichten verdienen Verzeihung. v. Hutten. Du haſt um dieſe Menſchen geweint. Leugne es nur nicht. Dein Herz ſchlägt für ſie. Ich durchſchaue dich. Du mißbilligſt meinen Kummer. Angelika. Ich verehre ihn, aber mit Tränen. v. Hutten. Dieſe Tränen ſind verdächtig — An⸗ gelika — du wankſt zwiſchen der Welt und deinem Vater — Du mußt Partei nehmen, meine Tochter, wo keine Vereinigung zu hoffen iſt — Einem von beiden mußt du ganz entſagen oder ganz gehören — Sei auf⸗ richtig. Du mißbilligſt meinen Kummer? Angelika. Ich glaube, daß er gerecht iſt. v. Hutten. Glaubſt du? Glaubſt du wirklich? — Höre, Angelika — Ich werde deine Aufrichtigkeit jetzt auf eine entſcheidende Probe ſetzen — Du wankſt, und ich habe keine Tochter mehr — Setze dich zu mir. Angelika. Dieſer feierliche Ernſt — v. Hutten. Ich habe dich rufen laſſen. Ich wollte eine Bitte an dich tun. Doch ich beſinne mich. Sie kann ein Jahr lang noch ruhen. 10 15 20 25 30 15 20 25 30 Achte Szene 333 Angelika. Eine Bitte an Ihre Tochter, und Sie ſtehen an, ſie zu nennen? u. Hutten. Der heutige Tag hat mir eine ernſtere Stimmung gegeben. Ich bin heute fünfzig Jahr alt. Schwere Schickſale haben mein Leben beſchleunigt, es könnte geſchehen, daß ich eines Morgens unverhofft aus⸗ bliebe, und ohne zuvor — (er ſteht auf.) Ja, wenn du weinen mußt, ſo haſt du keine Zeit, mich zu hören. Angelika. O halten Sie ein, mein Vater — Nicht dieſe Sprache. Sie verwundet mein Herz. v. Hutten. Ich möchte nicht, daß es mich über⸗ raſchte, ehe wir miteinander in Richtigkeit ſind — Ja, ich fühle es, ich hange noch an der Welt — Der Bettler ſcheidet ebenſo ſchwer von ſeiner Armut als der König von ſeiner Herrlichkeit — Du biſt alles, was ich zurücklaſſe. (Stillſchweigen.) Kummervoll ruhen meine letzten Blicke auf dir — Ich gehe und laſſe dich zwiſchen zwei Abgründen ſtehen. Du wirſt weinen, meine Tochter, oder du wirſt be- weinenswürdig ſein — — Bis jetzt gelang mir's, dieſe ſchmerzliche Wahl dir zu verbergen. Mit heiterm Blicke ſiehſt du in das Leben, und die Welt liegt lachend vor dir. Angelika. O möchte ſich dieſes Auge erheitern, mein Vater — Ja, dieſe Welt iſt ſchön. v. Hutten. Ein Widerſchein deiner eignen ſchönen Seele, Angelika — Auch ich bin nicht ganz ohne glück— liche Stunden — Dieſen lieblichen Anblick wird ſie fort⸗ fahren dir zu geben, ſo lange du dich hüteſt, den Schleier aufzuheben, der dir die Wirklichkeit verbirgt, ſo lange du Menſchen entbehren wirſt und dich mit deinem eigenen Herzen begnügen. Angelika. Oder dasjenige finde, mein Vater, das dem meinigen harmoniſch begegnet. 334 Der Menſchenfeind v. Hutten (ſchnell und ernſt). Du wirſt es nie finden — — — Aber hüte dich vor dem unglücklichen Wahn, es gefunden zu haben. (Nach einem Stillſchweigen, wobei er in Gedanken ver⸗ loren fap.) Unſre Seele, Angelika, erſchafft ſich zuweilen große, bezaubernde Bilder, Bilder aus ſchöneren Welten, in edlern Formen gegoſſen. In fern nachahmenden Zügen erreicht ſie zuweilen die ſpielende Natur, und es gelingt ihr, das überraſchte Herz mit dem erfüllten Ideale zu täuſchen. — Das war deines Vaters Schickſal, Angelika. Oft ſah ich dieſe Lichtgeſtalt meines Gehirnes von einem Menſchenangeſicht mir entgegenſtrahlen, freude- trunken ſtreckt' ich die Arme darnach aus, aber das Dunſt⸗ bild zerfloß bei meiner Umhalſung. Angelika. Doch, mein Vater — v. Hutten (unterbricht fie. Die Welt kann dir nichts darbieten, was ſie von dir nicht empfinge. Freue dich deines Bildes in dem ſpiegelnden Waſſer, aber ſtürze dich nicht hinab, es zu umfaſſen; in ſeinen Wellen ev- greift dich der Tod. Liebe nennen ſie dieſen ſchmeicheln⸗ den Wahnſinn. Hüte dich, an dieſes Blendwerk zu glauben, das uns die Dichter ſo lieblich malen. Das Geſchöpf, das du anbeteſt, biſt du ſelbſt; was dir ant⸗ wortet, iſt deine eigene Echo aus einer Totengruft, und ſchrecklich allein bleibſt du ſtehen. Angelika. Ich hoffe, es gibt noch Menſchen, mein Vater, die — von denen — — v. Hutten (aufmerkſam). Du hoffeſt es? — Hoffeſt! — (Er ſteht auf. Nachdem er einige Schritte auf und nieder gegangen.) Ja, meine Tochter — das erinnert mich, warum ich dich jetzt habe rufen laſſen. (Indem er vor ihr ſtehen bleibt und ſie forſchend betrachtet.) Du biſt ſchneller geweſen als ich, meine Tochter — Ich verwundere mich — ich erſchrecke über meine ſorgloſe Sicherheit — So nahe war ich der Gefahr, die ganze Arbeit meines Lebens zu verlieren! 10 15 20 25 30 15 20 25 30 Achte Szene 335 Angelika. Mein Vater! Ich verſtehe nicht, was Sie meinen. v. Hutten. Das Geſpräch kommt nicht zu frühe — Du biſt neunzehn Jahr alt, du kannſt Rechenſchaft von mir fordern. Ich habe dich herausgeriſſen aus der Welt, der du angehörſt, ich habe in dieſes ſtille Tal dich ge— flüchtet. Dir ſelbſt ein Geheimnis, wuchſeſt du hier auf. Du weißt nicht, welche Beſtimmung dich erwartet. Es iſt Zeit, daß du dich kennen lerneſt. Du mußt Licht über dich haben. . Angelika. Sie machen mich unruhig, mein Vater — v. Hutten. Deine Beſtimmung iſt nicht, in dieſem ſtillen Tal zu verblühen — Du wirſt mich hier be- graben, und dann gehörſt du der Welt an, für die ich dich ſchmückte. Angelika. Mein Vater, in die Welt wollen Sie mich ſtoßen, wo Sie ſo unglücklich waren? v. Hutten. Glücklicher wirſt du fie betreten. Nach einem Stillſchweigen.) Auch wenn es anders wäre, meine Tochter — Deine Jugend iſt ihr ſchuldig, was mein frühzeitiges Alter ihr nicht mehr entrichten kann. Meiner Führung bedarfſt du nicht mehr. Mein Amt iſt geendigt. In verſchloſſener Werkſtatt reifte die Bildſäule ſtill unter dem Meißel des Künſtlers heran; die vollendete muß von einem erhabeneren Geſtelle ſtrahlen. Angelika. Nie, nie, mein Vater, geben Sie mich aus Ihrer bildenden Hand. v. Hutten. Einen einzigen Wunſch behielt ich noch zurücke. Zugleich mit dir wuchs er groß in meinem Herzen; mit jedem neuen Reize, der ſich auf dieſen Wangen verklärte, mit jeder ſchönern Blüte dieſes Geiſtes, mit jedem höhern Klang dieſes Buſens ſprach er lauter in meinem Herzen — Dieſer Wunſch, meine Tochter — reiche mir deine Hand — 336 Der Menſchenfeind Angelika. Sprechen Sie ihn aus. Meine Seele eilt ihm entgegen. v. Hutten. — Angelika! Du biſt eines vermögenden Mannes Tochter. Dafür hält mich die Welt, aber meinen ganzen Reichtum kennt niemand. Mein Tod wird dir einen Schatz offenbaren, den deine Wohltätigkeit nicht erſchöpfen kann — — Du kannſt den Unerſättlichſten über⸗ raſchen. Angelika. So tief, mein Vater, laſſen Sie mich ſinken! v. Hutten. — Du biſt ein ſchönes Mädchen, Angelika. Laß deinen Vater dir geſtehen, was du keinem andern Manne zu danken haben ſollſt. Deine Mutter war die Schönſte ihres Geſchlechtes — Du biſt ihr geſchontes veredeltes Bild. Männer werden dich ſehen, und die Leidenſchaft wird ſie zu deinen Füßen führen. Wer dieſe Hand davonträgt — Angelika. Iſt das meines Vaters Stimme? — O ich höre es. Sie haben mich aus Ihrem Herzen ver⸗ ſtoßen. v. Hutten (mit Wohlgefallen bei ihrem Anblick verweilend). Dieſe ſchöne Geſtalt belebt eine ſchönere Seele — Ich denke mir die Liebe in dieſe friedliche Bruſt — Welche Ernte blüht hier der Liebe — O dem Edelſten iſt hier der ſchönſte Lohn aufgehoben. Angelika (tief bewegt, ſinkt an ihm nieder und verbirgt ihr Ge⸗ ſicht in ſeinen Händen). v. Hutten. Mehr des Glückes kann ein Mann aus eines Weibes Hand nicht empfangen! — Weißt du, daß du mir alles dies ſchuldig biſt? Ich habe Schätze ge- ſammelt für deine Wohltätigkeit, deine Schönheit hab' ich gehütet, dein Herz hab' ich bewacht, deines Geiſtes Blüte hab' ich entfaltet. Eine Bitte gewähre mir für dies alles — in dieſe einzige Bitte faſſe ich alles zuſammen, was du mir ſchuldig biſt — wirſt du ſie mir verweigern? 5 15 20 25 30 10 20 25 30 Achte Szene 337 Angelika. O mein Vater! Warum dieſen weiten Weg zum Herzen Ihrer Angelika? v. Hutten. Du beſitzeſt alles, was einen Mann glück⸗ lich machen kann. (Er Halt hier inne und mißt fie ſcharf mit den Augen.) Mache nie einen Mann glücklich. Angelika (verblaßt, ſchlägt die Augen nieder). v. Hutten. Du ſchweigſt? — dieſe Angſt — dieſes Zittern — Angelika! Angelika. Ach mein Vater — v. Hutten (ſanſter). Deine Hand, meine Tochter — Verſprich mir — Gelobe mir — Was iſt das? Warum zittert dieſe Hand? Verſprich mir, nie einem Mann dieſe Hand zu geben. Angelika (in ſichtbarer Verwirrung). Nie, mein Vater — als mit Ihrem Beifall. v. Hutten. Auch wenn ich nicht mehr bin — Schwöre mir, nie einem Mann dieſe Hand zu geben. Angelika (tampfend, mit bebender Stimme). Nie — niemals, wenn nicht — wenn Sie nicht ſelbſt dieſes Berfpredjens mich entlaſſen. v. Hutten. Alſo niemals. (Er läßt ihre Hand los, nach einem langen Stillſchweigen.) Sieh dieſe welken Hände! Dieſe Furchen, die der Gram auf meine Wangen grub! Ein Greis ſteht vor dir, der ſich zum Rande des Grabes hinunterneigt, und ich bin noch in den Jahren der Kraft und der Mannheit! — Das taten die Menſchen — Das ganze Geſchlecht iſt mein Mörder — Angelika — Begleite den Sohn meines Mörders nicht zum Altar. Laß meinen blutigen Gram nicht in ein Gaukelſpiel enden. Dieſe Blume, gewartet von meinem Kummer, mit meinen Tränen betaut, darf von der Freude Hand nicht gebrochen werden. Die erſte Träne, die du der Liebe weinſt, ver⸗ miſcht dich wieder mit dieſem niedern Geſchlechte — die Schillers Werke. VII. 22 338 Der Menſchenfeind Hand, die du einem Mann am Altare reichſt, ſchreibt meinen Namen an die Schandſäule der Toren. Angelika. Nicht weiter, mein Vater. Jetzt nicht weiter. Vergönnen Sie, daß ich — (Sie will gehen, Hutten hält ſie zurück.) v. Hutten. Ich bin kein harter Vater gegen dich, meine Tochter. Liebt' ich dich weniger, ich würde dich einem Mann in die Arme führen. Auch trag' ich keinen Haß gegen die Menſchen. Der tut mir Unrecht, der mich einen Menſchenhaſſer nennt. Ich habe Ehrfurcht vor der menſchlichen Natur — nur die Menſchen kann ich nicht mehr lieben. Halte mich nicht für den gemeinen Toren, der die Edeln entgelten läßt, was die Unedeln gegen ihn verbrachen. Was ich von den Unedeln litt, iſt vergeſſen. Mein Herz blutet von den Wunden, die ihm die Beſten und Edelſten geſchlagen. Angelika. Offnen Sie es den Beſten und Edelſten — ſie werden heilenden Balſam in dieſe Wunden gießen. Brechen Sie dieſes geheimnisvolle Schweigen. u. Hutten (nach einigem Stillſchweigen). Könnt' ich dir die Geſchichte meiner Mißhandlungen erzählen, Angelika! — Ich kann es nicht. Ich will es nicht. Ich will dir die fröhliche Sicherheit, das ſüße Vertrauen auf dich ſelbſt nicht entreißen. — Ich will den Haß nicht in dieſen fried- lichen Buſen führen. Verwahren möcht' ich dich gegen die Menſchen, aber nicht erbittern. Meine treue Erzäh⸗ lung würde das Wohlwollen auslöſchen in deiner Bruſt, und erhalten möchte ich dieſe heilige Flamme. Ehe ſich eine neue und ſchönere Schöpfung von ſelbſt hier gebildet hat, möchte ich die wirkliche Welt nicht von deinem Herzen reißen. (Pauſe. Angelika neigt ſich über ihn mit tränenden Augen.) Ich gönne dir den lachenden Anblick des Lebens, den ſeligen Glauben an die Menſchen, die dich jetzt noch gleich holden Erſcheinungen umſpielen; er war heilſam, 10 15 20 25 30 20 26 30 Achte Szene 339 er war notwendig, den göttlichſten der Triebe in deinem Herzen zu entfalten. Ich bewundre die weiſe Sorgfalt der Natur. Eine gefällige Welt legt ſie um unſern jugendlichen Geiſt, und der aufkeimende Trieb der Liebe findet, was er ergreife. An dieſer hinfälligen Stütze ſpinnt ſich der zarte Schößling hinauf und umſchlingt die nachbarliche Welt mit tauſend üppigen Zweigen. Aber ſoll er, ein königlicher Stamm, in ſtolzer Schönheit zum Himmel wachſen — o dann müſſen alle dieſe Neben⸗ zweige erſterben und der lebendige Trieb, zurückgedrängt in ſich ſelbſt, in gerader Richtung über ſich ſtreben. Still und ſanft fängt die erſtarrte Seele jetzt an, den verirrten Trieb von der wirklichen Welt abzurufen und dem gött⸗ lichen Ideale, das ſich in ihrem Innern verklärt, entgegen zu tragen. Dann bedarf unſer ſeliger Geiſt jener Hilfe der Kindheit nicht mehr, und die gereinigte Glut der Begeiſterung lodert fort an einem innern unſterblichen Zunder. Angelika. Ach mein Vater! Wie viel fehlt mir zu dem Bilde, das Sie mir vorhalten! — Auf dieſem er⸗ habenen Fluge kann Ihre Tochter Sie nicht begleiten. Laſſen Sie mich das liebliche Phantom verfolgen, bis es von ſelbſt von mir Abſchied nimmt. Wie ſoll ich — wie kann ich außer mir haſſen, was Sie mich in mir ſelbſt lieben lehrten? Was Sie ſelbſt in Ihrer Angelika lieben? v. Hutten (mit einiger Empfindlichkeit). Die Einſamkeit hat dich mir verdorben, Angelika. — Unter Menſchen muß ich dich führen, damit du ſie zu achten verlerneſt. Du ſollſt ihm nachjagen, deinem lieblichen Phantom — du ſollſt dieſes Götterbild deiner Einbildung in der Nähe beſchauen — Wohl mir, daß ich nichts dabei wage — Ich habe dir einen Maßſtab in dieſer Bruſt mitgegeben, den fie nicht aushalten werden. (Mit ſtillem Entzücken fie betrachtend.) O noch eine ſchöne Freude blüht mir auf, 340 Der Menſchenfeind und die lange Sehnſucht naht ſich ihrer Erfüllung. — Wie ſie ſtaunen werden, von nie empfundnen Gefühlen entglühen werden, wenn ich den vollendeten Engel in ihre Mitte ſtelle — Ich habe fie — Ja, ich habe fie gewiß — ihre Beſten und Edelſten will ich in dieſer goldenen Schlinge verſtricken — Angelika! (er naht ſich ihr mit feier- lichem Ernſte und läßt ſeine Hand auf ihr Haupt niederſinken.) Sei ein höheres Weſen unter dieſem geſunknen Geſchlechte! — Streue Segen um dich, wie eine beglückende Gottheit! — Übe Taten aus, die das Licht nie beleuchtet hat! — Spiele mit den Tugenden, die den Heldenmut des Helden, die die Weisheit des Weiſeſten erſchöpfen. Mit der unwider⸗ ſtehlichen Schönheit bewaffnet, wiederhole du vor ihren Augen das Leben, das ich in ihrer Mitte unerkannt lebte, und durch deine Anmut triumphiere meine verurteilte Tugend. Milder ſtrahle durch deine weibliche Seele ihr verzehrender Glanz, und ihr blödes Auge öffne ſich end— lich ihren ſiegenden Strahlen. Bis hieher führe ſie — bis ſie den ganzen Himmel ſehen, der an dieſem Herzen bereitet liegt, bis ſie nach dieſem unausſprechlichen Glück ihre glühenden Wünſche ausbreiten — und jetzt fliehe in deine Glorie hinauf — in ſchwindligter Ferne ſehen ſie über ſich die himmliſche Erſcheinung! ewig unerreichbar ihrem Verlangen, wie der Orion unſerm ſterblichen Arm in des Athers heiligen Feldern. — Zum Schattenbilde wurden ſie mir, da ich nach Weſen dürſtete; in Schatten zerfließe du ihnen wieder. — So ſtelle ich dich hinaus in die Menſchheit — Du weißt, wer du biſt — Ich habe dich meiner Rache erzogen. 10 15 20 25 Die Huldigung der Künſte Ein lyriſches Spiel — Perſonen Barer. Mutter. Jüngling. Mädchen. Chor von Landleuten. Genius. Die ſieben Künſte. Die Szene ift eine freie ländliche Gegend. In der Mitte ein Orangenbaum, mit Früchten beladen und mit Bändern geſchmückt. Landle ute ſind eben beſchäftigt, ihn in die Erde zu pflanzen, indem die Mädchen und Kinder ihn zu beiden Seiten an Blumenketten halten. Vater. Wachſe, wachſe, blühender Baum Mit der goldnen Früchtekrone, Den wir aus der fremden Zone Pflanzen in dem heimiſchen Raum! 5 Fülle ſüßer Früchte beuge Deine immer grünen Zweige! Alle Zandleute. Wachſe, wachſe, blühender Baum, Strebend in den Himmelraum! Jüngling. Mit der duft'gen Blüte paare 10 Prangend ſich die goldne Frucht! Stehe in dem Sturm der Jahre, Daure in der Zeiten Flucht! Alle. Stehe in dem Sturm der Jahre, Daure in der Zeiten Flucht! Mutter. 18 Nimm ihn auf, o heil'ge Erde, Nimm den zarten Fremdling ein, 20 26 30 35 40 344 Die Huldigung der Künſte Führer der gefleckten Herde, Hoher Flurgott, pflege ſein! Mädchen. Pflegt ihn, zärtliche Dryaden, Schütz' ihn, ſchütz' ihn, Vater Pan! Und ihr freien Oreaden, Daß ihm keine Wetter ſchaden, Feſſelt alle Stürme an! Alle. Pflegt ihn, zärtliche Dryaden, Schütz' ihn, ſchütz' ihn, Vater Pan! Jüngling. Lächle dir der warme Ather Ewig klar und ewig blau! Sonne, gib ihm deine Strahlen, Erde, gib ihm deinen Tau! Alle. Sonne, gib ihm deine Strahlen, Erde, gib ihm deinen Tau! Vater. Freude, Freude, neues Leben Mögſt du jedem Wandrer geben; Denn die Freude pflanzte dich. Mögen deine Nektargaben Noch den ſpätſten Enkel laben, Und erquicket ſegn' er dich! Alle. Freude, Freude, neues Leben Mögſt du jedem Wandrer geben, Denn die Freude pflanzte dich. 45 50 5⁵ 60 Die Huldigung der Künſte 345 Sie tanzen in einem bunten Reihen um den Baum. Die Muſik des Or⸗ cheſters begleitet ſie und geht allmählich in einen edleren Stil über, während daß man im Hintergrund den Genius mit den ſieben Göttinnen herabſteigen ſieht. Die Landleute ziehen ſich nach beiden Seiten der Bühne, indem der Genius in die Mitte tritt und die drei bildenden Künſte ſich zu ſeiner Rechten, die vier redenden und muſikaliſchen ſich zu ſeiner Linken ſtellen. Chor der Riinfte. Wir kommen von fernher, Wir wandern und ſchreiten Von Völkern zu Völkern, Von Zeiten zu Zeiten — Wir ſuchen auf Erden ein bleibendes Haus. Um ewig zu wohnen Auf ruhigen Thronen, In ſchaffender Stille, In wirkender Fülle — Wir wandern und ſuchen und finden's nicht aus. Jüngling. — Sieh, wer ſind ſie, die hier nahen, Eine göttergleiche Schar! Bilder, wie wir nie ſie ſahen! Es ergreift mich wunderbar. Genius. Wo die Waffen erklirren Mit eiſernem Klang, Wo der Haß und der Wahn die Herzen verwirren, Wo die Menſchen wandeln im ewigen Irren, Da wenden wir flüchtig den eilenden Gang. Chor der Künſte. Wir haſſen die Falſchen, Die Götterverächter, Wir ſuchen der Menſchen Aufricht'ge Geſchlechter; 65 75 346 Die Huldigung der Künſte Wo kindliche Sitten Uns freundlich empfahn, Da bauen wir Hütten Und ſiedeln uns an! Mädchen. Wie wird mir auf einmal! Wie iſt mir geſchehn! Es zieht mich zu ihnen mit dunkeln Gewalten, Es ſind mir bekannte, geliebte Geſtalten, Und weiß doch, ich habe ſie niemals geſehn. Alle Tandleute. Wie wird mir auf einmal! Wie iſt mir geſchehn! Genius. Aber ſtill! Da ſeh' ich Menſchen, Und ſie ſcheinen hoch beglückt; Reich mit Bändern und mit Kränzen, Feſtlich iſt der Baum geſchmückt. — Sind dies nicht der Freude Spuren? Redet! Was begibt ſich hier? Vater. Hirten ſind wir dieſer Fluren, Und ein Feſt begehen wir. Genius. Welches Feſt? O laſſet hören! Mutter. Unſrer Königin zu Ehren, Der erhabnen, gütigen, Die in unſer ſtilles Tal Niederſtieg, uns zu beglücken, Aus dem hohen Kaiſerſaal. 90 95 100 105 110 Die Huldigung der Künſte Jüngling. Sie, die alle Reize ſchmücken, Gütig wie der Sonne Strahl. Genius. Warum pflanzt ihr dieſen Baum? Jüngling. Ach ſie kommt aus fernem Land, Und ihr Herz blickt in die Ferne! Feſſeln möchten wir ſie gerne An das neue Vaterland. Genius. Darum grabt ihr dieſen Baum Mit den Wurzeln in die Erde, Daß die Hohe heimiſch werde In dem neuen Vaterland? Müdchen. Ach ſo viele zarte Bande Ziehen ſie zum Jugendlande! Alles, was ſie dort verließ, Ihrer Kindheit Paradies Und den heil'gen Schoß der Mutter Und das große Herz der Brüder Und der Schweſtern zarte Bruſt — Können wir es ihr erſetzen? Iſt ein Preis in der Natur Solchen Freuden, ſolchen Schätzen? Genius. Liebe greift auch in die Ferne, Liebe feſſelt ja kein Ort! Wie die Flamme nicht verarmet, Zündet ſich an ihrem Feuer Eine andre wachſend fort — 347 115 120 125 130 135 140 Die Huldigung der Künſte Was ſie Teures dort beſeſſen, Unverloren bleibt es ihr; Hat ſie Liebe dort verlaſſen, Findet ſie die Liebe hier. Mutter. Ach ſie tritt aus Marmorhallen, Aus dem goldnen Saal der Pracht. Wird die Hohe ſich gefallen Hier, wo über freien Auen Nur die goldne Sonne lacht? Genius. Hirten, euch iſt nicht gegeben, In ein ſchönes Herz zu ſchauen! Wiſſet, ein erhabner Sinn Legt das Große in das Leben, Und er ſucht es nicht darin. Jüngling. O ſchöne Fremdlinge! Lehrt uns ſie binden, O lehret uns, ihr wohlgefällig ſein! Gern wollten wir ihr duft'ge Kränze winden Und führten ſie in unſre Hütten ein! Genius. Ein ſchönes Herz hat bald ſich heim gefunden, Es ſchafft ſich ſelbſt, ſtill wirkend, ſeine Welt. Und wie der Baum ſich in die Erde ſchlingt Mit ſeiner Wurzeln Kraft und feſt ſich kettet, So rankt das Edle ſich, das Treffliche, Mit ſeinen Taten an das Leben an. Schnell knüpfen ſich der Liebe zarte Bande: Wo man beglückt, iſt man im Vaterlande. Alle Tandleute. O ſchöner Fremdling! Sag', wie wir ſie binden, Die Herrliche, in unſern ſtillen Gründen. Die Huldigung der Künſte 349 Genius. Es iſt gefunden ſchon, das zarte Band, Nicht alles iſt ihr fremd in dieſem Land: Mich wird ſie wohl und mein Gefolge kennen, Wenn wir uns ihr verkündigen und nennen. (Hier tritt der Genius bis ans Proſzenium, die ſieben Göttinnen tun das gleiche, ſo daß ſie ganz vorn einen Halbkreis bilden. In dem Augenblick, wo ſie vortreten, enthüllen ſie ihre Attribute, die ſie bis jetzt unter den 150 155 160 165 Gewändern verborgen gehalten.) Genius (gegen die Fürſtin). Ich bin der ſchaffende Genius des Schönen, Und die mir folget, iſt der Künſte Schar, Wir ſind's, die alle Menſchenwerke krönen, Wir ſchmücken den Palaſt und den Altar. Längſt wohnten wir bei deinem Kaiſerſtamme, Und ſie, die Herrliche, die dich gebar, Sie nährt uns ſelbſt die heil'ge Opferflamme Mit reiner Hand auf ihrem Hausaltar. Wir ſind dir nachgefolgt, von ihr geſendet, Denn alles Glück wird nur durch uns vollendet. Architektur (mit einer Mauerkrone auf dem Haupt, ein goldnes Schiff in der Rechten). Mich ſahſt du thronen an der Newa Strom! Dein großer Ahnherr rief mich nach dem Norden, Und dort erbaut' ich ihm ein zweites Rom, Durch mich iſt es ein Kaiſerſitz geworden. Ein Paradies der Herrlichkeit und Größe Stieg unter meiner Zauberrute Schlag. Jetzt rauſcht des Lebens luſtiges Getöſe, Wo vormals nur ein düſtrer Nebel lag; Die ſtolze Flottenrüſtung ſeiner Maſte Erſchreckt den alten Belt in ſeinem Meerpalaſte. Skulptur (mit einer Victoria in der Hand). Auch mich haſt du mit Staunen oft geſehen, Die ernſte Bildnerin der alten Götterwelt. 175 180 185 190 195 350 Die Huldigung der Künſte Auf einen Felſen — er wird ewig ſtehen — Hab' ich ſein großes Heldenbild geſtellt. Und dieſes Siegesbild, das ich erſchaffen, (die Victoria zeigend) Dein hoher Bruder ſchwingt's in mächt'ger Hand; Es fliegt einher vor Alexanders Waffen, Er hat's auf ewig an ſein Heer gebannt — Ich kann aus Thon nur Lebenloſes bilden, Er ſchafft ſich ein geſittet Volk aus Wilden. Malerei (mit Palette und Pinſel). Auch mich, Erhabne! wirſt du nicht verkennen, Die heitre Schöpferin der täuſchenden Geſtalt. Von Leben blitzt es, und die Farben brennen Auf meinem Tuch mit glühender Gewalt. Die Sinne weiß ich lieblich zu betrügen, Ja, durch die Augen täuſch' ich ſelbſt das Herz; Mit des Geliebten nachgeahmten Zügen Verſüß' ich oft der Sehnſucht bittern Schmerz. Die ſich getrennt nach Norden und nach Süden, Sie haben mich — und ſind nicht ganz geſchieden. Poeſte. Mich hält kein Band, mich feſſelt keine Schranke, Frei ſchwing' ich mich durch alle Räume fort, Mein unermeßlich Reich iſt der Gedanke, Und mein geflügelt Werkzeug iſt das Wort. Was ſich bewegt im Himmel und auf Erden, Was die Natur tief im verborgnen ſchafft, Muß mir entſchleiert und entſiegelt werden, Denn nichts beſchränkt die freie Dichterkraft; Doch Schönres find' ich nichts, wie lang' ich wähle, Als in der ſchönen Form — die ſchöne Seele. Muſik (mit der Leier). Der Töne Macht, die aus den Saiten quillet, Du kennſt ſie wohl, du übſt ſie mächtig aus, 200 205 210 215 220 225 Die Huldigung der Künſte 351 Was ahnungsvoll den tiefen Buſen füllet, Es ſpricht ſich nur in meinen Tönen aus; Ein holder Zauber ſpielt um deine Sinnen, Ergieß' ich meinen Strom von Harmonien, In ſüßer Wehmut will das Herz zerrinnen, Und von den Lippen will die Seele fliehn, Und ſetz' ich meine Leiter an von Tönen, Ich trage dich hinauf zum höchſten Schönen. Tanz (mit der Cymbale). Das hohe Göttliche, es ruht in ernſter Stille, Mit ſtillem Geiſt will es empfunden ſein; Das Leben regt ſich gern in üpp'ger Fülle, Die Jugend will ſich äußern, will ſich freun. Die Freude führ' ich an der Schönheit Zügel, Die gern die zarten Grenzen übertritt, Dem ſchweren Körper geb' ich Zephyrs Flügel, Das Gleichmaß leg' ich in des Tanzes Schritt — Was ſich bewegt, lenk' ich mit meinem Stabe, Die Grazie iſt meine ſchöne Gabe. Schauſpielkunſt (mit einer Doppelmaske). Ein Janusbild laſſ' ich vor dir erſcheinen, Die Freude zeigt es hier und hier den Schmerz: Die Menſchheit wechſelt zwiſchen Luſt und Weinen, Und mit dem Ernſte gattet ſich der Scherz. Mit allen ſeinen Tiefen, ſeinen Höhen Roll' ich das Leben ab vor deinem Blick. Wenn du das große Spiel der Welt geſehen, So kehrſt du reicher in dich ſelbſt zurück,; Denn, wer den Sinn aufs Ganze hält gerichtet, Dem iſt der Streit in ſeiner Bruſt geſchlichtet. Genius. Und alle, die wir hier vor dir erſchienen, Der hohen Künſte heil'ger Götterkreis, 352 Die Huldigung der Künſte Sind wir bereit, o Fürſtin, dir zu dienen; 230 Gebiete du, und ſchnell, auf dein Geheiß, Wie Thebens Mauer bei der Leier Tönen, Belebt ſich der empfindungsloſe Stein, Entfaltet ſich dir eine Welt des Schönen. Architektur. Die Säule ſoll ſich an die Säule reihn. Skulptur. 235 Der Marmor ſchmelzen unter Hammers Schlägen. Malerei. Das Leben friſch ſich auf der Leinwand regen. Muſik. Der Strom der Harmonien ſoll dir erklingen. Tanz. Der leichte Tanz den muntern Reigen ſchlingen. Schauſpielkunſt. Die Welt ſich dir auf dieſer Bühne ſpiegeln. Poeſte. 210 Die Phantaſie auf ihren mächt'gen Flügeln Dich zaubern in das himmliſche Gefild! Malerei. Und wie der Iris ſchönes Farbenbild Sich glänzend aufbaut aus der Sonne Strahlen, So wollen wir mit ſchön vereintem Streben, 218 Der hohen Schönheit ſieben heil'ge Zahlen, Dir, Herrliche, den Lebensteppich weben! Alle Künſte (ſich anſaſſend). Denn aus der Kräfte ſchön vereintem Streben Erhebt ſich, wirkend, erſt das wahre Leben. — — Anmerkungen — Schillers Werke. VII. Die Braut von Meſſina. Die Überlieferung beruht auf dem erſten Druck, der im Juli 1803 erſchien, und auf zwei Abſchriften, die der Dichter bereits vor der Drucklegung verſandte; aus ihnen ſind in den Text dieſer Ausgabe unter anderem die Berichtigung „dreimal“ ſtatt „zweimal“ (V. 13, vgl. V. 1368) und ein beim Druck vermutlich nur ausgefallener Vers (1530) über⸗ nommen worden. Ferner unterſcheidet ſich die eine Abſchrift, die Schiller an das Hamburger Theater ſandte, vom Druck durch die Einteilung in Aufzüge und Auftritte ſowie durch Auflöſung des Chors in einzelne Sprecher: der erſte Chor beſteht aus Cajetan, Manfred, Berengar und fünf anderen Rittern aus Don Manuels Gefolge; von den acht Rittern des zweiten Chores ſind Bohemund, Roger, Hippolyt mit Namen aufgeführt. Beide Anderungen, die Körner 1814 aus einem dritten, nicht mehr vorhandenen Manuſkript in ſeine Ausgabe übernahm, waren Konzeſſionen an das prak⸗ tiſche Bedürfnis der Theater, während im Buch der Cha⸗ rakter der antiken Tragödie gewahrt bleiben ſollte. Wir erleichtern dem Leſer unſerer Ausgabe die Überſicht, indem wir über jeder rechten Seite die Bühneneinteilung zur An⸗ ſchauung bringen. Die Anmerkungen zur „Braut von Meſſina“ wollen zu⸗ nächſt durch einfache Verweiſe den Überblick über den inneren Zuſammenhang des Stückes erleichtern. Nur die Anſpie⸗ lungen auf ungewöhnlichere Motive antiker Mythologie und Sage find erklärt, die Hindeutungen auf moderne Glaubens— vorſtellungen nicht weiter erörtert. Die Miſchung beider Elemente gehört zum Charakter des Dramas (vgl. Einleitung S. XX): neben den zahlreichen Anklängen an Götter⸗ glauben und Sagen der Antike erſcheint das Motiv der Jungfrau⸗Mutter Maria (V. 272 ff.), neben den Erinnyen die 356 Anmerkungen Hölle. Formal antik ſind, außer den in der Einleitung ge⸗ nannten Momenten: der euripideiſche Prolog (1100), die kurzen Wechſelreden (Stichomythien), die Botenſzenen und insbeſondere die tragiſche Ironie, eine ſtete Begleiterin ana⸗ lytiſcher Tragik. Auch die Neigung, plaſtiſche Gruppen auf die Bühne zu ſtellen (3. B. nach 254 und 432), verſtärkt den antikiſierenden Charakter, während der modernere „Tell“ ma⸗ leriſche Wirkungen, zunächſt Landſchaftsbilder, vorzieht. Man hat vermutet, daß Riedeſels „Reiſe durch Sizilien und Großgriechenland“ (Zürich 1771) für Schillers Dichtung von Bedeutung geweſen ſei. Dieſer Schüler Winckelmanns erblickte überall das einſtige Sizilien in dem neuen, fand in dem Volke ein erſtaunliches Feuer, Eiferſucht und Rachgier heftiger als in irgend einer Nation und daneben Heroismus und Stoizismus. Ja ſogar ein Stoff, der entfernt an Schil⸗ lers Drama gemahnt, ward von Riedeſel (S. 171) zu dra⸗ matiſcher Behandlung empfohlen. Wäre hier ein Zuſammen⸗ hang wirklich vorhanden, die Tatſache bliebe doch beſtehen, daß Schillers Stück im weſentlichen eine erfundene Fabel hat. Vers 95. „gewähren“ S bürgen, vgl. Maria Stuart V. 2357, Tell V. 710. 296 ff. Anklang des Niobe⸗Motivs, wie 1438 f. 450. Eteokles und Polyneikes, die Söhne des Oedipus. Auch Leſſing liebt ſolche ausdrückliche Hinweiſe auf die Mo⸗ delle ſeiner Geſtalten. Marwood nennt ſich ſelbſt eine „neue Medea“, Emilia Galotti deutet verſteckter auf Virginia hin; ebenſo wird in den „Räubern“ des verlorenen Sohnes ge— dacht, während auf die „großen Menſchen“ des Plutarch, zunächſt auf Brutus und Catilina, hier wie im „Fiesko“ angeſpielt wird. 693. „erzielen“ = aufS Ziel nehmen, auch ſonſt bei Schiller. 814 ff. Die Ausführlichkeit der Anordnungen Manuels hat Tadler gefunden; ſie entſpreche nicht der Würde der Tragödie und ſtehe nur Menſchen von gemeiner Denkungs— art an. Tatſächlich dient ſie der Charakteriſtik Manuels, im Sinne der Abhandlung „Über naive und ſentimentaliſche Dichtung“ (Bd. 12): „Was der Realiſt liebt, wird er zu be⸗ zur Braut von Meſſina 357 glücken, der Idealiſt wird es zu veredeln ſuchen“, und der Realiſt „wird ſeine Zuneigung immer dadurch beweiſen, daß er gibt, der Idealiſt dadurch, daß er empfängt“. 879 ff. Kant, Kritik der Urteilskraft § 28: „Selbſt der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürger⸗ lichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an ſich und macht zugleich die Denkungsart des Volkes, welches ihn auf dieſe Art führt, nur um deſto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgeſetzt war und ſich mutig darunter hat behaupten können; da hingegen ein langer Friede den bloßen Handlungsgeiſt, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feig⸗ heit und Weichlichkeit herrſchend zu machen und die Den⸗ kungsart des Volks zu erniedrigen pflegt.“ 981 ff. Die Stimmung Beatricens entwickelt Schiller im Sinne der Anſchauungen, die er ſelbſt in ſeiner Abhand⸗ lung „Vom Erhabenen“ (Bd. 12, Anhang) darlegt. „Die Natur gibt zum Kontemplativ⸗Erhabenen nichts her als einen Gegenſtand als Macht, aus dem etwas Furchtbares für die Menſchheit zu machen der Einbildungskraft überlaſſen bleibt.“ Tiefe Stille, große Leere, Einſamkeit ſind in Schillers Auge Mittel, die Einbildungskraft im Sinne des Schreckens vor dem Erhabenen anzuregen. An Hallers Gedichten konnte er dieſe pſychologiſche Beobachtung machen, die ſeine eigne Poeſie jederzeit ausnutzte. 1027. Vgl. V. 1845 ff. 1041. Danae, von ihrem Vater in einen ehernen Turm eingeſchloſſen, wurde von Zeus in Geſtalt eines goldenen Regens beſucht; ſie gebar Perſeus, der auf ſeinem Flügel⸗ roſſe zu dem unzugänglichen Felſen drang, an den Andro⸗ meda gefeſſelt war (V. 1045). 1071. Vgl. 546. 1140. 1084. Vgl. 1118 ff. 1645 ff. Nach 1161. Vgl. 1216 ff. Beatricens verhängnisvolles Schweigen, das für die Motivierung des folgenden unum⸗ gänglich nötig ijt, hat Schiller durch die angſtvolle Stim⸗ mung, die ſie ſeit ihrem Auftreten beherrſcht, durch das Entſetzen, das ihr Ceſars unerwartetes Erſcheinen und ſeine Worte einflößen, endlich durch die ſzenariſche Angabe nach 358 Anmerfungen 1210 zu erklären verſucht, da fie endlich „aus ihrem Schrecken erwacht“; vgl. Einleitung S. XVI. 1196 ff. Die ſeit Phidias typiſche Darſtellung der Sieges⸗ göttin. 1307—24 und 1334—51. Knapper faßt Iſabella die beiden Träume Beatrice und dem Chor gegenüber zuſammen: 2337 —50 und 236265. Nach 1589. Vgl. Einleitung S. XVI. 1814. 1821. Beatricens Erſchrecken iſt ſchon V. 1216 ff. motiviert. 1838. Vgl. 1101. 1087 ff. Dieſer ſtillen Schuld bewußt iſt Beatrice auch jetzt. 1844 ff. Vgl. 1026 f. 2217. 1991. Die Erinnyen. 2012 ff. Der Chor bewegt ſich im Kreiſe der Vor⸗ ſtellungen von Aischylos' „Eumeniden“. Vgl. zu 2416 ff. 2052 f. Kantiſch gedacht. 2088. „Flucht“: hier im weiteſten Sinne, vgl. V. 1615 f. 2117. „ſchöpfe rein die Wahrheit“: vgl. 2375 f. 2235 ff. Vgl. 1861 ff. 2323 ff. Bis ins einzelne geht im folgenden die Nach⸗ bildung des „König Oedipus“: wie Oedipus, wenn er den Mörder des Laios verflucht, ſo trifft Iſabella durch ihre Ver⸗ wünſchung ſich ſelbſt und ihr Geſchlecht; und wie Iſabella (2372 ff.) verhöhnen Oedipus und Jokaſte die Orakel, weil ſie wähnen, der wirkliche Erfolg ſtrafe ſie Lügen. 2412 ff. Uralter Glaube meint, daß die Wunden des Ermordeten beim Herantreten des Mörders ſich wieder öffnen. Vgl. 2432 ff. 2456 ff. 2416 ff. Die Stimmung der „Eumeniden“ (ſ. zu 2012 ff.), die Schiller ſchon in den „Kranichen des Ibykus“ anklingen läßt, kommt hier voll zur Geltung. Vgl. auch Goethes „Iphigenie auf Tauris“ 1129 ff. 2508. „ſchuldlos“ wie Oedipus; vgl. zu 2323 ff. 2588 f. Der extreme Rouſſeauismus dieſer Verſe iſt An⸗ ſchauung des Chors, nicht des Dichters. 2593 ff. Vgl. Schiller an Goethe, Ende Januar 1803: „Es kommt dieſer letzten Handlung ſehr zu ſtatten, daß ich das zum Wilhelm Tell 359 Begräbnis des Bruders von dem Selbſtmord des andern jetzt ganz getrennt habe, daß dieſer jenen Aktus vorher rein beendigt als ein Geſchäft, dem er vollkommen abwartet, und erſt nach Endigung desſelben, über dem Grabe des Bruders, geſchieht die letzte Handlung, nämlich die Verſuche des Chors, der Mutter und der Schweſter, den Don Ceſar zu erhalten, und ihr vereitelter Erfolg. So wird alle Ver⸗ wirrung und vorzüglich alle bedenkliche Vermiſchung der theatraliſchen Zeremonie mit dem Ernſt der Handlung ver⸗ mieden.“ / 2713. Die Santa Caſa des Wallfahrtsortes bei Ancona. 2763. Die Dioskuren Kaſtor und Pollux. Wilhelm Tell. Der erſte Druck des „Tell“ erſchien im Oktober 1804 „zum Neujahrsgeſchenk auf 1805”. Die zweite Auflage (1805) enthält keine Anderungen, die auf den Dichter zurückgehen. Dagegen find wiederum, wie bei der „Braut von Meſſina“, zwei Manuſkripte von Wichtigkeit, aus denen wir die in den Drucken fehlenden Verſe 136 und 2075 übernommen haben. Der Raum, der den erläuternden Beigaben hier gegönnt iſt, verbietet jede Erörterung des geſchichtlichen Wertes der überlieferung. Zum Verſtändnis der Dichtung Schillers genügt es, ſeine unmittelbaren Quellen zu kennen. Die Anmerkungen ſuchen nach dieſer Seite den Andeutungen der Einleitung zu Hilfe zu kommen, gedenken insbeſondere aus- führlicher der dramatiſchen Quellen, denen Guftav Roethe in den „Forſchungen zur deutſchen Philologie, Feſtgabe für Rudolf Hildebrand“ (Leipzig 1894, S. 224 ff.) eine tief eindrin⸗ gende Unterſuchung gewidmet hat. Die Entſtehungsgeſchichte von Schillers Dichtung iſt in Einleitung und Anmerkungen nur da berückſichtigt, wo ſie der Würdigung des künſtleriſchen Wertes der fertigen Dichtung dient. — Das Wenige, das die hiſtoriſche Kritik von der Geſchichte Tells und des Rütli⸗ bundes übrig läßt, überſieht man bequem in Johannes Dierauers „Geſchichte der Schweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft“ (Gotha 1887, I, 102—111); vgl. Wilhelm Viſcher, „Die Sage 360 Anmerfungen von der Befreiung der Waldſtädte nach ihrer allmählichen Ausbildung“ (Leipzig 1867). Zu ganz anderen, weit konſer⸗ vativeren Reſultaten kam Anton Gisler in ſeiner Schrift „Die Tellfrage“ (Bern 1895). Vor 1. Den Namen „Haken“ (Haggen) für den Gebirgs⸗ zug, aus dem ſich der Große und der Kleine Myten erhebt, fand Schiller bei Johannes Müller und bei Fäſi. Irrig braucht er 39 für den Großen Myten den Namen „Myten⸗ ſtein“, den lediglich der Fels trägt, der in der Nähe des Rütli aus dem See ragt; er hat heute die Inſchrift: „Dem Sänger Tells, Friedrich Schiller, die Urkantone 1860.“ — Über die künſtliche Melodie des „Kuhreihens“ und über das Heimweh, das ſeine Töne dem Schweizer in der Fremde wachrufen (vgl. 838. 844), belehrte ſich Schiller wohl aus Ebel; allein insbeſondere durch F. L. v. Stolbergs „Reiſe in Deutſchland, der Schweiz, Italien und Sizilien“ (1794) war das durch den Kuhreihen erweckte Heimweh des Schweizers allen Gebildeten der Zeit geläufig geworden, um demnächſt von den Herausgebern des „Wunderhorns“ in ihrer For⸗ mung des Liedes „Zu Straßburg auf der Schanz“ Verwer⸗ tung zu finden. Vgl. auch Goethe an Schiller, 13. Jan. 1804. 12. Dem Liede des Fiſcherknaben liegt eine Sage zu Grunde, die Scheuchzer (Naturgeſchichte I, 314) erzählt. Vgl. Goethes Ballade „Der Fiſcher“. 35. Den Blick durch die Wolken (die „Waſſer“) zur Erde ſchildern Sulzer (Vorrede zu Scheuchzer) und Fäſi. 37. Naue (lat. navis), Laſtſchiff von etwa 15 m Länge; hier iſt wohl an einen Kahn gedacht. Etterlin gebraucht das Wort. Die Wetterzeichen hatte ſich Schiller aus Scheuchzer (I, 11) notiert, demzufolge die Wendung „der graue Talvogt kommt“ in Engelberg gebraucht wird, wenn die Wolken um den Schalliſtock hängen bleiben, oder wenn graue Wolken durch das Tal von Unterwalden herziehen. 53 ff. Die einzelnen Züge aus dem Sennen⸗ und Jägerleben nach Scheuchzer, Ebel, Fäſi. 97. Bei Tſchudi (I, 233) ſagt Cunrat von Boumgarten vor der Tat: „Ich will Im das Bad geſegnen, daß Ers keiner Frowen mer tut“; im Urner Spiel berichtet Cunno gum Wilhelm Tell 361 Abaltzellen: „Do gab ich jm warms mit einem ſchlag Gnd gſägnet jm mit einer achß das bad, Das er da tod lag in der ſtanden [im Badetrog!.“ 146. Der 28. Oktober [1307]. 176. „beilegt“: gegen den Wind ſegeln. Vor 183. Pfeifer von Luzern iſt eine von Schiller er⸗ dichtete Perſönlichkeit. Schiller dachte wohl an den berühm⸗ ten, von Crauer dramatiſch verherrlichten, katholiſchen „Schweizerkönig“ des 16. Jahrhunderts (Roethe S. 261). 187 f. Vgl. Ilias VI, 224 f.; die ganze Szene bedient ſich homeriſchen Sprachgebrauchs (204 f. 209. 240); vgl. auch unten 486 und 2598. 244. Vgl. 1215. 294. Im Gegenſatz zu den „eignen Leuten“ (1081). 315. Matth. 26, 31. 336. Vgl. zu 813. 360. Angaben Tſchudis und Müllers mißverſtehend, nahm Schiller das Wort „Twing“, das den rechtlichen Zwang, die Gerichtsbarkeit, die der Eigentümer in ſeinem Bezirk auszu⸗ üben befugt iſt, bedeutet, im Sinne von Zwingburg; vgl. 528. 370. Bei Tſchudi I, 235: „Zwing Uri under die Stägen.“ 386 ff. Den Vergleich der Schweizer Berge mit Kunſt⸗ bauten führt Scheuchzer I, 113 ff. ausführlich durch. 392 ff. Schiller wollte Geßler ſchon im erſten Aufzug auf die Bühne bringen; der Landvogt ſollte dem Knappen Diethelm (vgl. 2880) den Befehl zur Aufrichtung des Hutes geben. Zwei Fragmente der geplanten Szene ſind erhalten; Schiller erwähnt ſie in den Briefen an Iffland vom 23. Januar und 11. Februar 1804. Geßlers nachträglich unterdrückte Rede wurde in den Worten des Ausrufers (mit faſt wört⸗ licher Anlehnung) der endgültigen Faſſung des Stückes ein⸗ verleibt. Im Urner Spiel ſagt der Landvogt zu ſeinem Knecht (197 ff.): „. . . luog, das du zuo zyten, So ich uvß diſem land wird ryten, Vffſteckeſt minen Huot in die ſtraß Vnder die linden, vnd gebüt ouch das, Welcher bur hingang für den huot 362 Anmerkungen Bnd dem ſelben nit eer anthuot Vnd ſich neigt, als ob ich ſelbs da wer In eigner perſon, on alle gfer, Dem ſelben wil ich nemmen ſin laeben, Muoß mir ouch all ſin guot gaeben.“ Der Vogt reitet dann fort, und der Knecht verkündet: „Nun loſend zuo, jr lieben fründ, Ein nüwes gbott ich üch verkünd, Das vnſer Herr Vogt gebieten thuot: Welcher yes gadt für diſen Huot Vnd jm nit groß eer thuot erzeigen, Als dem Vogt ſelbs, und thuot ſich neigen, Den wol er ſtraaffen an lyb vnd guot. Drumb neigend üch gen diſem huot!“ Indem Schiller das Auftreten und die Rede Geßlers ſtrich, näherte er ſich wieder der Darſtellung Tſchudis; vgl. auch Roethe a. a. O. S. 244 f. 424. Schiller erfuhr den auch heute noch geltenden Brauch wohl aus Scheuchzer (II, 87). 649. Nach Scheuchzer I, 70; vgl. 1499 f. 701. „Obmann“ = Schiedsrichter. 710. Vgl. zur „Braut von Meſſina“ 95. 745 ff. Vgl. Bodmers „Heinrich von Melchtal“ S. 16; der Kirchherr von Sarnen tröſtet den blinden Greis: „Seligere Tage werden kommen und ſtehn vor der Türe. Das Licht der Augen wirſt du zwar nicht wieder empfangen, aber in deiner Seele wird es heiter werden. Du wirſt in die Tage leben, da dieſes unterdrückte Volk aus dem Staube, wo es itzt liegt, ſich aufraffen wird. Dieſe Berge nähren Heldenſeelen.“ 752 ff. Die Szene zwiſchen Attinghauſen und Rudenz ſollte zuerſt als dritte des erſten Aufzuges (zwiſchen der zweiten und dritten der zuletzt gewählten Reihenfolge) er⸗ ſcheinen; vgl. das Szenar in Schillers Brief an Iffland vom 5. Dezember 1803. Auch hier kehrte nach kurzem Schwanken Schiller zu Tſchudis Nacheinander zurück. Vgl. Einleitung S. XXIV. 780. Pfauenfeder auf Helm und Hut war öſterreichiſche gum Wilhelm Tell 363 Tracht. Müller (II, 455) berichtet von der Zeit nach der Schlacht von Sempach: „Wer ſeinen Helm oder Hut (wie die Herzoge zu tun pflegten) mit Pfauenfedern hätte ſchmücken wollen, würde von dem Volk umgebracht worden ſein.“ 813. In Ebels „Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz“ (J, 90 ff.) fand Schiller die „Beſchreibung der Lands⸗ gemeinde Inneroodens“, die er für die Rütliſzene und auch hier verwertete. Der „Landammann“ wird danach auf ein Jahr ge⸗ wählt, meiſt indes nach Jahresablauf neu beſtätigt; am Ende ſeiner Amtszeit wird er ohne weitere Wahl „Pannerherr“. 872. „Länderkette“: Schiller hatte ſich aufgezeichnet: „Kreis von Ländereien und Kaſtvogteien, die er [Kaiſer Albrecht! um die Waldſtätte herumſchlingt: Zug Unter[walden] Schweiz Einſiedeln Luzern Uri Glarus Entlibuchen Diſentis Wald Urſern Um dieſe koſtſpieligen Käufe zu machen, muß er alle ſeine Länder ſchwer beſchatzen und beſteuern.“ 876. Vgl. Müller (I, 597) über den Zoll der Vogtei „tief im Gotthardpaß über das Tal Urſeren“. 885. Vgl. „Wallenſteins Tod“ IV, 3 (2583 ff.). 911. Friedrich II. eroberte 1241 nach langem Kampfe Faenza (Faventia) bei Ravenna. Sechshundert Schweizer ſtanden ihm zur Seite. Die Schweiz erhielt zum Lohne ihre Freiheitsbriefe; vgl. 1215. 975 ff. Einen doppelten Mondregenbogen fand Schiller beſchrieben und bildlich dargeſtellt bei Scheuchzer (I, 253). 1004. Gletſchermilch heißt das bläulich-milchweiße Waſſer, das den Gletſchern entſtrömt. 1075. Nach Tſchudi (I, 146). 1091. „In Kriegen fürend ſy ein großes Horn mit, blaaſend das zu einem Zeichen als ein Trummet. Ein ſonderlicher Landmann zu dieſem Dienſt und Hornblaaſen beſtellt, wird genannt der Stier von Uri“ (Stumpf). 1096. „Sigriſt“ = Sakriſtan. 1109. „Landsgemeinde“: Ebels (vgl. zu 813) Mit⸗ teilungen liegen dem folgenden zu Grunde. Der Land- 364 Anmerkungen ammann präſidiert; an jeder Seite des Gerüſtes, auf dem er ſteht, iſt ein Schwert aufgepflanzt. Neben dem Land⸗ ammann ſtehen die Landweibel und der Landſchreiber; vor ihm liegt das große Landbuch, in dem alle Entſcheidungen aufgezeichnet werden. Die Verſammelten ſtehen in halb⸗ rundem Haufen vor dem Präſidenten. Das erſte Geſchäft iſt die Wahl des neuen Landammanns; ſie wird mit aufge⸗ hobener Hand vollzogen. 1142. Vgl. zu 294; hier nach Müller I, 399. 1162. „Liedern“: gemeint iſt das jetzt noch im Haslital geſungene „Oſtfrieſenlied“. Schon im Urner Spiel (V. 87 ff.) erzählt der „ander Herold“: „Wannen aber die von Schwytz entſprungen? Vß Schweden ſind die ſelben kommen Bnd hand ſich zu Schwytz nider glan.“ Schillers von ihm ſelbſt bezeugte Quelle aber iſt Müller (I, 392 ff.), dann wohl auch Etterlins Kronika (S. 19). Müller deutete ſelbſt den „ſchwarzen Berg“ auf den Brünig, das Weißland auf das Oberhaslital. 1207 ff. Müller (I, 398): „Bey den Schweizern wohnten viele eigene Leute, pflichtig mit Leib und Gut oder doch mit Güterzinſen an Fürſten und Könige, an die Grafen von Rapperſchwil, an die Stifter zu Lucern, in Einſideln ..., an das Fraumünſter von Zürich, an andere geiſtliche und weltliche Herren“; vgl. 1359 ff. 1215. Im Freiheitsbrief hieß es: „Sponte nostrum et imperii dominium elegistis“ (Müller I, 398 Anm. 23). Vgl. 244. 1234. „Blutbann“: Gericht über Leben und Tod; vgl. Müller I, 400. 1244. „Kaiſer“: Heinrich V. im Jahre 1114; vgl. Müller I, 403 f. 1447. Am Schluſſe des Urner Spiels „gibt“ Tell der Gemeinde den Eid, den ſie augenſcheinlich nachzuſprechen hatte. Kein anderes Telldrama hat das Motiv: „Das wir keinen Tyrannen mee dulden, Verſprechend wir by unſern hulden. Alſo ſol Gott vatter mit ſim Sun, Ouch heiliger Geiſt vns helffen nun.“ gum Wilhelm Tell 365 1455. „Genoßſame“: Gemeindebezirk, heute noch üblich. 1501. Scheuchzer ſcheidet (I, 295 f.) „Wind⸗Lauwen“, die vom Wind erregt werden, und „Schloß⸗ oder Schlag⸗Lauwen“, die durch ihre eigene Schwere alles niederwerfen. 1539. „Ehni“: Großvater, Ahne. Vor 1732. „Bannberg“: „Es iſt bey hoher Strafe ver⸗ botten, einiges Gehölze in demſelben zu fällen; indem dasſelbe zu Abhebung und Zertheilung der von dem obern und unfruchtbaren Theil des Bergs zur Winters⸗Zeit herab⸗ rollenden Schnee⸗Lauwenen unentbehrlich nothwendig iſt“ (Safi II, 177); vgl. 1775 ff. 1732 ff. Ahnlich klagen die Wächter in Ambühls „Tell“ S. 23; vgl. „Schweizerbund“ S. 72. 1733. „. .. daß jeder ... fille mit Neigen .. Eer und Reverentz bewiſen ...“ (Tſchudi I, 235); vgl. 1820. 1835. 1759 f. Vgl. Bodmers „Tell“ S. 12: „Was iſt der leere Hut? — vor wie viel leeren Köpfen beuget man ſich täglich!“ 1872. Tſchudi (I, 238): „Wär ich witzig, ſo hieß ich nit der Tell.“ Etterlin: „Were ich witzig, ſo hieſſe ich anders dann der Tell.“ Urner Spiel: „Wer ich vernünfftig, witzig vnd ſchnell, So were ich nit genannt der Thell.“ Dieſer Wendung, die auf die älteſte Überlieferung der Schweizer Tellſage zurückgeht, ſcheint eine Etymologie zu Grunde zu liegen, die heute wiſſenſchaftlich nicht mehr ver⸗ wertbar iſt. Sie veranlaßte Schiller, Cotta aufzutragen, er möge ſich erkundigen, „ob Tell nicht eine Art von Schimpf⸗ name bedeute“. Cottas Antwort (16. September 1802) lautete: „Ich habe bei einigen Schweizern nachgefragt, die es verneinten, mir aber ſagten, daß Tell einen Austeiler bedeute: einem ſeinen Tell beſtimmen — es ſcheint alſo ur⸗ ſprünglich einen Teil beditten zu haben.“ Dieſe Etymologie iſt ganz unhaltbar. Wahrſcheinlich hat Schiller, als er die Wendung übernahm, nicht mehr das etymologiſche Mo⸗ ment betonen, ſondern nur ſagen wollen: „Ich, Wilhelm Tell, bin als unbeſonnen bekannt.“ 1876 f. Goethe zu Eckermann (18. Januar 1825): „Wie er [Schiller] überall kühn zu Werke ging, fo war er auch 366 Anmerkungen nicht für vieles Motivieren. Ich weiß, was ich mit ihm beim Tell für Not hatte, wo er geradezu den Geßler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben ſchießen laſſen wollte. Dies war nun ganz gegen meine Natur, und ich überredete ihn, dieſe Grauſamkeit doch wenigſtens dadurch zu motivieren, daß er Tells Knaben mit der Geſchicklichkeit ſeines Vaters gegen den Landvogt großtun laſſe, indem er ſagt, daß er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baume ſchieße.“ Vgl. Schiller an Iffland 16. März 1804. 1900. Vgl. „Schweizerbund“ III, 3: „Wie, Herr! Der Mörder meines lieben Jungen zu werden!“ 1949. Vgl. „Schweizerbund“ S. 91: „Er ſchießt den Vogel im Flug“; Ambühls „Tell“ S. 39: „Man ſagt, du ſchießeſt den Vogel im Fluge.“ 1988. „Steuerruder“ deutet auf Baumgartens Rettung. 1992 — 2031. Der Einſchub der bewegten Szene, die ſich zwiſchen Geßler, Rudenz und Berta abſpielt, ijt ein Meiſter⸗ griff des Regiſſeurs Schiller, weil ſie die Aufmerkſamkeit des Zuſchauers von dem bühnentechniſch notwendigen Scheinſchuſſe Tells ablenkt. Vgl. L. Tiecks Kritiſche Schriften IV, 267 ff. 2052. Tſchudi, deſſen Darſtellung (I, 238) bis ins kleinſte gerade in dieſer Szene nachgebildet iſt: „Der Tell erſchrack aber, und gedacht die Frag bedütet nützit Guts, doch hett Er gern die Sach glimpfflich verantwurt, und ſprach: Es wäre alſo der Schützen Gewonheit.“ Urner Spiel: „Darzuo bruchends ouch ander ſchützen.“ Ruef: „Der bruch iſts vnder allen ſchützen.“ „Schweizerbund“ III, 7: „Iſt fo Schützen Brauch.“ 2060 ff. Tſchudi (ebenda): „. .. wil ich üch die grundlich Warheit ſagen, daß min entliche Meinung geweſen, wann ich min Kind getroffen hette, daß ich üch mit dem andern Pfyl erſchoſſen, und one Zwifel üwer nit gefält wolt haben.“ 2077. Vgl. zu 1215. Vor 2099. „Fiſcher und Fiſcherknabe“: d. i. Kuoni und Jenni aus der 1. Szene des 1. Aufzuges. Daß neben der dort (179) zerſtörten Hütte auch am entgegengeſetzten (öſtlichen) Ufer des Urner Sees dem Fiſcher eine Hütte (2128) als Zuflucht bei böſem Wetter zur Verfügung ſteht, iſt ſelbſtverſtändlich. zum Wilhelm Tell 367 2129. „Kommlich“: ſchweizeriſch und elſäſſiſch für zu⸗ träglich. 2160. „Handlos“: der Hand nichts zum Halt bietend. 2187 ff. Vgl. Einleitung S. XXXVI. — Für die Schilderung des ganzen Vorgangs hat Schiller höchſt wahrſcheinlich die Karte des Urner Sees benützt, die in Scheuchzers Buch „Helvetiae Stoicheiographia, Orographia et Hydrographia“ (Zürich 1716, zwiſchen S. 112 und 113) ſich findet. Sie ver⸗ zeichnet auffallend wenig Namen; es ſind aber gerade die von Schiller gewählten, und zwar in derſelben Orthographie: am öſtlichen Ufer „Klein⸗Axenberg (2229) und „Groß⸗Axen⸗ berg“ (2190), „Hak⸗Meſſer“ (2192) und „Buggis⸗Gradt“ (2188), am weſtlichen „Teufels⸗Münſter“ (2189). Fäſis Schilderung der Gegend (II, 136 f.) bedient ſich zum Teil anderer Ortho⸗ graphie („Bukisgrat“), nennt auch weit mehr Namen. Dafür konnte Schiller folgende Bemerkungen Fäſis verwerten: „Dieſes entſezliche Felſen⸗ und Berg⸗Thal, in welchem der See liegt, hat eigentlich nur gegen Altorf und Lucern eine Oeffnung, daß die Winde durch dieſelben ziehen können. Da aber die meiſten Winde in dieſem Thal ihren Urſprung er⸗ halten, ſo müſſen ſie ſich, weil die heftig drukende Luft nicht genugſamen Raum zu ihrem Ausgang hat, in dem Ort ihrer Geburtsſtätte wieder entwüten und in Stöſſe und Wirbel verwandeln ... Die Schiffe, welche während einem ſolchen Zeitpunkt das Unglük haben, auf dem See zu ſeyn, ſtehen jeden Augenblik, bey jedem wiederholten Stoß des Sturms und der ſchäumenden Waſſer, in augenſcheinlichſter Gefahr, an den Felſen zerſchmettert zu werden... Wenn man Brunnen, Flüelen, Tellen-Blatten, Buchs, Gerſau und Stanzſtad ausnimmt, ſo ſind an dem öſtlichen Theil des Sees keine einige [eingigen] Orte, an denen die Schiffe landen, und in der Noth Hülfe erlangen können.“ 2194 f. „Fluh“: „ſteilhohe oder gächſtotzige Felswände“ (Scheuchzer, Stoicheiographia S. 104). 2224 ff. Tſchudi (I, 238 f.): „Wie fi nun uff den See tament, und hinuff furend, biß an Achſen das Ecke [die Strecke bis an den Axenberg, nicht: „an die Ecke beim Kleinen Axen “], do fugt GOtt, daß ein folder gruſamer ungeſtümmer 368 Anmerkungen Sturm⸗Wind infiel, daß ſi ſich all verwegen hattend ärmk⸗ lich ze ertrincken. Nun was der Tell ein ſtarcker Mann, und kondt vaſt wol uff dem Waſſer; do ſprach der Dienern einer zum Landt⸗Vogt, Herr Ir ſechend üwre und unſre Not und Gfar unſers Lebens, darinn wir ſtand, und daß der Schiff⸗Meiſter erſchrocken, und des Farens nit wol bericht; nun iſt der Tell ein ſtarcker Mann, und kan wol ſchiffen, man ſolt In jetz in der Not bruchen. Der Landt⸗Vogt was der Waſſer⸗Not gar erklupfft [erſchrocken], ſprach zum Tellen: Wann du uns getruwtiſt uß diſer Gfahr ze helffen, ſo wölt ich dich diner Banden ledigen; Der Tell gab Antwurt: Jo Herr, ich getruwe uns mit GOttes Hilff wol hiedannen ze helffen. Alſo ward er uffgebunden, ſtund an das Stür⸗ ruder, und fur redlich [kundig]! dahin, doch lugt Er allweg uff den Schieß⸗Züg der ze nächſt bi Im lag, und uff ein Vorteil hinuß zu ſpringen, und wie Er kam nah zu einer Blatten (die ſidhar den Namen des Tellen Blatten behalten, und ein Heilig Hüßlin dahin gebuwen iſt) beducht Im daß Er daſelbs wol hinuß geſpringen und entrünnen möcht, ſchry den Knechten zu, daß ſie hantlich zugind [zögen, nicht „zu⸗ gingen“, wie Schiller verſtand], biß man für dieſelb Blatten käme, wann ſie hattend dann das Böſiſt überwunden, und als Er nebent die Blatten kam, truckt Er den hindern Granſen mit Macht (wie Er denn ein ſtarcker Mann was) an die Blatten, erwüſcht ſin Schieß⸗Züg, und ſprang hinuß uff die Blatten, ſtieß das Schiff mit Gwalt von Im, ließ ſie uff dem See ſchweben und ſchwencken.“ 2326 f. Vgl. 1491 ff. übrigens zeigen Hedwigs Worte hier, daß ſie über den Vorgang des Apfelſchuſſes ſehr un⸗ genau unterrichtet ijt (vgl. 2332 mit 1899). 2376. 2. Sam. 7, 27: „Darum hat dein Knecht ſein Herz gefunden.“ 2433. Üchtland: das Land zwiſchen den Seen von Biel, Neuenburg und Murten einerſeits und der Aare andrer⸗ ſeits mit Bern und Freiburg. 2443. „Paß“: bei Morgarten (15. November 1315). 2444 ff. Arnold von Winkelrieds Heldentat bei Sempach (9. Juli 1386). gum Wilhelm Tell 369 2641. Scheuchzer I, 71 f.: „In dieſer äuſſerſten Gefahr wirfft er ſein Geſchoß von ſich, ziehet die Schuhe, denen er wegen Schlipfrigkeit nicht trauen darf, aus, ſchneidet ſich mit dem Meſſer in die Ferſen, oder Ballen des Fuſſes, damit das hervor wallende Geblüt . .. an ſtatt eines Leims dienen könne, welchs den Fuß an den Felſen veſt, ohne Gefahr des Schlipfens, anhalte.“ 2650. „Das Beſte“: der höchſte Siegespreis, vgl. Goethes „Götz“ J, 3 und Brief an Herzogin Luiſe 23. Dezember 1786. 2652 ff. „Kloſtermeier“: Verwalter des Kloſterguts. „Brautlauf“: Hochzeit. „Senten“: die Herde Kühe, die ein Senne unter ſich hat. 2665. „Ruffi“: Bergſturz; nach Scheuchzer, Stoicheio- graphia S. 128. 136. 2669 ff. Nach Tſchudi I, 241, vgl. Einl. S. XXIII. XXV. 2739. „Wildheuer“: Scheuchzer II, 66. „Dieſes ſind arme Leute, welche weder Wieſen noch Alpen haben, ihr weniges Vieh damit zu ernähren, und deßwegen das Heu... in der Wildniß in hohen gähſtotzigen Orten ſammlen müſſen, dahin die Eigenthums⸗Herrn nicht einmal getrauen ihr Vieh zu treiben.“ 2848. Vgl. zu 1091. 2876. Das Szenar des Briefes an Iffland vom 5. De⸗ zember 1803 (ogl. zu 752 ff.) bezeugt, daß als Schlußſzene des vierten Aufzugs die Erſtürmung Roßbergs gedacht war, der Brief gleicher Adreſſe vom 11. Februar 1804, daß ur⸗ ſprünglich auch Landenberg auf die Bühne kommen ſollte. 2911. „Urfehde“: zunächſt Verzicht auf Rache für er⸗ littene Feindſchaft. Allein ſchon Müller (II, 3) brauchte das Wort in weiterem Sinn: „Als Landenberg, da er durch die Wieſen von Sarnen gegen Alpnach floh, ereilt wurde, mußte er, wie andere von den Burgen, die Urfehde ſchwören, daß er nicht wieder in die ſchweizeriſchen Waldſtette kommen wolle.“ 2920 ff. Die kleine Hutſzene iſt einer Szene in Am⸗ bühls „Tell“ nachgebildet. 2955 ff. Die Erzählung hält ſich wieder eng an Tſchudi. 2975. Vindoniſſa (Windiſch), vgl. Müller II, 8. In Am⸗ bühls „Hans von Schwaben“ S. 127 ſagt der sii vor Schillers Werke. VII. 370 Anmerkungen ſeiner Ermordung zu ſeinem Vetter: „Das war vor Zeiten eine berühmte Stadt, jetzt pflügt der Landmann ihren Boden.“ 2998 ff. Agnes' Blutrache ſchildert Müller (II, 11); als bei der Eroberung von Palms Burg 63 Männer in ihrem Blute lagen, ſagte ſie: „Nun bade ich in Maitau.“ 3032 ff. Brief und Antwort nach Tſchudi I, 242 f. 3169 ff. Schon in Meißners „Johann von Schwaben“ wird der Gegenſatz zwiſchen der verzweifelten Notwehr der Schweizer und der rachſüchtigen Freveltat des jungen Her⸗ zogs in einer Szene zwiſchen Johann von Schwaben und dem biederen Schweizerritter von Mecheln verkörpert. Allein Mecheln warnt vor der Tat, die Tell als geſchehen ver⸗ dammt; Mechelns warnende Vergleichungen werden in Tells Munde zu ſtrafenden. Meißner hat allein vor Schiller den verzweifelnd Herumirrenden auf die Bühne gebracht. 3196 ff. Vgl. Meißner S. 211 f.: „Tiefer fiel noch nie ein Fürſtenſohn ... Sage, wie kann ſich der der lauten Slag’ enthalten, der beim Blick' auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dort Glanz und Glück, hier Jammer ohne Maaß ... erblickt!“ Johann nennt fic) den „Niedrigſten, den Elendeſten von allen Söhnen Teutſchlands“ (vgl. 3123) und ſetzt hinzu: „Wer würd' in dieſem Bettlergewande ... den Enkel König Rudolphs ſuchen?“ Vgl. 3193 f. 3213. In der Acht, die Heinrich VII. gegen die Mörder ausſprach, hieß es nach Tſchudi (S. 250): „Wir verbietend Si Iren Fründen, und erlouben Si Iren Vienden.“ 3235. Nach Stumpff. 3242 ff. Zur Schilderung der Landſchaft wird Fäſi (II, 195 ff.) verwertet: „Von Geſchenen bis zur Teufels⸗Brüke reiſet man immer der Reuß nach die Schöllenen hinauf ... Eine gräßliche und wegen den vielen Lauwenen gefährliche Gegend! Das Auge erbliket nichts, als eine ungeheure enge Wildniß. Die Waldungen ſind gänzlich verſchwunden. Man hat nicht einmal die mindeſte Spur von einem Geſträuche, das allhier wachſen könne. Die unerſteiglich ſteilen, oben mit ewigem Schnee bedekten Felſen, die dem Reiſenden über das Haupt hinhangen, an welchen, ja zum theil unter welchen ſich allernächſt die Straſſe hinzieht; die über die Felſen dieſes gum Wilhelm Tell 371 Tobels herabſtürzende Reuß, ſamt den vielen über die Fels⸗ Wände herunterfallenden Bächen, ſind die einigen Geſchöpfe, welche man in dieſer öden Gegend erbliket. Das, was die⸗ ſelbe auch zur Sommers⸗Zeit noch ſchwermüthiger macht, iſt der Mangel der Sonne ... In dem Frühjahr reiſſen ſich die in dem Winter gefpaltene und verfrorne Felſen⸗Stüke leicht los; ſie rauben nicht ſelten den Vorbeyreiſenden das Leben. Von Geſchenen bis zur Teufels⸗Brüke fiehet man bis 23 Creuze zum Angedenken der Erſchlagenen aufgefteft... Das enge, aber ſehr hohe Felſen⸗Tobel, welches nicht 200 Schritte breit iſt; die in der Tiefe ſcheußlich tobende und ſchäumende Reuß; die alle Augenblike den Einſturz drohende Felſen; die vielen neben ſich ſtehenden Todes⸗Erinnerungen, — — machen auch den Roheſten nachdenkend und ſchüchtern ... Hat man endlich dieſen mühſamen Weg hingelegt, ſo gelangt man zu dem merkwürdigſten Ort auf der ganzen Land⸗Straſſe nach der oberſten Höhe des Gotthards, nemlich zu der Teufels⸗ Brüke [die mindeſtens bis 1370 ,ſtäubende Brücke! hieß; Müller I, 205]. Dieſe ijt zwar ein koſtbares, aber nicht auſſer⸗ ordentlich⸗kunſtreiches Werk ... Oberhalb der Brüke ſtürzt der Strom mit fürchterlichem Getös über Felſen 5 bis 6 Klafter tief herab. Durch dieſen Fall und oftmalige Brüche des Waſſers wird ein groſſer Theil desſelben in Staub und Nebel verwandelt. Man ſiehet von dieſem Geſtöber um die Brüke herum ganze Wolken, ſo daß die umliegende Gegend von denſelben immer benezt iſt. Von dieſer Brüke zieht ſich die Straſſe ſtozig gäh in die Höhe. Nach einer Streke von drey⸗ bis vierhundert Schritten gelangt man zu einem Felſen, durch welchen Ao. 1707 die Straſſe mit groſſen Un⸗ koſten theils durchgehauen, theils geſprengt worden. Peter Moretini, von Meynthal, war der Baumeiſter dieſes wich⸗ tigen Unternehmens ... Man nennt dieſen merkwürdigen Paß das Urner⸗Loch ... Die Länge dieſes Feljen-Gangs betragt etwa 80 Schritte; ſie iſt ſo geraum, daß ein Reuter aufrecht durch dieſelben zu Pferde ſizen kann ... Das wenige Licht, ſo man in dem Felſen genießt, fällt in der Mitte des Gangs durch eine Oeffnung herein, welche nicht gar 7 Schuhe hoch, und 3 breit ijt... Hat man den Weg durch den Felſen 372 Anmerkungen zurückgelegt, fo ſtellt ſich das angenehme Urſeren-Thal ſogleich auf eine recht bezaubernde Weiſe dem Auge dar. Diejenigen, welche zur Sommers-Zeit zum erſtenmal den Gotthard bereiſen, glauben ſich plözlich aus der gräßlichſten Wildniß in das anmuthigſte Paradies verſetzt, wenn ſie die Ausſicht an dem Ende des Felſen mit der Wildniß ver— gleichen, in deren ſie ſich noch wenige Minuten vorher be— funden haben. Man weiß nicht, wie einem geſchieht?“ II, 138: „Auf der Höhe des Gotthards kömmt man in dem Bezirk einer Stunde, zu ſechs oder ſieben kleinen Seen ... Das Waſſer all dieſer Seen, welche unſtreitig die höheſten in Europa ſeyn werden, iſt ein klares Berg- oder Brunnen⸗ Waſſer. Ihre Urquellen haben ſie theils in Bächen, welche von höhern Bergen ab und in ſie einflieſſen, theils von eignen reichen Quellen, welche in dem Grund der Seen liegen. Die Seen bleiben faſt das ganze Jahr hindurch in gleicher Tiefe.“ — Schillers „Berglied“ (Bd. 1, S. 35) hält die typiſchen Züge dieſer Lokalitäten feſt. Semele. Zwiſchen den beiden in der Einleitung (S. XXXIX) er⸗ wähnten Ausgaben erſchien die ältere Faſſung noch einmal in einer unrechtmäßigen Sammlung von Schillers Gedichten (1800). Ein Exemplar dieſes Raubdruckes verſah der Dichter mit verſchiedenen Anderungen, die noch konſequenter als die letzte Faſſung alles Theatermäßige entfernten; vielleicht dachte er damals an die Aufnahme des Stückes in die rechtmäßige Ausgabe ſeiner Gedichte. 7. „Torus“ Ehebett, Lieblingswendung Ovids. 25. Hermione: Kadmus' Gattin, Semeles Mutter er⸗ ſcheint zumeiſt unter dem Namen Harmonia. Hederichs „Gründliches Lexicon mythologicum“ (1724) führt auch die von Schiller gebrauchte Namensform an. 40. „Vergeſſene“: wie vor 116 nicht paſſiv gemeint. 133. Hyperion: bei Ovid mehrfach für Phöbus Apollo gebraucht; vgl. 209. Schiller denkt bei der Ausmalung ſeiner Geſtalt wohl an den Apoll von Belvedere. gur Semele 373 209. Tethys (nicht Thetis, die Mutter Achills, mit der Schiller ſie wenigſtens in der Schreibung verwechſelte): die Gattin des Okeanos, die den Sonnengott am Ende ſeiner Fahrt aufnimmt, vgl. Ovids Metamorphoſen II, 68. 224. Typheus: vielmehr Typhoeus. 247. Ochſenaugen: nach dem ſtehenden Beiwort der homeriſchen Hera Podme = ſtieräugig. 380. Vgl. das Gedicht „Die Freundſchaft“ der „Antho⸗ logie“ (55 ff., ſ. Bd. 2): „Freundlos war der große Welten⸗ meiſter, fühlte Mangel — darum ſchuf er Geiſter, Sel'ge Spiegel ſeiner Seligkeit.“ Noch näher kommt dem Gedanken⸗ gange von Schillers Zeus der Jupiter in Kleiſts „Amphi⸗ tryon“ II, 5 (1515 ff.). 395. Schon hier klingt das ſpäter (450) ausdrücklich verwertete Motiv von Pygmalion an, der, von heißer Leiden⸗ ſchaft erfaßt zu der von ihm geſchaffenen Statue eines Weibes, durch ſein inniges Flehen ihre Verlebendigung erreichte. Rouſſeaus Monodrama „Pygmalion“ (1762) hatte das Motiv zum Gemeingut der Zeit gemacht. Schillers Jugendgedicht „Der Triumph der Liebe“ benützte es ebenſo wie „Die Ideale“ von 1795 (Bd. 1, S. 228. 161). 411. Tochter Agenors: Europa. 416. Salmoneus, „des Aeoli und der Enaretae Sohn hielt ſich anfangs in Thessalien auf, kam aber von dar wieder in Elidem und führete ſich dergeſtalt ſtoltz und verwegen auf, daß er ſich ſelbſt dem Joui gleich zu machen ſuchte. Er befahl ihm zu opfern, was jenem gewidmet war, und indem er ſeinen Wagen mit Becken und dergleichen Gerille behangen; oder nach andern ſich eine Brücke von Kupfer bauen laſſen, und mit ſeinem Wagen darauf herum fuhr, wolte er damit das Donnern nach äffen, wobey er denn zugleich brennende Fackeln unter die Leute warf, u. wen er damit traf, den muſten ſeine Leute vollend nieder machen, daß es auch hieſſe, er habe ſolchen mit dem Blitze erſchlagen. Allein, als er eine Zeit lang ſo geſchwärmet, erſchlug ihn Juppiter endlich mit dem rechten Blitze ſelbſt . ..“ (Hederich a. a. O.). Schiller kann durch Vergils Aeneis (VI, 585 f.) auf Salmoneus auf⸗ merkſam gemacht worden ſein. 374 Anmerkungen Der Menſchenfeind. Das Fragment erſchien zuerſt im 11. Heft der „Thalia““ (Nov. 1790) unter dem Titel „Der verſöhnte Menſchenfeind“. Der zweite Druck im 4. Bande der „Kleineren proſaiſchen Schriften“ (1802) enthält außer der Anderung des Titels nur geringfügige Abweichungen, die ſchwerlich auf den Dichter ſelbſt zurückgehen. Vgl. Einleitung S. XIII f. Die Huldigung der Künſte. Das kleine Werk, deſſen Manuſkript erhalten ijt, wurde zunächſt mit dem erſten Bande des „Theaters“ (Tübingen 1805) gedruckt, aber noch ehe dieſer erſchien, ließ Cotta bei Frommann in Jena eine luxuriöſe Einzelausgabe herſtellen. 152. Maria Feodorowna, die Witwe Pauls I. (ermordet 1801), war eine geborene Herzogin von Württemberg. Vgl. Schiller an Wilhelm v. Wolzogen, 12. Nov. 1804. 158. Peter der Große als Gründer Petersburgs. 170. Das Werk des franzöſiſchen Bildhauers Falconet ſtellt Peter den Großen dar, wie er einen mächtigen Felſen hinanſprengt. 176. In dem Jenaer Prachtdruck und in einem an W. v. Wolzogen geſandten Manuſkript lautet der Vers: „Er macht den Sklaven frei und menſchlich ſelbſt den Wilden.“ Schiller begründet in einem Brief an Frommann (3. April 1805) dieſe vorſichtigere Faſſung „einer Stelle, die den Ruſſen hätte anſtößig werden können“. 196. Im Sinn der Abhandlung „über Anmut und Würde“. 231 f. Nach der Sage von Amphion. ny UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY Los Angeles This book is DUE on the last date stamped below. Form L9-Series 444 1006 en I lt | ZZ . Liz RAN \ l W ASS \ SS I \