Enver, Pasa Um Tripolis
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ENVER PASCHA UM TRIPOLIS
Von diesem Buch wurden 30 Exemplare auf Büttenpapier abgezogen und hand- schriftlich numeriert. Exemplar 11 — 30 dieser nicht im Buchhandel erschienenen Ausgabe, in Halbfranz gebunden, sind vom Herausgeber zum Preise von je 50 Mark durch Vermittlung des Verlages (München, Barerstrasse 40) zu beziehen.
Enver Pascha
ENVER PASCHA
Um Tripolis
19 18
Hugo Brudcmann, Verlag, München
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Alle Rechte vorbehalten
Copyright by Hugo Bruckmann Verlag
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Fünf Jahre sind verflossen, seit Enver Pascha die hier ver- öffentlichten Aufzeichnungen niederschrieb: Jahre so gewal- tigen Ringens und Geschehens, daß davor der italienische Überfall gegen Tripolitanien verblaßt wie ein lange vergange- nes Stück Geschichte.
Dennoch sind diese ursprünglich nur für Freundesaugen be- stimmten Blätter gerade heute ganz besonders lehrreich und interessant. Ihr Schreiber nämlich sieht schon damals am politischen Horizont die Schatten jenes ungeheuren Ereignisses heraufziehen, in dessen Mitte wir stehen. Aus dieser immer klarer werdenden Erkenntnis, daß der tripolitanische Feldzug nur die Überleitung, das Vorspiel zu viel größeren Umwäl- zungen bildet, erklärt sich denn auch Enver Paschas Ent- schluß, die ihm so liebgewordene Aufgabe in der Cyrenaika gegen dringlichere einzutauschen.
Aber auch ohne diese wertvollen Zeugnisse ungewöhnlichen politischen Weitblicks wären die tagebuchartig aneinander- gereihten Notizen des Mannes, dem ein so überwiegender An- teil am Aufbau der neuen Türkei und an ihrem heutigen Kampfe zur Seite Deutschlands zukommen sollte, ein histo- risches Dokument von Bedeutung.
Obgleich von Enver Pascha nicht in seiner Muttersprache, also nicht immer in völliger Freiheit des Stils niedergeschrie- ben, eröffnen sie ungeahnte Einblicke in die Seele des großen Soldaten und Patrioten. Sie bieten gegenüber den italienischen Entstellungen den ersten wirklich authentischen Bericht über den heldenhaften Kampf der Tripolitaner gegen die fremden Eindringlinge.
Ganz bescheiden erzählt der Schöpfer und Leiter dieses zähen, zuerst hoffnungslos erscheinenden Widerstandes; sach- lich schlicht wird er nicht nur dem Heldenmut seiner eigenen kleinen Schar gerecht, sondern auch der Tapferkeit der ita- lienischen Offiziere, trotz allem heiligen Zorn, den der feige Überfall gegen sein Vaterland in ihm erweckt.
Neben dem Heerführer lernen wir in Enver Pascha aber auch einen Organisator ersten Ranges kennen. Den wichtig- sten Teil des ganzen Buches bilden wohl die Schilderungen der militärischen und zivilen Wiedergeburt, die Enver Pascha in unglaublich kurzer Zeit und mit den bescheidensten Mitteln unter größten äußeren Schwierigkeiten durchgeführt hat. Seine Berichte zeigen deutlich, was ein kraftvoller Führer aus den angeblich so unbotmäßigen und widerspenstigen Araber- Stämmen machen kann, hat er erst einmal ihr Vertrauen und ihre Liebe gewonnen.
Möchte den tapferen T ripolitaniern, „diesen armen, reinen und treuen Menschen", wie Enver Pascha sie nennt, doch noch die Befreiung vom fremden Joche zuteil werden, die ihnen unter seiner Führung schon so nahe zu winken schien.
Saloniki, den 4. September 1911.
Während ich allein im Coupe saß und der Zug am Wardar- Ufer entlang rollte, überdachte ich die tragischen Ereignisse der letzten Wochen. Der Mond lag silbern auf dem Fluß ; da und dort huschten schwarze Flecke, Schatten der steilen Hänge zur Rechten und zur Linken des engen Tales, über das Silberband des Flusses, und der Zug, der diesem von der Natur vorgezeichneten Wege folgte, trug mein Leid mit fort durch den Frieden der Nacht.
Vom Bahnhof führten mich Freunde, die mich erwarteten, unverzüglich zum Zentralkomitee. Die Besprechung dauerte über fünf Stunden; meine Vorschläge wurden angenommen.
Wir haben also der Regierung geraten, einen Kleinkrieg im Innern von Tripolitanien zu führen. Die Italiener mögen sich immerhin der Küste bemächtigen, was ihnen mit Hilfe der schweren Artillerie ihrer Kriegsschiffe nicht schwer fallen dürfte. Wir werden im Innern des Landes unsere Kräfte sam- meln. Berittene arabische Truppen, befehligt von jungen tür- kischen Offizieren, bleiben in dauernder Fühlung mit den Italienern und beunruhigen sie Tag und Nacht. Jeder Soldat, jede kleinere Abteilung wird überrumpelt und niedergemacht. Stärkeren Kräften weichen wir aus. Es soll versucht werden,
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den Feind von seinen Küstenstützpunkten wegzulocken und vordrängende Truppen im Innern durch Nachtangriffe zu ver- nichten.
Wir werden dem zivilisierten Europa beweisen, daß wir keine rechtlosen Barbaren sind und daß wir verdienen, geach- tet zu werden. Entweder werden wir siegen oder sterben auf dem Felde der Ehre.
Bis heute hat noch kein Angriff stattgefunden. Uebermorgen reise ich nach Konstantinopel, um zu sehen, was dort vor sich geht. Für den Augenblick hat man ein provisorisches Kabinett aus unserer Partei gebildet. Stimmt das Parlament (was sehr wahrscheinlich ist) für das Kabinett, dann wird es sich wieder vertagen, da andernfalls in diesem kritischen Augenblick doch Schwierigkeiten zu befürchten wären. Die Großmächte über- lassen uns unserem Schicksal.
Stambul, den 9. Oktober 1911.
Seit 5 Uhr morgens habe ich die Stadt nach allen Richtungen durchquert, um Einkäufe zu machen und die letzten Vor- bereitungen zu treffen. Ich habe S. M. den Sultan gesehen. Er war gefaßt und traurig. Diesem ehrwürdigen Greis hätte das Elend seines Landes erspart bleiben sollen; Gott scheint mitunter grausam.
Tripolitanien, das unglückliche Land, ist für den Augenblick verloren — wer weiß, vielleicht für immer. Warum gehe ich dennoch hin? Es heißt, eine moralische Pflicht erfüllen, die die ganze islamische Welt von uns erwartet!
Diese Zeilen schreibe ich unmittelbar vor meiner Abreise. Sie ist tiefstes Geheimnis; nur ein paar Menschen wissen, vor welch schweren, undankbaren Aufgaben ich stehe.
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Unterwegs, den 10. Oktober 1911.
Auf dem Schiff ist alles ruhig. Das Leben geht scheinbar wie im Frieden seinen Gang. Traurigkeit und Müdigkeit drohen mich fast zu überwältigen, und ich fühle nichts mehr von der Kraft, die ich für die mir bevorstehenden Aufgaben nötig habe. Ich glaube gut verkleidet zu sein — schwarze Augengläser, den Schnurrbart abrasiert, einen schwarzen Fez bis auf die Augen- brauen; trotzdem fürchte ich, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
den U. Oktober 1911.
Meine Erregung und Niedergeschlagenheit dauerte die ganze Nacht an; ich vermochte nicht zu schlafen. Gegen Morgen ging ich an Deck. Ganz allein ging ich hin und her, wie ein Narr, durch die Anstrengung dieses unablässigen Wanderns allmählich ganz ermattet. Der mächtige Schiffskörper durch- schnitt ruhig und sicher das Mittelländische Meer. Aus den Reden um mich entnahm ich, daß in der Ferne italienische Kreuzer in Sicht seien. Ich befand mich in einem Zustand, in dem man nichts mehr bemerkt.
Vor Alexandrien, den 15. Oktober 1911.
Gestern mittag haben wir im Hafen von Alexandrien ge- ankert, liegen aber vor dem Dock in Quarantäne und warten. Nachrichten aus Tripolis zufolge haben die Italiener Truppen gelandet, die sich an der Küste eingraben. Nur der Küstensaum ist in ihren Händen. Unsere Truppen haben außerhalb der Reichweite der Schiffsgeschütze Stellung genommen. Die zwei
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Bataillone, die sich in der Nähe von Benghasi befinden, bleiben dort. Von Ägypten trennt diese Gegenden eine unendliche Ent- fernung, Benghasi ungefähr 600, Tripolis gar 1000 Kilometer! Aber auf Eilkamelen (den Hedschins) kann man täglich minde- stens 100 Kilometer zurücklegen. Nach den mir zugegangenen Nachrichten ist die Stimmung der Truppen und der Bevölke- rung durchaus nicht schlecht. Die Ausstattung ist nicht zu dürftig, doch beginnt das Fehlen von Proviant sich fühlbar zu machen. Dafür also muß vor allem gesorgt werden. In Ägypten hat uns bereits ein einziger reicher Bürger 6000 Pfund gegeben. . . .
Auf dem Schiff las ich den „Faust". Es sind schöne Ideen darin, die ich mir aber, so wahr sie sein mögen, nicht zu eigen machen kann.
den 15. Oktober 1911.
In zwei Tagen will ich Ägypten verlassen. Ich werde versuchen, eine regelmäßige Postverbindung einzurichten, — Jetzt sehne ich mich förmlich nach dem Rauch der Gewehre und dem Donner der Kanonen, um bei der Heimkehr an Tripolis denken zu können, ohne erröten zu müssen.
Es ist heiß, aber für diesen Landstrich prächtiges Wetter. Der Hafen mit all seinen Anlagen hat großen Eindruck auf mich gemacht. Ich mußte an die Bombardierung der Stadt vor 50 Jahren durch die Engländer denken; die Verhältnisse lagen ähnlich wie heute in Tripolis. Nur besteht ein Unter- schied zwischen den Türken von damals und denen von heute!
Auf dem Kai erwartete mich Arif Pascha. Es verging noch eine unangenehme halbe Stunde, bevor Paß- und Gepäck- revision erledigt waren, bei der ich nur eine gewisse Karte vor- zeigte. Und jetzt bin ich Doktor h. c, ich weiß nicht welcher
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Akademie. Erst im Hotel habe ich mich unserem Begleiter zu erkennen gegeben. Das Erstaunen! Er hielt mich ebenfalls für einen ägyptischen Doktor der Rechte oder der Medizin. Und dann begannen die Auseinandersetzungen. Arif Pascha erzählte, daß man in Ägypten in kurzer Zeit 15 000 türkische Pfund für unsere Sache zusammengebracht habe, und daß niemand aus seinen Sympathien für uns ein Hehl mache. 4000 Mann ägyptischer Kavallerie ständen bereit, nur wisse er nicht, wie man sie auf dem Wege und nach ihrer Ankunft dort beköstigen solle. Ich entnahm seinen Erzählungen freilich auch, daß auf alle diese Leute kein Verlaß sei. Aber das, was ich hörte, konnte mich von meinen Ideen nicht abbringen. Ich ge- denke, so schnell wie möglich zu unseren Truppen abzureisen. Da man, wie es heißt, täglich 50 Kilometer zurücklegen kann — etwa in diesen Abständen ist jedesmal ein Brunnen — hoffe ich, die ganze Strecke auf Eilkamelen in 11 Tagen zu be- wältigen. Die Truppen haben nur noch für 30 Tage Lebens- mittel; ich hoffe aber, der kritischen Lage durch einen neuen Plan Herr zu werden.
Heute abend galt es, sich zur Ruhe zu zwingen. Ich hatte mit einem Beamten des alten Regimes zu tun, der sich wie ein Aal wand, um seine klägliche und passive Haltung zu beschö- nigen. Nur um die Verhältnisse hier nicht zu komplizieren und keine Zeit zu verlieren, habe ich, obwohl ich schäumte, an mich gehalten. Ich werde jedoch einen meiner Kameraden als meinen Vertreter hier lassen müssen.
Die Engländer wissen aus der augenblicklichen Sachlage Nutzen zu ziehen. Sie lassen durch, was wir wollen: Gewehre und Material — wohlverstanden inoffiziell, um unsere Sympa- thien zu gewinnen.
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den 21. Oktober 1911.
Morgen endlich werde ich so weit sein, daß ich abreisen kann. Ich werde in einem recht malerischen Anzug einher- gehen müssen: ein langes blaues Untergewand, darüber ein weißer Burnus, auf dem Kopf ein weißer Kefije mit gold- gestickter Litze. Das ist die Ausrüstung des neuen arabischen Scheichs, den die fanatischen Marabuts und die Scheichs der Senussi hoffentlich ungehindert passieren lassen werden.
Alexandrien, den 22. Oktober 1911.
Wieder habe ich den Namen gewechselt, Ich hause jetzt in einem schmutzigen kleinen Zimmer, wo eine erstickende Luft herrscht. Ein Kerzenstumpf erhellt schwach das klägliche Gemach. Verzweiflung überfällt mich abermals und erdrückt mich fast.
Eben bin ich ein wenig auf dem Platz Mehmed Ali spazieren- gegangen, aber die Helligkeit verwirrte mich. Die Polizisten schienen zu argwöhnen, daß ich nicht der harmlose Kaufmann aus Syrien sei, für den ich mich jetzt ausgebe. Auf dem Boule- vard sah ich eine Menge Menschen vor der Pforte eines alten Gebäudes. Ich schloß mich ihnen an und befand mich alsbald in einem der Cafes chantants, vor denen ich schon in Europa ein Grauen hatte. Eine magere Engländerin, verblüht und reizlos, begann mit erloschener Stimme ein Lied- chen zu singen und agierte ausdruckslos mit den Armen. Die Grimassen, mit denen sie die Zuhörer beglückte, ließen sie noch jämmerlicher aussehen. Schließlich war ich gerührt: Arme Kreatur! Sie muß sich weitab vom Vaterlande durchschlagen!
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Dann folgten andere Sängerinnen, eine schrecklicher als die andere. Ich wollte mich zerstreuen und wurde statt dessen immer trauriger. Schließlich hielt ich mich an meine Umgebung: das wahre arabische Rassenmuseum! Die Marokkaner mit ihren kalkweißen Burnussen, ihrem stolzen Gesichtsschnitt, dem geschorenen Kopf, ganz kurz geschnitte- nem Schnurrbart und einem kurzen, runden, schwarzen Kinn- bart zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Dazwischen saßen Beduinen, die unter den Wogen ihrer weißen Stoffe fast verschwanden. Ein arabischer Scheich verfolgte ernst die Vor- gänge auf der Bühne. Aber mein Geist war nicht frei genug, um sich für all dies zu interessieren, und ich ging bald heim in mein schmutziges, kleines Zimmer; mir war, als läge das Leben der anderen weit entfernt von dem meinen. Ich kann der Traurigkeit nicht Herr werden. Die Gefahren, die meinem Vaterlande drohen, liegen wie ein Alpdruck auf mir. Wo finde ich Trost und Stütze? —
Unterwegs, Sonntag, den 24. Oktober 1911.
Durch das Sandmeer rollt unser kleiner Zug langsam vor- wärts. Himmel, was für ein Zug! Ich fühle jedes Glied meines Körpers. Eben habe ich gefrühstückt: rohe Datteln, das war alles. An diese Nahrung wird man sich jetzt gewöhnen müssen.
Um nicht erkannt zu werden, reise ich dritter Klasse; um mich herum Beduinen in weißen Burnussen. Eine arabische Frau mit zwei kleinen Kindern, ein Deutscher und ein Fran- zose, das sind meine Reisegefährten. — Der Wüstenwind über- zieht uns mit feinem Sandstaub, der eindringt, obgleich alle Fenster geschlossen sind. Gesichter und Haare sind damit be- deckt, und — das Unangenehmste! — er füllt den Mund, so daß man ihn schlucken muß.
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Unterwegs mußte ich noch einmal umsteigen, warum, ist kaum nötig zu sagen, und ich setzte die Fahrt in einem Güter- wagen fort. Das war ein schrecklicher Aufenthalt; es stank derart, daß ich kaum atmen konnte. Ein neben mir sitzendes arabisches Weib begann ein Gespräch mit mir; ich verstand sie glücklicherweise nicht. Ihr schwarzes Gesicht war mit blauen Flecken bemalt; gerötete Lider, schwarz umrändert, vollende- ten diese Schönheit.
Der Güterwagen bildete in der Nacht unsere Kaserne; er hielt mitten in der Wüste, 5 Kilometer westlich von Dhabba, am Ende der Eisenbahnlinie. Morgen ist unsere Karawane marschbereit. Fünf arabische Pferde für mich und meine Kameraden sind an den Waggon gebunden, dazu zwei Pferde für unser Gepäck, das ist fürs erste mein „Korps". Ganz in meiner Nähe bearbeitet mein Adjutant den ersten Befehl, den ich ihm diktiert habe.
Die Nachrichten aus Benghasi sind gut! Eine Reihe von Gefechten hat bereits stattgefunden; die Araber haben ver- schiedentlich Partei für uns ergriffen. Auch der Groß-Scheich der Senussi, dessen Einfluß sich auf ganz Innerafrika er- streckt, scheint auf unserer Seite zu sein.
Wir trinken Tee im Schatten eines Hauses, das dem Scheich der Ulad Ali gehört.
Seit 10 Uhr morgens marschierten wir bei glühender Sonne am Meer entlang. Nur von Zeit zu Zeit läßt uns eine kleine Brise etwas aufatmen. Seit 24 Stunden gehen wir nüchtern. Gestern sind wir 14 Stunden geritten.
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Defne-Sawije.
Es geht vorwärts, und ich bin froh. In Solum habe ich zum ersten Male die Italiener gesehen. Gestern haben sie 60 Schüsse abgefeuert und hoffentlich einen Stein im Gebäude der Banca di Roma gelockert!
Die Stimmung der Araber hebt sich von Tag zu Tag. Die unerwartete Ankunft eines Verwandten des Kalifen hat auf sie großen Eindruck gemacht, und was die Truppen anbelangt, so sehe und fühle ich, daß meine Person etwas für sie bedeutet.
Die Bevölkerung bedarf kaum der Ermutigung. Vor einigen Tagen griffen 120 Soldaten und einige arabische Milizen Derna an — , sie haben dabei allerdings 24 Tote eingebüßt. Das ist aber immerhin noch ein billiger Preis für den Gewinn von 18 italienischen Kanonen und vielen gefangenen italienischen Soldaten.
den 28. Oktober 1911.
Seit wir Matruch verließen, sind wir keinem bewohnten Ort mehr begegnet. Hier und dort zeigt die dürre Hochebene, die nur etwa 30 Meter über dem Meeresspiegel liegt, braune Flecke; das sind die elenden Zelte arabischer Nomaden. Kleine Hügel begrenzen zur Linken, vor uns und hinter uns den Horizont. Zur Rechten erstreckt sich das unendliche Blau des Meeres.
Wir marschieren immer westwärts. Nachts zittern wir vor Kälte. Vor Sonnenaufgang schon brechen wir auf, Tag für Tag. Kamele ziehen mit ihren majestätischen Bewegungen an uns vorbei — sie tragen unser Gepäck — und braune Araber, bedeckt mit ihrem weißen Ehram, jagen wirbelnd wie Schneeflocken um ihre Karawane. Da wir auf Pferden reiten, sind wir den Kamelen immer etwas voraus. Wenn die Sonne
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steigt, wird es sengend heiß; mittags hängt es wie Feuer über unseren Köpfen. Wir steigen dann gewöhnlich ab und machen eine Frühstückspause. Nur an einem Tage hat es bisher ge- regnet, und das hat uns sehr aufgehalten, da die Kamele nicht vorwärts kommen konnten. Heute abend hoffen wir die tür- kische Grenze zu passieren. Die letzte Poststation ist bereits erreicht.
Sawije Murassa, den 7. November 1911. 15 km westlich von Tobruk.
Gestern habe ich 60 km auf einem Hedschin zurückgelegt, in zehnstündigem, ermüdendem Trab. Wir schliefen nachts im Zelt einer arabischen Familie, das dicht an einer Schlucht am Meere aufgestellt war. Diese Art zu leben ist trotz allem schön. Durch die Zeltdecke sahen wir den Mond, der friedlich am klaren Himmel seine Bahn zog.
Wir sind unserer vier; draußen liegen die Kamele; man hört sie zuweilen kauen und wiederkäuen.
Während des einfachen Abendessens hatten sich die Be- wohner der beiden Zelte um das Feuer gelagert; Großvater, Großmutter und ihre Tochter vom Nachbarzelt mit fünf klei- nen Kindern.
Bei Sonnenuntergang ging der alte Mann hinaus, um sein Gebet zu verrichten. Da er das vorgeschriebene Wasser zur üblichen Waschung nicht hatte, steckte er die Hände in den reinen Sand, schlug sie gegeneinander, um den Sand abzu- schütteln und fuhr dann damit über sein Gesicht, um rein \or Gott zu erscheinen. Man sieht seine Silhouette, die sich scharf gegen den klaren Abendhimmel abzeichnet, wie er sich verneigt, sich niederwirft und sich wieder erhebt. Er ver- richtet sein Gebet mit der ganzen Inbrunst seines Herzens,
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und die Harmonie, die aus dem starken und reinen Leben die- ser einfachen Menschen spricht, teilt sich unwillkürlich auch mir mit.
Um mich herum sitzt die Familie. Die Kinder teilen sich freudig ein Stück „Helwa", das ich ihnen gebe.
Um alles zu bieten, was sie besitzen, wollen sie sogar die kleine Ziege schlachten, die eigens von der Herde zurück- behalten war. Die Gastfreundschaft ist ihnen heilig. Endlich überrede ich sie, uns nur etwas Gerstenbrot zu geben, das man auf glühenden Steinen der Feuerstelle bäckt. Es schmeckt zwar nicht sehr gut, aber man kann es essen. Biskuits allein verderben den Magen und die Zähne. Nachher im Zelt, im wahren Sinne des Wortes zermalmt durch die Anstrengung des holperigen Trabs auf den Kamelen, überfällt einen ein traumloser Schlaf.
Gestern habe ich auf Tobruk eine Erkundung unternommen; die Italiener haben dort nur 2 Bataillone als Garnison. Vor fünf Tagen unternahmen 300 italienische Soldaten einen Aus- fall, um die türkischen Telegraphenleitungen zu unterbrechen. Eine kleine Schar Araber stellte sich ihnen entgegen und trieb sie in die Flucht. Sie vermochten im Kugelregen kaum ihre Toten und Verwundeten fortzuschaffen.
Defne, im November 1911.
Gestern abend bin ich von einem Nachtmarsch von dreizehn Stunden hierher zurückgekehrt. Die Stammeshäupter haben einen Eid geleistet, daß sie den Krieg gegen die Italiener bis zum äußersten fortsetzen werden. Für ein Jahr etwa ist die Verpflegung gesichert, Munition ist im Überfluß vorhanden, und Gelegenheit, „Ruhm" zu erwerben, gibt es genug.
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Sawije-Ümürsum, den 16. November 1911. 10 km nordw. von Bcmba.
Im Zimmer bereitet sich alles für die Nachtruhe vor. Betten gibt es nicht. Die Teppiche auf dem Fußboden bilden das Lager; Fuß gegen Fuß liegen der Gouverneur von Derna, der Gendarmerieoffizier usw. Ich selbst sitze auf dem Ehrensofa und notiere mir die Ereignisse des Tages.
Von Solum bis hierher ging alles gut. Am Tage, als vor Derna alle Scheichs der Umgebung uns den Treueid geleistet hatten, traf zufällig von Ägypten ein vom Yemen-Feldzug her rühm- lichst bekannter Brigadegeneral, ein geborener Araber, hier ein; ich habe ihn zum Kommandanten und Gouverneur von Tobruk ernannt. Seine Streitkräfte bestehen aus 1500 Infan- teristen und drei 15 km südlich von Tobruk lagernden arabi- schen Stämmen. Drei weitere Stämme können im Bedarfs- falle in zwei Tagen herangezogen werden, so daß wir auf eine Gesamtsumme von etwa 10 000 irregulären Streitern kommen. Erstaunlich, daß ich so einfach Gouverneure ernennen kann! Aber es ist eben der Schwiegersohn des Sultans und der Ab- gesandte des Kalifen, der Befehle erteilt und Beförderungen vornimmt. Mein Verwandtschaftsverhältnis zum Kaiserhause kommt mir hier ungeheuer zustatten. Die Araber kennen keinen Enver Bey, den sogenannten „Freiheitshelden", oder gar einen Generalstabsmajor Enver Bey; sie respektieren den Schwiegersohn des Kalifen, der den Großherrn hier vertritt.
Enver Pascha — die Araber haben mich zum Pascha er- nannt, weil sie nicht verstehen können, wie der Schwiegersohn des Sultans ein einfacher Bey sein könne — sieht schon ganz aus wie ein Araber. Das Gesicht ist tiefbraun von der Sonne gebrannt, ein schwarzer Vollbart umrahmt das Kinn. Ich stecke in einer gewöhnlichen Khakiuniform. Nur ein kostbarer Säbel unterscheidet mich von meiner Umgebung. Rührend ist
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die Anhänglichkeit der Araber gegen mich. Als ich heute zu den Marabuts ging, drängten sie sich heran, um meine Hände zu küssen. Gebe Gott, daß ich etwas zur Verteidigung dieser armen, reinen und treuen Menschen tun kann.
Sawije Martuba, den 19. November 1911.
Gestern bin ich ganz nahe bei Derna gewesen. Die feind- lichen Schanzgräben lagen zu meinen Füßen, und draußen vor der Stadt schaukelte ein Panzerkreuzer. — Die Araber sind selig, wenn sie mich erblicken. Anfänglich hatten sie eine Heiden- angst vor den Granaten der Panzerkreuzer. Aber seit sie be- merkt haben, daß viele Tausende der abgegebenen Schüsse bisher weder Schaden noch Verwundungen verursacht haben, verachten die Araber sie.
Die Italiener sind bereits aus ihren vorgeschobenen Stellun- gen zurückgetrieben. Neue Ausfälle versuchen sie nicht; sie fürchten sich vor den arabischen Banden, die, 10 bis 100 Strei- ter stark, seit 10 Tagen, vornehmlich in der Nacht, sie um- schwärmen und erfolgreich angreifen.
Sawije-Maghara, den 23. November 1911. 20 km westlich von Derna.
Die Scheichs der Marabuts und die umliegenden Stämme halten eine wichtige Besprechung miteinander ab. Ich benutze diesen Augenblick der Ruhe für ein paar Notizen.
Gestern habe ich 70 km in 9 Stunden auf meinem Hedschin zurückgelegt. Um Mitternacht kam ich in der Sawije-Bischara an. Zwei Scheichs begleiteten mich. Die Gegend, die ich passierte, gilt als gefährlich, weil die dort wohnenden Stämme
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im Verdacht stehen, zu den Italienern freundschaftliche Be- ziehungen zu pflegen.
Der Gedanke an Gefahr machte mir Freude. Ich griff nach meinem Revolver, wenn ich weiße Silhouetten sah, Araber mit schußbereiten Gewehren, die unseren Gruß kalt und miß- trauisch erwiderten. Sobald sie aber erfuhren, wer ich sei, legten sie die Waffen hin und stürzten sich förmlich auf mich, meine Hände zu küssen. Einige liefen neben meinem Kamel her und erzählten mir, sie hätten schon mit den Italienern ge- kämpft; diese seien schlapp und feige.
Gestern abend Besichtigung einer Abteilung von 120 Soldaten und ebenso vielen arabischen Freiwilligen. Ich bin dabei, eine Truppe auszubilden, ohne eigentlich über die arabischen Fonds verfügen zu können. Die Knappheit der Mittel er- schwert jeden Organisations versuch. Gestern hatte ich in der Heereskasse genau 7 Pfund, und ein ägyptischer Scheich mußte mir 20 Pfund borgen. Aber diese Schwierigkeiten spornen mich an und sollen meine Arbeit nicht hindern.
Die Landschaft ist herrlich. Könnte ich sie beschreiben! Kahle Hochflächen, mit Geröll und grauen Felsquadern be- deckt, wechseln ab mit den Macchien, immergrünen Oasen duftender Büsche, aus denen Lebensbäume sich stolz empor- recken. Tief zerklüftete Schluchten und Talfurchen tun sich jäh auf. Auf ihrem Grunde glitzern im Strahl der Sonne kristallklare Quellen. Ihr Lauf scheint oft nur kurz; sie fließen unterirdisch weiter.
Zwischen den grauen Felsen verstreut liegen die Zelte der Araber. Oft sieht man sie gar nicht. Wenn wir vorbeireiten, eilen die Frauen heraus, um uns mit Freudengeschrei zu be- grüßen.
Ich wünschte, ich könnte die Stimmung dieses Abends mit Kamera und Grammophon festhalten und meinen Freunden senden.
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Bir-el-Habel, den 25. November 1911.
Gestern nachmittag ein Scharmützel. Die Italiener haben mit einer Feldbatterie und einem Maschinengewehrzug einen Ausfall gemacht. Der Kampf war kurz und endete mit dem Rückzug der Italiener, die eine ganze Anzahl Toter, darunter zwei Offiziere, zurückließen, während die Araber mit ihren alten Gewehren nur leichte Verluste hatten.
Von allen Stämmen strömen jetzt Freiwillige zu mir. Und was für Prachtkerle das sind! Hochgewachsen, schlank und sehnig, ganz in ihre Toga flutenden weißen Stoffes gehüllt, aus dem das gebräunte, edelgeschnittene Gesicht, zwei blit- zende Augen, Zähne von blendendem Weiß, herausleuchten. Jede ihrer Bewegungen atmet eine unnachahmliche natür- liche Würde. Die Ergebenheit solcher Rassenmenschen be- rührt doppelt wohltuend.
Bir-el-Habel, den 28. November 1911.
Gestern machte ich einen Erkundungsritt unweit der ita- lienischen Stellungen bei Derna. Ich kam an der Kampf- stätte von vorgestern vorbei. Ueberall lagen noch Leichen. Neben dem ganz zerrissenen Leichnam eines schwarzbärtigen Feldwebels lag ein junger Italiener, fast noch ein Kind, den Kopf von einer Kugel durchbohrt. Nicht weit davon ein ganzer Haufen, ein Körper an den andern gedrückt.
Warum hat man diese armen Menschen in das Gemetzel getrieben? Um die Kassen der Banca di Roma zu füllen. Um einige Millionen mehr in den Kassen der Bankiers aufzu- häufen, schickt man die Kinder des Landes in den Tod, über- fällt ein anderes Volk, tritt das Glück vieler Unschuldiger mit Füßen, und das alles im Namen der Menschlichkeit und der
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nationalen Ehre! Wir dagegen dürfen wohl in diesem Zeichen kämpfen, denn wir verteidigen uns, müssen uns verteidigen.
Ein Araber hat mir eine kleine Sammlung von Heftchen, Brieftaschen, Schießbüchern usw. von gefallenen Soldaten ge- bracht. Beim Durchblättern stoße ich immer wieder auf Kar- ten voller Zärtlichkeiten und auf Liebesbriefe. Wie traurig das ist!
Heute war ich auf einen Angriff der Italiener vorbereitet. Meine „Armee" sollte man sehen! Sie gleicht eher einer Horde bewaffneter Männer, ähnlich den Soldaten der ersten Repu- blik. Aber wenigstens gebe ich für diese „Armee" so gut wie nichts aus, abgesehen von den regulären Truppen. Alle Araberstämme schicken mir Krieger. In kleinen Trupps kom- men sie an. Jeder hat ein altes Gewehr auf der Schulter, die Patronen sorgsam eingewickelt und einige Kilo Mehl mit sich. 10 Kriegern folgt gewöhnlich immer ein Kamel. Es ist mit einem Zelt beladen, das ihnen gemeinsam dient. Zwei Frauen ihres Stammes begleiten sie, um ihnen das Brot zu backen, die Kleider zu nähen und die Waffen zu reinigen. Sie folgen ihnen aber auch in den Kampf, feuern sie an, schaffen die Verwundeten weg und verbinden sie; sie stimmen die Klage- lieder für die Gefallenen an. Unter den Neuankommenden sind auch Greise mit weißen Barten und 15jährige Knaben. Ihr Alter hindert sie nicht, mit den übrigen in Todesverach- tung zu wetteifern. Ihr Schicksal — so glauben sie — ist ihnen von der Bestimmung unverrückbar vorgezeichnet; ist der Augenblick des Todes einmal bestimmt, so kann ihm nie- mand entgehen. Sie haben ein schönes und zugleich sehr ein- faches Sprichwort: „Vor dem Feinde stirbt — so Gott es will — der Mutige einmal, der Furchtsame dagegen in jedem Augen- blick hundertmal."
Ich habe eine besondere, sehr einfache Taktik für dieses „Heer". Ich lasse den Gegner möglichst nahe herankommen
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und zwinge ihn durch das Feuer der regulären Truppen zur Entwicklung aller seiner Kräfte. In einer Entfernung von etwa 100 bis 50 Schritt mache ich dann mit der blitzschnellen arabischen Menge einen Flankenstoß. — Nachts wird der Feind unablässig in seinen befestigten Stellungen belästigt.
Vorderhand muß ich nicht nur die Menschenleben sparen, sondern noch mehr die Patronen. In absehbarer Zeit wird aber Wandel eintreten. Ein Teil meiner Araber ist schon mit italienischen Gewehren ausgestattet, die man den Gefallenen abgenommen hat, und auch der Vorrat an erbeuteten Patronen für diese Gewehre wächst. Mit den modernen Gewehren wird fleißig geübt. Alle Araber, die noch keine italienischen Büchsen haben, brennen darauf, einen Feind zu töten, um sich seiner Schußwaffe zu bemächtigen.
Ain-el-Mansur, den 1. Dezember 1911.
Gestern nacht versuchte ich, Derna von zwei Seiten anzu- greifen; leider ist es mir mangels der erforderlichen Disziplin, die während eines Nachtangriffes besonders notwendig ist, nicht gelungen.
Eine Schrapnellkugel hat mich verletzt; die Sache hätte ernster ausfallen können, aber mein „Kismet" hatte es anders bestimmt.
Ain-el-Mansur, den 7. Dezember 1911.
Gestern traf die erste Sanitätskolonne ein. Gott sei Dank! Denn ich hatte nichts für meine Verwundeten und Kranken. Ich bin ganz glücklich, — die Lage bessert sich von Tag zu Tag.
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Ain-el-Mansur, den 15. Dezember 1911.
Mein Lager liegt auf einem Hochplateau, das sich hier und da zu kleinen Tälern senkt. Im Osten wird es von einer tiefen Schlucht begrenzt, deren Wände fast senkrecht abfallen; auf dem schmalen Talgrunde fließt, beschattet von immergrünen Bäumen, das Wasser der Quelle Ain-el-Mansur dem Meere zu.
Auf den steilen Hängen zu beiden Seiten des Tales sieht man hier und dort Grotteneingänge, die den Stämmen der Um- gebung als Schlupfwinkel dienen. Ein anderes Wadi, dieses aber ein wasserloses Tal, grenzt die Hochebene westlich ab.
Das Plateau liegt ungefähr 300 Meter über Derna. Hier gibt es gewaltige Felsblöcke, zwischen denen dorniges Strauchwerk wild emporschießt, und zwischen Hügelwellen tauchen Strecken auf, die noch im vorigen Jahre bestellt wurden.
In der Mitte unseres Lagerplatzes stehen die weißen Zelte unserer Soldaten, wohlgeordnet zu Reihen; die dunklen oder sandfarbigen Zelte der Araber sind regellos in der Umgebung verstreut, oft sehr geschickt zwischen Fels und Busch ver- borgen. Weiter zurück, hinter einem Hügel, sind die Zelte des Roten Halbmondes aufgestellt.
Seit vier Tagen habe ich ein eigenes Zelt, das eigentlich aus zwei ägyptischen Zelten besteht und mir wie ein Palast vorkommt. Das eine dient mir als Schlafzimmer, das andere ist Empfangsraum. Zwei auf der Erde liegende Decken und das Fell eines weißen Hammels bilden die Sitz- gelegenheit, die Möbel des „Salons". Das Schlafzimmer ist erheblich eleganter: ein tragbares Bett, ein kleiner türkischer Lederkoffer, eine Steinplatte, die als Waschtisch dient, das ist die ganze Ausstattung.
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Ain-el-Mansur, den 18. Dezember 1911.
Vorgestern gab es ein ernstes Gefecht. Die Italiener drangen mit mehreren Bataillonen unter dem Feuer von Maschinen- gewehren und vier Gebirgsgeschützen vor und kamen bis auf etwa 100 Meter heran. Neun Stunden wogte der Kampf hin und her. Immer wieder setzten die Italiener bereitgehaltene Reserven ein. Endlich wich der Feind, und sein Weichen wurde bald zur wilden Flucht.
Dieser Erfolg erfüllt uns mit Genugtuung. Wir haben einen Feind geschlagen, der uns zahlenmäßig stark überlegen war, wir mit unseren überall zusammengelesenen alten Gewehren haben gesiegt gegen Waffen der neuesten Modelle, gegen Ge- birgsgeschütze und Maschinengewehre!
Unter den Verwundeten ist auch eine arabische Heldin. Ihre Brust wurde von einer Schrapnellkugel getroffen. Aber sie wollte nicht im Hospital bleiben. Sie ist wieder hinausgegan- gen, um die Krieger anzufeuern.
Ain-el-Mansur, den 24. Dezember 1911.
Das Lager ist von einem wolkenbruchartigen Regen völlig überschwemmt, der nun schon acht Stunden andauert. Die ganze Nacht hindurch hörte ich das Klatschen der Tropfen, die an die Wand meines Zeltes schlugen, das Heulen des Stur- mes, der den Regen begleitete und das Geschrei der Araber, die ihre umgefallenen Zelte wieder aufzustellen versuchten. —
Die allgemeine Lage hat sich seit meiner Ankunft erheblich gebessert. Auf meine Streitkräfte in Benghasi, die ich dem Generalstabsmajor Asis Bey unterstellt habe, glaube ich mich verlassen zu können; vor Derna führt Major Abd-el-Kader; beide kommen vom Yemen und sind zuverlässig. Ich habe
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jetzt auch das nötige Geld. Die Regierung hat mir monatlich 25 000 Ltq. ausgesetzt, die mir einstweilen völlig genügen. Die Zahl der vor Tobruk, Derna und Benghasi versammelten Ara- ber beträgt bereits mehr als 16 000 Mann. Bei meiner Ankunft waren es kaum 900. Binnen kurzem werde ich eine Telegraphenlinie von Solum bis Tripolis haben. Ich bin im Begriff, Wege anzulegen und hoffe, im Laufe von zwei Mo- naten die schwerfälligen Lastkamelzüge durch Automobil- transporte zur Heranschaffung von Proviant und Munition ersetzen zu können. Motorräder sind schon unterwegs. Die ganze Bevölkerung muß bewaffnet werden.
Vor kurzem ist die erste Waffen- und Munitionssendung eingetroffen: 1000 „Mauser" letzten Modells mit 500 Patronen pro Kopf, eine vollständige Maschinengewehrabteilung zu vier Gewehren, zwei Gebirgsgeschütze, Handgranaten und noch manches andere. Das Beste freilich sind meine Araber, die sich ganz prachtvoll bewähren.
Um den Krieg auf Jahre hinaus fortsetzen zu können, bilde ich jetzt die tüchtigsten der jüngeren Araber zu Unterführern aus, die während der Kampfhandlung meine Befehle an den verschiedensten Punkten auszuführen haben, und zwar mit der Initiative des „ausgebildeten Soldaten".
Ain-el-Mansur, den 9. Januar 1912.
Trotz aller Schwierigkeiten, die unvorhergesehen überall auftauchen, regeln sich die Verhältnisse allmählich. Die Or- ganisation fängt an zu klappen. Kolonnen von im ganzen 1 0 000 Kamelen sorgen jetzt für die Verproviantierung der Truppen. Die arabische Miliz verköstigt sich selbst. Ich zahle ihnen 2 Pst. pro Tag und Kopf, wovon sie ihren ganzen Unter- halt bestreiten.
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Scheich vom Kampfe heimkehrend
Jeder Stamm wird jetzt von Offizieren geführt. Binnen kurzem hoffe ich, von auserlesenen Leuten eine Elitekompag- nie bilden zu können, womit der Grundstock zu einer regu- lären arabischen Truppe gelegt sein wird.
In einem arabischen Zelt, unweit den Zelten meines Stabes, ist unter italienischem Kanonendonner ein Kind geboren worden. Jeden Morgen weckt es mich mit seinen kleinen Schreien. Sie lassen mich an die neue Generation denken, die ich in Freiheit aufwachsen sehen möchte. Seine Mutter hat es Enver Mansur genannt, d. h. Enver der Siegreiche. — Gott gebe es!
Ich bin von unserm vollen Erfolg überzeugt, mag der Krieg sich auch noch lange hinausziehen. Die italienischen Soldaten sind feige und kampfunlustig, aber ich bewundere ihre Offi- ziere, die sich aufopfern. Im letzten Gefecht ist allgemein die Unentschlossenheit des Feindes aufgefallen. Von einer ein- heitlichen Führung war nicht die Rede. Die Reserven wurden hin- und hergezogen, an falscher Stelle oder überhaupt nicht eingesetzt, und schließlich haben wir den Feind in seine eige- nen Drahthindernisse zurückgeworfen. Er ließ 2 Maschinen- gewehre, 600 000 Patronen, 250 Gewehre, 2 Gebirgsgeschütze, 25 Kisten Granaten und 10 Maultiere in unseren Händen, die ich ausgezeichnet für die Bespannung meiner Maschinen- gewehre gebrauchen kann.
Ain-el-Mansur, den 13. Januar 1912.
Fröhlichkeit, ja Ausgelassenheit, herrschen heute abend im Lager. Überall werden die eintönigen arabischen Gesänge ge- sungen; mit den Händen klatscht man den Takt dazu. Ein Beduinendichter preist die arabische Tapferkeit und macht die Feigheit der Italiener verächtlich, denen man niemals vater-
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ländischen Boden abtreten wird. Junge Mädchen rühmen in ihren Gesängen die Heldentaten eines auf dem Felde der Ehre Gefallenen. Die Begeisterung wird immer größer, und man macht sich durch Gewehrschüsse Luft, die in die Gesänge hineinplatzen.
Ich sitze und rechne inmitten all dieses Lärms. In drei Monaten habe ich für meine Truppe, die über 20 000 Kämpfer zählt, sowie für die Beamten der Zivilverwaltung nur 15 000 türkische Pfund ausgegeben. Die Italiener bezahlen für die Kohlen ihrer Flotte wöchentlich allein 20 000 Pfund. In Friedenszeiten wandte unsere Regierung viel mehr als das al- lein für die Zivilbeamten und für den Sicherheitsdienst des Landes auf.
Ain-el-Mansur, den 27. Januar 1912.
Ich bin jetzt so weit, daß ich Freunde hier empfangen und für ihre Sicherheit in jeder Hinsicht bürgen kann. Die Ma- schinerie meiner Zivilregierung funktioniert täglich besser, und die Araber rufen in jedem Streitfall die Behörden an, was bisher nicht vorkam! Die Regierung, das bin ich, ist in ihrer Stel- lung so gefestigt, daß sie Todesurteile erlassen kann, ohne ein Murren befürchten zu müssen. Ich darf sagen, daß wir, meine Kameraden und ich, uns diese Autorität durch Gerech- tigkeit gegenüber den Menschen und Aufgehen in der Sache redlich erworben haben.
Um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken und ihr die Verbindung mit dem Meer zu ersetzen, haben wir Märkte ins Leben gerufen und auch das erforderliche Geld dazu aufge- bracht. Dafür, daß die Ausfuhr von Rohstoffen nicht einschläft, sorgen besonders eingestellte Agenten, die mit ausreichendem Kapital versehen worden sind, damit sie die Preise auf einer be- stimmten Höhe halten können. Ich habe nun auch Papiergeld
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drucken lassen, um dem Mangel an Kleingeld abzuhelfen. Auf dem Schein, der den Wert in arabischer und türkischer Sprache trägt, ist sonst nichts als mein Siegel. Ich bin stolz darauf, daß die Araber dieses Papiergeld dem Gold und Silber gleichachten.
Wir haben zwei alte Römerstraßen entdeckt. Sie führen von der ägyptischen Grenze über Tripolis bis zur tunesischen Grenze, verlaufen, jede etwa 20 Meter breit, parallel zur Küste und könnten mit Automobilen befahren werden. Die erste liegt etwa 50 km vom Meer, die andere führt weiter landeinwärts über Siwe-Dscharabub-Dschalo und kommt von Minjeh an den Ufern des Nil. Alle 25 km ist ein Brunnen; auch antike stei- nerne Säulenstümpfe sind vereinzelt erhalten, die nachts, wenn es klar ist, sichtbar sind. Ich plane eine Verbindung des Hauptquartiers und einiger wichtiger strategischer Punkte mit diesen alten Straßen.
Die erste „Gardekompagnie", 100 arabische Freiwillige, Söhne oder Verwandte einflußreicher Scheichs, ist nun ge- bildet. Sie ist mit kleinkalibrigen Mausergewehren bewaffnet und steht unter dem Befehl junger türkischer Offiziere.
3000 Berassa-Krieger sind kürzlich hier angekommen. 500 davon waren beritten. Unsere Truppen bereiteten ihnen einen prächtigen Empfang. Es war eine eindrucksvolle Szene. Vor den Kriegern schritten arabische Frauen einher und sangen; die Frauen der Scheichs sowie die schönsten Mädchen der verschiedenen Stämme folgten auf Kamelen. Dann sprengten die Reiterscharen in feurigem Galopp heran; ein Scheich nach dem anderen kam, um meine Hände zu küssen.
Ain-el-Mansur, den 31. Januar 1912.
Heute habe ich einen sehr freundlichen Brief des Groß- scheichs der Senussi erhalten, der in Kufra, mitten in der
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Sahara, seinen Sitz hat. Er sagte mir sehr viel Schmeichel- haftes und ruft alle Gläubigen zum Kriege gegen die Italiener auf. Ja, er wollte selbst kommen, um an unserer Seite zu kämpfen. Als die Araber im Lager von diesem Brief hörten — die dem Großscheich treu ergebenen Mohammedaner Nord- und Zentralafrikas sind zum größten Teil Senussi und dürf- ten etwa 20 Millionen Seelen zählen — gaben sie Freuden- schüsse ab.
Mit meiner Antwort an den Großscheich sende ich ihm fol- gende Geschenke: 2 Kamele mit Seidenstoffen und 4 mit weißen Leinenstoffen beladen, 40 Kilo Tee, 200 Kilo Zucker, 20 Kamelladungen Reis, 30 Kamelladungen Getreide und ein prächtiges Maultier mit Gewehren und Munition.
Heute gegen Abend gab es einen Patrouillenzusammenstoß, der, so unbedeutend er war, die Batterien der italienischen Forts veranlaßte, in das Scharmützel einzugreifen. Ich be- nutzte die Gelegenheit, eine Probe auf die Schlagfertigkeit meiner Truppen zu machen. Das Alarmzeichen war schon vorher von einem Offizier gegeben worden, und siehe da, in kaum 20 Minuten defilierten alle Stämme wohlgeordnet an mir vorbei. Die neue kleine Garde unter ihrem jungen Kom- mandanten bereitete mir durch ihre Ordnung und Disziplin eine ganz besondere Freude. Hoffentlich kann ich sie bald auf die Stärke eines Regiments bringen. Die Anfänge sind viel- versprechend: so hat auch das Scheibenschießen gestern aus- gezeichnete Resultate ergeben. Auf 300 Meter gab es immer vier Treffer auf 5 Schüsse. Freilich, auf die Eigenart dieser Naturkinder muß man eingehen, und das wird einem zu- weilen nicht leicht. Neulich wollte ein junger Araber durch- aus in mein Zelt kommen, um mich persönlich zu sprechen. Er wünschte von mir zu wissen, wie er seine alten Patronen für die neuen Mausergewehre verwenden könne. Schließlich
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erhielt er Mauserpatronen für seine alten und zog strahlend von dannen.
Als ich gestern den Roten Halbmond und eine Kolonne in- spizierte, die sich während des letzten Kampfes besonders aus- gezeichnet hatte, benutzten die Araber mein Erscheinen zu einer neuen Kundgebung. Trommelwirbel ertönte, die Frauen jubelten, Kriegslieder wurden angestimmt. Noch als ich da- vonritt, drangen ihre begeisterten Rufe hinter mir her: „Es lebe der Sultan" und „Allah verleihe unserm Sultan und un- serm Herrn Enver Pascha den Sieg!".
Ain-el-Mansur, den 19. Februar 1912.
Ein paar Einzelheiten über unser Lagerleben sind nachzu- tragen. Eine große Annehmlichkeit ist unser Überfluß an Wasser. Mitten in unserem Lager nämlich fließen zwei große Quellen, deren eine die bereits erwähnte „Ain-el-Mansur", d. h. „Quelle des Siegers" ist. Nach ihr wurde auch unser Lager getauft. Unsere Nahrung ist nicht nur ausreichend, sondern fast luxuriös zu nennen. Ich erwähne nur unser Dessert: Holländerkäse und Ananas.
Ein zweiter Punkt von Wichtigkeit: wir haben jetzt fünf Sanitätskolonnen, die alle für ein so großes Lager unentbehr- lichen Sicherheitsmaß regeln getroffen haben. Im Anfang war von einer rationellen Pflege der Verwundeten nicht die Rede. Von mir eingekauftes Leinen diente notdürftig zum Verbinden der Wunden. Jetzt verfügen wir, gottlob, über Militär- ärzte und über drei Rote Halbmondstationen aus Ägyp- ten, zwei Rote Halbmondstationen aus Konstantinopel und eine aus Saloniki zu je 200 bis 300 Betten. Die unglaublich zähe und gesunde Natur der Araber erleichtert die Arbeit der
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Enver Pascha im Zelt
Ärzte. Zwei Ruhetage nach den Kämpfen genügen, um drei- viertel der Verwundeten ihrer Heilung zuzuführen.
Unsere Macht wächst ständig, ohne daß sie uns Nennens- wertes kostete. Ich gebe für alle Truppen und die Zivilver- waltung von Benghasi monatlich 25 000 türkische Pfund aus. Binnen kurzem werden wir einen festen Fonds von 75 000 t. Pf. und Verpflegung für 2 Jahre haben.
Die Witterung allein ist unerfreulich; heute haben wir fünf Grad C. über Null, und wir zittern vor Kälte in unseren Zelten, obgleich wir in Afrika sind. Ein Teil der Offiziere ist gestern auf Urlaub nach Konstantinopel gegangen. Sie können dort die Lage rückhaltlos schildern, daß zahlenmäßig überlegene Streitkräfte, etwa 130 000 Italiener in Tripolis und Benghasi stehen, die sich dennoch scheuen, ins Innere des Landes vor- zustoßen, und daß wir diesen Feind seit vier Monaten in
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Schach halten, durch täglichen Zuwachs an Menschen und Material unsere Widerstandskraft erhöhen und nicht das ge- ringste Interesse an einem Friedensschluß haben.
Vor Derna, den 27. Februar 1912.
Ich bin wie gerädert von den Anstrengungen der letzten Tage; jede Minute ist mit Arbeit ausgefüllt, Arbeit der ver- schiedensten Art. Denn neben der Leitung der militärischen Operationen, die andauernd Befehle und schnelle Entschlüsse erheischen, liegen auch Entscheidungen über Fragen der Zivil- verwaltung, Gerichtsbarkeit und des Handels in meiner Hand. Diese Dinge sind es vor allem, die nicht wenig Mühe verur- sachen, wenngleich ich die Genugtuung habe, daß es auch da- mit allmählich vorangeht. Der Nachschub ist jetzt so gut ge- regelt, daß ich mich um Einzelheiten nicht mehr zu kümmern brauche; Vorräte sind im Ueberfluß vorhanden. Gewisse po- litische Fragen quälen und entnerven mich mehr als es ein blutiger Kampf je vermöchte; mit Mut und Festigkeit ist nichts zu erreichen, alles aber mit List. So sind meine Gedanken jetzt mehr bei der ägyptischen Grenze als bei der italienischen Front. Die Engländer bereiten mir den lebhaftesten Verdruß. In den europäischen Zeitungen steht, wie ich von deutschen Freunden höre, selten etwas von italienischen Niederlagen. Woher kommt es aber, daß bei mir alle Augenblicke durch Vermittlung der Deutschen Botschaft Fragen der italienischen Regierung einlaufen, ob dieser oder jener Graf und Offizier, Befehlshaber oder Leutnant sich vielleicht unter meinen Ge- fangenen befinde, weil sie seit diesem oder jenem Kampf ver- mißt werden?
Mein Kopf, das weiß ich, ist ihnen sehr teuer; billig sollen sie ihn auch nicht haben.
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Zudem dürften sie meinen Wert überschätzen. Die Ma- schinerie funktioniert jetzt schon von selbst. Meine Anwesen- heit ist nicht mehr unbedingt notwendig. Ich habe überall sehr fähige junge Offiziere, und die junge Garde ist mir so er- geben, daß sich niemand ohne ihr Wissen mir nähern kann. Gott wird schon weiter helfen!!
Lager vor Derna, den 5. März 1912.
Das Ergebnis des gestrigen Kampfes war, gottlob, günstiger als zuerst angenommen. Der Feind hat zwei Hauptleute und mehrere Leutnants eingebüßt — ; über hundert Gewehre, eine Anzahl Kisten mit Munition, Revolver und Ausrüstungsstücke aller Art sind erbeutet worden, so viel, daß die Araber schon nicht mehr alles auflesen, was sie auf dem Schlachtfeld finden. Der Feind sorgt zu gut für unsere Verproviantierung! Zwei Offiziere hatten sehr viel Geld in ihrer Brusttasche, das ich diesmal direkt an die Familien gesandt habe, weil ich nicht sicher bin, ob das italienische Kriegsministerium die Summen, die ihm zugehen, tatsächlich auch den Familien der Gefallenen zustellt.
Die türkische Regierung läßt mich wissen, daß die Italiener einen Waffenstillstand von 15 Tagen wünschen. Ich habe ihn meinerseits verweigert, da die Italiener Gefallen daran finden, die türkische Küste zu beschießen. — Der Telegraph verbindet uns jetzt mit Ägypten und Tunis.
Am 2. März hatten wir einen ununterbrochenen neun- stündigen Kampf um die Stellung des Feindes, der mit seinen 6 Bataillonen und 3 Batterien aus seinen vorge- schobenen Stellungen in die Hauptbefestigungslinie gedrängt wurde. Der Zufall wollte es, daß zwei junge deutsche Offi-
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ziere, die gerade gestern gemeinsam mit einem Engländer ins Lager gekommen waren, Augenzeugen der panikartigen Flucht des Feindes wurden. Anerkennenswert war das Verhalten der italienischen Offiziere; sie feuerten ihre Mannschaften an mit geschwungenen Degen — man sah sie weithin blitzen — , suchten sich den Weichenden entgegenzustemmen, wurden aber schließlich in das Chaos mitgerissen.
Der Kampf hatte sich eigentlich gegen meinen Wunsch ent- sponnen, dadurch, daß eine kleine Abteilung von uns im Morgengrauen auf 2 Kompagnien gestoßen war, die während des Geplänkels Verstärkungen erhielten und so schließlich auch uns zwangen, mit schleunigst herangezogenen Kräften in die Kampfhandlung einzugreifen. Die Italiener hatten zu- letzt alle ihre Reserven eingesetzt. Unsere Gebirgsgeschütze haben gewaltige Lücken in die feindlichen Reihen gerissen und ihre Batterien wiederholt zum Schweigen gebracht. Ganz prächtig hat sich die junge Garde geschlagen.
Ain-el-Mansur (Lager vor Derna), Donnerstag, den 1A. März 1912.
Ich habe soeben die Garde-Kompagnie antreten lassen und ihr meine Segenswünsche für morgen mitgegeben. Denn für morgen früh ist eine Überrumpelung der Italiener geplant. Strahlend und siegesgewiß sind sie mit ihrem jungen Komman- danten in ihr Biwak zurück abmarschiert.
Alle Maßnahmen für einen großen Kampf sind getroffen; im Lager herrscht fieberhafte Erregung.
Aus Tobruk treffen gute Nachrichten ein. Edhem Pascha hat 5 Bataillone und 2 Gebirgsbatterien der Italiener mit leichter Mühe zurückgeschlagen, trotzdem der Feind durch das
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Feuer einer ganzen Anzahl von Kriegsschiffen unterstützt wurde. Der Kampf hat von 10 Uhr morgens bis nach Sonnen- untergang gedauert. Nach dem Bericht eines gefangenen Sol- daten des 34. Infanterieregiments hätte sich die Stärke der ita- lienischen Streitkräfte auf 8000 Mann belaufen.
Vor Benghasi beunruhigt der junge Kommandant die Italie- ner fortgesetzt. Sein letzter Erfolg, dicht vor den vorgeschobenen feindlichen Stellungen von 300 Mann arabischer Miliz er- rungen, wurde zu einer bösen Schlappe für den Feind. Zwei italienische Bataillone sind in den Hinterhalt gelockt und völlig aufgerieben worden.
Seit einigen Tagen habe ich die zwei jungen deutschen Offi- ziere als Freiwillige in meinem Lager. Den Infanteristen habe ich als Führer zu den Maschinengewehren beordert; der andere, Kavallerist, ist mein Adjutant.
Gewisse Vervollkommnungen meines Betriebes, wie eine neuerrichtete Reparaturwerkstatt, in der Gewehre und er- beutete Maschinengewehre wieder instand gesetzt werden, machen mir rechte Freude. Da auch Hacken und Spaten und anderes Material endlich angekommen sind, so hoffe ich, daß in einigen Tagen der erste fahrbare Weg zwischen den beiden Heeresgruppen vor Derna fix und fertig sein wird. Es handelt sich um einen Weg von 5 Kilometer Länge in einem felsigen Terrain.
den 24. März 1912.
Seit zwei Tagen haben wir dem Feinde das Wasser abge- schnitten, die Quelle Ain-ed-Derna nämlich, 700 Meter jenseits ihrer Befestigungen; jetzt vermeiden sie jedes Gefecht, und die Zeit, die sie verlieren, gewinne ich.
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den 30. April 1912.
Am 27. d. M., dem Krönungstage S. M. des Sultans, habe ich hier die erste Parade abgehalten! Alle Truppen, die Offi- ziere an der Spitze, waren parademäßig aufgestellt. Es sind jetzt etwa 4 Regimenter. Die erste Linie bildeten die Garde und die regulären Truppen, dann kamen die Artillerie und die Maschinengewehre, darauf die arabische Miliz.
Ich ritt mit dem Divisionskommandeur die Front ab und nahm dann die Parade ab. Alles klappte glänzend; Freude leuchtete aus aller Augen, als man sah, daß ich zufrieden war. Dann defilierten 120 Schüler der Lagerschule von Ain-el- Mansur vorbei. Den Beschluß machte eine Kolonne von 500 arabischen Reitern, die im Galopp vorbeisprengte. Es war ein festliches Bild. Nachher wurde Karree gebildet, und ich hielt eine kurze Ansprache, in der ich die Lage erörterte und zur Fortsetzung der begonnenen Arbeit, deren Erfolge nicht über- mütig machen dürften, anspornte. Abends fanden Pferde- rennen und Wettspiele statt; Freudenfeuer wurden längs der italienischen Front angezündet.
den 8. Mai 1912.
Im Lager hatten wir einen englischen Offizier, der zum Islam übergetreten war, bevor er sich als Freiwilliger bei uns eingefunden hatte. Er war ein tapferer Bursche von einer Unerschrockenheit, wie ich sie noch nicht in meinem Leben angetroffen habe. Es war Sport für ihn, unter den Eisendrähten der Italiener durchzuschlüpfen und die feindlichen Verschan- zungen auszukundschaften oder gar aufzunehmen.
Vor einigen Tagen drang er mit einer arabischen Wache tief hinein in die italienischen Stellungen, wurde entdeckt, ange- griffen und getötet.
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Heute abend gedenke ich dieses toten Osmanli, der eigent- lich Stuart Smallwood hieß; ich sehe seine unschönen Züge, seine eckigen Bewegungen. Im ganzen Lager liebte man ihn. Aber um seinen Namen der Vergessenheit zu entreißen, habe ich an das Kriegsministerium geschrieben, daß seine Familie die goldene Imtiasmedaille erhalte. Die Mutter wird die Sche- fakatmedaille bekommen, und seinen Namen wird man in das goldene Buch des Kriegsministeriums eintragen.
den 11. Mai 1912.
Man hält mich, wie ich glaube, für einen sehr glücklichen Menschen, weil ich hier alles habe, was die Wünsche eines Mannes befriedigen müßte: Ruhm und Gehorsam, ja Vereh- rung und Unabhängigkeit! Die Araber kommen, um meine Hände zu küssen und meinen Segen zu erbitten, sie opfern sich für mich auf. Ich aber fühle mich nur als Werkzeug, das rein mechanisch, vom Instinkt der Vaterlandsliebe ge- trieben, seine schweren Obliegenheiten verrichtet.
Ich bin heute abend in einer unendlich traurigen Stimmung, für die ich weder Grund noch Ausdruck finde.
Ende Mai 1912.
Nach Zeitungsnachrichten bin ich tot! — Gestern sagte mir ein Wahrsager, der meine Hand las, daß ich über 80 Jahre alt werden soll. Meine Stimmung wird noch verbessert durch einen soeben eingetroffenen Brief des Groß -Scheichs der Senussi. Ich liebe diesen Mann, ohne ihn zu kennen: er ist mit Leib und Seele Patriot.
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Die Italiener scheinen die Hoffnung, ins Innere von Tri- polis zu gelangen, aufgegeben zu haben; jetzt werfen sie sich auf unsere Inseln.
Heute gab es einen großen Zank zwischen den beiden euro- päischen Damen, die in meinem Lager sind: einer Pflegerin und der Gattin eines fremden Journalisten. Wir haben hier eine ganze Menge Beduinenfrauen, die sich ruhig verhalten, und zwei europäische Frauen können nicht miteinander aus- kommen.
den 30. Mai 1912.
Etwas ganz Entzückendes ist um mich seit ein paar Tagen, eine junge Gazelle, die man mir gebracht hat. Sie kennt mich schon sehr gut, folgt mir überall hin und schläft nachts vor meinem Bett. Heute abend, als ich nach einer Beschießung un- serer Stellungen durch die Italiener heimkehrte, fand ich die Gazelle auf dem Teppich, mit lang ausgestrecktem Halse, den Kopf nach der Seite hängend, sehr langsam atmend, so daß es aussah, als würde sie sterben. Schnell setzte ich mich auf die Erde, nahm sie auf meine Arme und nannte sie bei ihrem Namen: „Mansureh!" Endlich drehte sie langsam den Kopf, richtete ihre Augen auf mich und zeigte die Spitze ihrer schwarzen Zunge. Ich fühlte, wie meine Augen feucht wur- den; ich bin schrecklich empfindsam geworden. Inmitten der hunderterlei großen und kleinen Dinge, an die ich zu denken habe, leide ich seelisch doch unter der Einsamkeit.
Zuweilen kommen Ueberläufer zu uns, vor allem Schwarze der italienischen Eingeborenen-Truppe, die interessante Dinge von drüben berichten. Etwa 20 Mann gehen täglich im ita- lienischen Lager an Dysenterie zugrunde; die Lazarette sind überfüllt. Die allgemeine Stimmung der Mannschaften ist ge-
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drückt. Alle sehnen sich nach dem Frieden. Konstantinopel, so wird drüben zur Aufmunterung der Soldaten verbreitet, werde jetzt von schweren italienischen Schiffsgeschützen be- schossen.
den 1. Juni 1912.
ich lese die Nekrologe über mich in allen möglichen Zei- tungen. Die „Neue Freie Presse" z. B. widmet mir Worte des Lobes, die mich beschämen.
Meiner kleinen Gazelle geht es wieder besser. Wie graziös sie ist und gelehrig! Nur die Schokolade möchte sie immer mit dem Papier darum fressen. Sie benimmt sich töricht wie ein Baby.
Soeben wird mir gemeldet, daß die Italiener bei Susa ge- landet seien. Das wäre eine treffliche Gelegenheit für uns. Sie stoßen dort auf unüberwindliche Geländeschwierigkeiten und auf erbitterten Widerstand der Beduinen.
Die Briefe, die ich erhalte, tragen auf dem Umschlag das von einem Beamten der ägyptischen Post mit großen Buch- staben geschriebene Wort „tot".
den 2. Juni 1912.
Die Landung der Italiener bei Susa ist nicht anders ver- laufen, als ich gehofft hatte. Ein Eingeborener von Derna, der den Italienern als Spion diente, wurde an Land gesetzt, um die Beduinenscheichs der Umgebung zu einer Unterredung auf das italienische Schiff zu locken, wo sie durch Wort und Tat von der italienischen Großmut überzeugt werden sollten. Wie gewöhnlich ist der Spion von den Beduinen abgefaßt und dem Mudir ausgeliefert worden. Dieser ließ nun dem
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Enver Pascha mit seiner Gazelle
Schiffe Signale geben, worauf richtig eine Anzahl Matrosen an Land gesetzt wurde. Hier nahmen die Araber sie sofort unter heftiges Feuer, und Hals über Kopf flogen sie in ihre Boote zurück. Als Erwiderung für diese freundliche Auf- nahme beschoß das Schiff den ganzen Tag über die Küste. Das war alles.
den 6. Juni 191t.
Draußen schallt es von aufmunternden Rufen der Beduinen, von dem rhythmischen „ju, ju" der Frauen, die die Männer anfeuern. Wir bauen Unterstände als Deckung gegen die 21 Zentimeter-Granaten der italienischen Marinegeschütze. Gestern nämlich wurde das Lager den ganzen Nachmittag mit schwerer Artillerie beschossen. Es geschah zum erstenmal, und ich hielt es für gut, meinen Leuten klar zu machen, daß die Wirkung der großen Geschosse von der der kleineren nicht erheblich abweiche. Auf die ersten Detonationen hin ging ich aus meinem Zelt an die Stelle, wo die Geschosse einfielen. Eines platzte ganz in meiner Nähe, und ein Splitter schlug gegen meine Hüfte. Aber ein Medaillon an meiner Uhrkette fing den Anprall auf. Eine andere schwere Granate, die mich mit Staub überschüttete, krepierte in einem Be- duinenzelt, in dem ein kleines Kind schlief. Es wurde etwa einen Meter fortgeschleudert. Sonst ist ihm nichts geschehen.
Letzten Freitag haben mich wie gewöhnlich die Scheichs der Stämme in meinem Zelt besucht. Sie erklärten, allem Folge leisten zu wollen, ausgenommen einem Friedensbefehl, es sei denn, daß die Italiener ihr Vaterland verlassen hätten. Das ist die Wirkung der Besetzung der Inseln durch die Ita- liener. An der Festigkeit unserer Entschlüsse wird eben auch durch dieses Ereignis nichts geändert, im Gegenteil! Allein
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im Lager von Derna haben die armen Beduinen 1 000 T. Pf. für Anschaffung von Aeroplanen gesammelt; ich könnte mir kein schöneres Zeichen bedingungsloser Aufopferung von Menschen denken, die man gewöhnlich als „Wilde" bezeichnet. Unsere neueste Errungenschaft ist ein „Kasino", wo wir höchst wahrscheinlich ausgezeichnet essen werden. Das ist ein Zelt von 11 Meter Länge und 7 Meter Breite, in dem man sehr behaglich sitzt. In der Nacht sieht das mächtige Zelt fast einem Luftschiff ähnlich. Wenn man die Seitenflächen öffnet, hat man einen malerischen Ausblick auf die felsigen Hügel und die schroff abfallenden Schluchten, und man glaubt sich fast auf eine Hotelterrasse irgendwo in der Schweiz ver- setzt. Die Schönheit der Landschaft hilft mir oft über melan- cholische Stimmungen hinweg, die ich schon deswegen unter- drücken muß, weil mich hier alles beobachtet und meine Mienen studiert.
den 12. Juni 1912.
Wieder bringt man mir Briefe und Karten gefallener Ita- liener, und immer wieder stoße ich auf das Wort „amore". Diese armen Burschen, die für jemanden leben, den sie lieben, opfern sich für ein Nichts. Zwar behaupten die Italiener, für die Ehre und die Interessen ihres Vaterlandes zu kämpfen, aber mit Unrecht. Wir sagen dasselbe, aber mit Recht!
Die Post versieht mich mit einer Menge Zeitungen, aber ich stehe den Ereignissen außerhalb Afrikas gleichgültig gegen- über.
Die Besetzung der Inseln vermag uns keinesfalls nervös zu machen, denn, wie ich, wußten alle sehr wohl, daß unsere Inseln einem italienischen Einfall ausgesetzt wären und daß die Garnisonen ein tragisches Ende würden erleiden müssen.
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den 11. Juni 1912.
Meine kleine Gazelle ist krank. Armes Tierchen! Sie hat den ganzen Tag gelitten. Jetzt liegt sie dicht an meinem Bett und guckt mich weich und traurig an. Trotz all der Härte, die man mir zutraut, empfinde ich die Schmerzen des Tier- chens mit und bin um so trauriger, als ich ihm nicht zu helfen vermag.
den 17. Juni 1912.
Heute haben wir unter die Zöglinge der Lagerschule Preise verteilt; es war das Viertel jahrsexamen. Über die in so kurzer Zeit gemachten Fortschritte der Kinder herrschte allgemeine Genugtuung. Mir war es eine besondere Freude, diese 150 kleinen Beduinen zu sehen, die von ihren Eltern zur Schule gebracht worden waren, denselben Eltern, die sich früher schon vor dem Anblick einer Schule fürchteten. Unter den Kleinen gab es manche, die weit über den Durchschnitt begabt waren.
In Konstantinopel hat man mich soeben zum Oberstleutnant befördert. Obgleich dieser Grad mir dem Dienstalter nach zu- kommt, will ich doch meinen Offizieren von der Beförde- rung nicht Kenntnis geben. Bis zum Ende des Krieges soll hier niemand ausgezeichnet werden, damit jeder Grund zu Eifer- süchteleien unter den Kameraden ausgeschaltet ist.
Schon wieder sprechen die Zeitungen vom Frieden und von Friedenskonferenzen, bei denen, wie ich weiß, die Mohamme- daner gewöhnlich das Nachsehen haben.
Ich bin jetzt dabei, auch Eingeborene artilleristisch auszu- bilden. Vielleicht werde ich binnen kurzem keiner Mate- rialien aus der Heimat mehr bedürfen.
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Wird ein für uns ungünstiger Frieden geschlossen, so bleibe ich noch hier und wir setzen den Kampf fort.
den 24. Juni 1912.
Gestern meldete ein Telegramm aus Homs einen schönen Sieg der Unsrigen. Die stärkste Stellung der Italiener, das Fort von Lebda, ist im Sturm genommen, fast die ganze Be- satzung getötet, zwei Kanonen zerstört und die Fahne erobert worden.
Mehr und mehr verblaßt die Erinnerung an das frühere Leben. Mir ist, als hätte ich Jahre nichts anderes gesehen als meine Araber und nirgendwo anders gelebt als in der Wüste. Dabei weckt dieses Leben voll von Entbehrungen neue und starke Gefühle. Soll ich es sagen: es gibt darin kleine Begeben- heiten, auf die ich mich freue wie ein Kind auf das Weih- nachtsfest.
Ein italienischer Unteroffizier wird mir gebracht, dem An- schein nach kein übler Bursche. Er ist geflohen, weil seine Hauptleute ihn geohrfeigt und mit Gefängnis bedroht haben und erzählt von der Demoralisation und Ermüdung unter sei- nen Kameraden. Wenn sie sich vor den Arabern nicht fürch- teten, würden sie sich, so sagt er, gern den ottomanischen Vor- posten ergeben. Man hat drüben also schon genug vom Krieg. Bei uns rechnet man damit, noch jahrelang zu kämpfen. Im Gegensatz zu drüben wird die Stimmung immer besser. Für das Vaterland zu töten und zu sterben gilt uns als Glück! Im feindlichen Lager denkt man nur daran, wie man sich der Last des Opferbringens für das Vaterland bald entziehen kann.
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Freitag, den 28. Juni 1912.
Ich bin heute abend recht müde. Freitags ist, dem Wunsche der Beduinen entsprechend, bei mir großer Besuchstag. Zu- erst kommen die Scheichs der Sawijen und Senussi. Sie haben gewissermaßen den Vorrang. Ihnen wird Tee gereicht. Nach diesen kommen gruppenweise die anderen. Man küßt mir die Hand und das Knie, worauf man Platz nimmt. Der Geruch der guten Leute erfüllt das Empfangszelt. Auf meine Frage, wie es ginge, erfolgt die stereotype Antwort: „Da du gesund und froh bist, sind wir zufrieden". Nach kurzer Unterhaltung er- hebe ich mich und erbitte Gottes Segen für sie, worauf sie Abschied nehmen. Habe ich diese Zeremonie etwa ein Dut- zendmal hinter mir, so trete ich vor das Zelt und spreche ein Gebet mit allen jenen, die noch draußen versammelt sind, die dann ebenfalls zufrieden nach Hause gehen.
den 2. Juli 1912.
Ich komme soeben von einer Erkundung der feindlichen Stellungen zurück; den ganzen Nachmittag und die Nacht war ich draußen. Ich versuchte Aufnahmen der stärksten italieni- schen Punkte aus 300 Meter Entfernung bei Vollmond zu machen. Jede Aufnahme mußte eine halbe Stunde exponiert werden. Die Sache verlief ohne Störung, da die feindlichen Wachposten wahrscheinlich schliefen.
Derna sah mit seinen Palmenbäumen und den weißen Häu- sern im Mondlicht mit seinen tiefen Schlagschatten ganz ge- spenstisch aus. Nirgends war ein Licht oder Feuer sichtbar, nur aus 2 km Entfernung blitzten die Lichter italienischer Kriegsschiffe dann und wann auf. Der Horizont, an dem schwere dunkle Wolken hingen, schien undurchdringlich.
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den A. Juli 1912.
Sie muß schön gewesen sein, die antike Cyrene, die alte Hauptstadt dieses Teiles meines Vaterlandes, dessen Verteidi- gung mir nun anvertraut ist! Ich habe heute einige Ruinen besucht, die meinen Vorposten als Deckung dienen. Eine war wahrscheinlich ein Tempel, dessen Gewölbe eingestürzt ist; die andere wohl eine Arena. Ein Teil des Amphitheaters steht noch. Die Sitze, mächtige Steine von 2 Meter Länge und 7» Meter Dicke, lassen schmale Eingänge frei zu einer Art Grotte im Hintergrunde mit drei Wölbungen. Vielleicht diente sie den Künstlern als Ankleideraum. Vom Ausgang der eigent- lichen Arena bis zum Tor zur Straße zieht sich ein mit großen, viereckigen Steinen gepflasterter Weg hin. In diese Steine hat- ten die alten Römer Rillen eingehauen. Möglicherweise ent- sprachen diese unseren Schienen und wurden ähnlich be- nutzt. Wie gern würde man sich, hätte man Ruhe, mit den Dingen der Vergangenheit eifriger beschäftigen.
den 9. Juli 1912.
Heute sind Infanterieuniformen angekommen, und die erste Gardekompagnie wurde eingekleidet. Bisher habe ich den Arabern, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, ihre National- kostüme gelassen. Ein einfacher Vorfall hat heute aber alles von selbst geregelt. Bei der Zusammenkunft der Scheichs sagte einer von ihnen, daß die Khakifarbe der Militäruniform sich sehr gut der Bodenfarbe anpasse, und daß die damit bekleideten Truppen geschützter seien; das sei gut für die Garden, die ständig mit dem Feind zu tun hätten. Ich stimmte selbstverständlich zu und ordnete an, daß die erste Kompagnie sofort eingekleidet werden sollte. Da diese sich aus
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Eltern bei der Prüfung der Lagerschüler — • — Zöglinge der Lagerschule
der Elite der verschiedenen Stämme zusammensetzt und meiner Person attachiert ist, werden die anderen es als eine Auszeich- nung betrachten, ebenso eingekleidet zu sein. Auf diese Art bin ich bei der Bildung einer regulären Truppe einen tüchti- gen Schritt vorangerückt. Übrigens ist die Garde auf ihre neue Uniform stolz wie die Kinder, was ich heute während der Besichtigung merkte. Später inspizierte ich die Maschinen- gewehrkompagnie, die aus den italienischen Beutestücken auf- gestellt werden konnte. Das Resultat war recht befriedigend, und ich nahm Anlaß, dem Leutnant von Bentheim, dem Füh- rer der Kompagnie, für seine treue Pflichterfüllung Anerken- nung und Dank auszusprechen.
Heute abend brachte man einen Brief, den der Bruder und Erbe des Großscheichs der Senussi an mich gerichtet hat. Er lautet:
„Im Namen Allahs, des Barmherzigen und Allerbarmers! Lob und Preis gebührt Allah!, der durch seine Kraft und Größe unsere Feinde vernichtet und der Armee der Gläubi- gen die Pforten des Ruhmes öffnet! So zeigt er uns die Ver- wirklichung seiner Versprechungen.
Gelobt sei der Prophet, der der letzte der Propheten ist, und der uns befohlen hat, Allahs Geboten zu folgen und sich nicht vor den Ungläubigen zu beugen. Heil dem Besieger der Feinde des Vaterlandes und der Religion, dem Schwie- gersohn Sr. Majestät des Sultans, des Sinnbildes der Kraft, den seine Weisheit zum Größten der Großen der Welt macht, des höchsten Hauptes tugendreicher Monarchen, des Inbegriffs aller Tugenden, des wahren Abkömmlings glor- reicher Ahnen nnd glanzvollen Vorbildes aller verstorbenen und lebenden Großscheichs der Senussi: dem unermüdlich Tätigen, dem Mutigen unter den Mutigsten, dem großen Löwen, unserem Freund und unserer Augenweide, unserem Bruder, Seiner Hoheit Enver Pascha.
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Möge Allah Dir immer den Sieg verleihen und Dich stets auf der Straße des Ruhmes führen!
Dir und allen, die mit Dir sind, entbiete ich unsere Grüße, deren Aufrichtigkeit unser Herz bestätigt. Allah möge Dich immer glücklich und siegreich gegen die Feinde machen; er möge Euer Heer immerdar den Weg des Ruhmes wandeln lassen! Wir erhielten voller Freude die Nachrichten von Deinen ruhmreichen Taten. Täglich beten wir für Euch und unseren erhabenen Souverän, den Sultan. Möge Allah ihn immer mächtiger machen, seine Feinde zerschmettern und seine Macht stärken!
Unsere Brüder haben uns von Deiner Güte gegen sie be- richtet. Möge Allah Dein Leben verlängern! Dein Leben und Dein Wohlbefinden sind für uns ein Quell täglicher Freude. Möchte Allah Dich uns allen erhalten! Dir, der Du die Befehle Allahs erfüllt hast, werden alle Freuden die- ser Welt und des Paradieses gehören. Möge Allah weiter Dein Lenker sein und Dir Sieg und Ruhm bescheren!
Wenn es uns nicht an Kamelen fehlte, wären wir schon bei Dir, denn unsere Herzen sind Tag und Nacht bei Dir. Es ist uns unmöglich, mit der Erfüllung der Befehle Allahs und jener unseres erhabenen Herrschers, des Kalifen, zu zögern.
Wir empfehlen uns Deinem und des Sultans Schutz und hoffen auf seine Gnade.
Dein Bruder, der diese Zeilen schreibt, schickt Dir diese Botschaft, da er selbst nicht kommen kann, um Deine Hände zu küssen. Möchten wir bei Dir und Sr. Majestät gnädig aufgenommen werden! Wir bitten Dich, unseren ehrfurchtsvollen Gruß am Fuße des erhabenen Thrones nie- derzulegen. Möge Allah unsere Gebete für Dich, Licht un- serer Augen, erhören und für alle Krieger nah und fern.
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den 18. Juli 1912.
Seit drei Tagen beschießen die Italiener mit ihren 15 cm- Geschützen unser Lager. Es ist wirklich ärgerlich und störend.
Trotz des italienischen Aufwandes an Munition hatten wir bisher nur 6 Tote, darunter drei Frauen und ein Kind. Die Araber brennen infolge der Beschießung vor Rachedurst. Das Lager haben wir noch nicht verlegt. Dafür wurden Geschütze an hochgelegenen Punkten des Plateaus, wohin die italieni- schen Schiffsgeschütze nicht reichen können, aufgestellt; mit ihnen werden nun Kasernen und Hafen von Derna beschossen.
den 20. Juli 1912.
Alle Vorbereitungen für die morgen stattfindende Beschieß- ung des, Forts Lombardia mit unserer gesamten Artillerie sind getroffen.
Die Antwort auf den Brief des Großsenussi Sidi Achmed Scherif wird heute nachmittag fertig. Alle seine Briefe tragen den Stempel rückhaltloser Freundschaft, was für mich sehr wertvoll ist, da dieser Mann der einzige ist, der mir in diesem Kriege entweder nützen oder sehr viel schaden kann.
Leider gehen die Sachen zu Hause nicht so wie ich möchte. In die Ereignisse irgendwie bestimmend einzugreifen, ist von hier aus nicht möglich. Ich muß hier bleiben, bis tatsächlich Gefahr im Verzuge ist.
den 24. Juli 1912.
Die Gedanken an die Ereignisse zu Hause wollen mir nicht aus dem Kopf. Das alte Kabinett ist durch ein farbloseres ab- gelöst worden. Nur das Portefeuille des Kriegsministeriums
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ruht in einer energischen Hand. Das Heer wird, wie ich hoffe, davon profitieren. Ich selbst kann hier nur das begonnene Werk fortsetzen. Se. Majestät hat mir den Osmanie- Orden 1. Klasse für Sidi Achmed, den Groß -Scheich der Senussi, übersandt, ferner einen mit Diamanten besetzten Säbel, eine Brillantuhr u. a. m.
den 31. Juli 191t.
Welch ein Abend, was für ein Himmel, wie viele Sterne! Der Garten der Hesperiden, so wird behauptet, soll in der Nähe von Benghasi gewesen sein! Ich bin ganz erfüllt von dieser Schönheit und denke an Nächte, als ich noch jung war und viele Stunden unter dem Sternenhimmel lag und von glänzen- der Zukunft träumte.
Ich muß schweigen, auch wenn das Herz übervoll ist. Wird man, wenn eine Granate einen hinweggerafft hat, dort oben endlich die Freiheit haben, alles auszusprechen, was man denkt und fühlt? Die europäische Spitzfindigkeit, die sich mit allem abfindet, alles „löst", fehlt mir vollkommen.
den 1. August 1912.
Ich habe eine Menge türkischer, deutscher, französischer, englischer und italienischer Zeitungen gelesen; mir ist ganz wirr vor den Augen.
Die Einsamkeit dieses Wüstenlagers bedrückt mich häufig schwer. Oft ist mir wie einem Waisenkind zumute, das seiner vollkommenen Verlassenheit in der Welt gewahr wird und auf einer Kirchenbank irgendwo in einer Ecke Unter- schlupf sucht, dort, wo es glaubt, sich unter den Flügeln der Engel verbergen zu können.
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Die verwünschten Italiener machen es mir unmöglich, mich um die Vorgänge in Konstantinopel und in der asiatischen Türkei zu kümmern. Ich fühle mehr und mehr, daß ich zu Hause gebraucht werde, und werde doch hier festgehalten. Mittlerweile wird Derna mit einem einzigen Geschütz beschos- sen, während die Italiener, die sich jetzt südlich von Derna hinter die Kämme zurückgezogen haben, mit ihren sechs 15 Zentimeter-Geschützen aus den Forts und mit all ihren Kreuzergeschützen sich vergeblich bemühen, unsere armselige kleine Kanone zum Schweigen zu bringen. Von unserm Bi- wak aus hört man den Lärm Tag und Nacht. 10 Schüsse von uns beantworten die Italiener mit mehr als 1000. Verließen sie doch einmal ihre Stellungen und rafften sich endlich zu einen Angriff auf; dann sollen sie, Inscha'allah! die Lehre er- halten, die sie uns seit Monaten ihren Zeitungen zufolge zu- gedacht haben.
den 3. August 1912.
Ich habe an Freunde ein paar Skizzen geschickt, Zeichnun- gen, die ich hinwerfe, wenn mir schwere und ernste Gedanken durch den Kopf gehen. Das lenkt mich ab und macht mich ruhiger. Die Zukunft steht so dunkel vor mir, und alles er- scheint, da ich selbst nicht eingreifen kann, so problematisch, daß ich manchmal wünschte, einen Wahrsager hier zu haben, an dessen Worte ich mich in meiner schwankenden und un- ruhigen Stimmung halten möchte.
den 6. August 1912.
Schlechte Nachrichten aus der Heimat. Geht es nicht an- ders — um so schlimmer, da heißt es eben versuchen, dem
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Schicksalsrad in die Speichen zu fallen! Morgen trifft mein Vater hier ein. Die Araber freuen sich darauf. Sie wollen ihm durch die Begrüßung zeigen, was ich ihnen bin.
den 7. August 1912.
Zur Bewillkommnung meines Vaters, den ich gestern abend gegen 8 Uhr in der Schlucht von Derna erwartete, hatten die Araber Freudenfeuer angezündet. Es war schon dunkel, und so wirkten die flackernden Holzstöße ganz besonders male- risch. Mein Vater konnte, als er mich sah, sich der Tränen nicht erwehren. Araber kamen, um seine Hände zu küssen, und Flintenschüsse wurden abgegeben. Überall auf dem Wege zum Lager waren Feuer angezündet. Rechts und links von uns schritten die Araber mit Fackeln und Bannern und jauchz- ten uns zu. Als kleine Unterbrechung stieg mein Pferd in- folge des Tumultes und schleuderte mich etwa 10 Meter weit einen Abhang hinunter; ich nahm jedoch keinerlei Schaden. Bei der Ankunft im Lager erwarteten uns neue Zeremonien.
Zurzeit schießen die Italiener wieder wie verrückt mit allen Batterien und den Kreuzergeschützen auf unsere kleine Ka- none östlich von Derna, die sie so gern zum Schweigen bräch- ten, weil sie auf die Stimmung der Stadtbevölkerung sehr nie- derdrückend wirkt.
den 10. August 1912.
Seit den neun Monaten meiner Anwesenheit sind hier nur 10 Menschen an Krankheit gestorben. Über den Gesundheits- zustand der Truppen kann man also nicht klagen, und da die große Hitze vorüber ist, so ist auch der Ausbruch von Seuchen
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nicht mehr zu befürchten. Für unsere Ernährung ist vor- züglich gesorgt: Fleisch ist da, Gemüse sogar im Überfluß und jetzt auch Melonen. Weintrauben kommen in Mengen auf den Markt. Neulich brachte man mir eine Traube, die 3', 2 kg wog.
Inzwischen verbreiten die italienischen Zeitungen tapfer weiter ihre Lügen über mich. Neulich hieß es sogar, ich sei mit der Frau eines englischen Leutnants geflüchtet. Zu den Italienern unterhalten wir die üblichen, etwas lauten Bezie- hungen. Die italienischen Schrapnells platzen gewöhnlich 1000 Meter oberhalb unserer Kanonen.
den 12. August 1912.
Heute hat der Ramasan begonnen, und ich habe einem lan- gen Gebet beigewohnt. Unsere Religion fordert, daß man während dieses Gebets ausschließlich an Gott und an nichts anderes denke. Das ist ein wohltuender Zwang, andere Ge- danken einmal auszuschalten.
Die Straße zwischen Solum und Mukele ist fertig, und die Automobile sind in Alexandrien angekommen. Ich habe G. beauftragt, sie zu holen. Er wird der Führer der Kraftwagen- Abteilung sein.
den 16. August 1912.
Hätten diese verwünschten Italiener doch einmal den Mut, uns anzugreifen! Es ist traurig, daß wir gezwungen sind, einen Belagerungskrieg zu führen! Oft denke ich an das Glück, das z. B. Napoleon vor Mantua hatte, wenngleich ich fürchten muß, daß der Frieden allen schönen Plänen ein Ende bereitet.
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Heute war ein Tag, überreich an Unannehmlichkeiten, und es wurde mir oft schwer, zuversichtlich und unbekümmert auszusehen. Für die Araber aber muß ich den Schein wahren. Wenn sie mich nachdenklich sehen, tritt auch in ihrem Wesen sofort eine Aenderung ein; sie fürchten, daß ihnen irgend etwas Unangenehmes zustoßen könnte.
Den Ereignissen in Konstantinopel, die einen immer böseren Lauf nehmen, stehe ich hier, wo ich einen Zipfel meines Vater- landes zu retten versuche, leider machtlos gegenüber. Was die Unruhestifter unter den Offizieren anlangt, so habe ich an den Kriegsminister telegraphiert, daß wir alle hier diese Jämmerlinge verwünschen, die die Armee und das Vaterland der Zerrüttung zutreiben. Das sind leider Krisen, wie ich sie für mein armes Land erwartete. Sie müssen durchgemacht werden. Aus solchen Erschütterungen rettet uns vielleicht noch am ehesten ein Krieg auf dem Kontinent.
den 20. August 1912.
Neulich las ich ein deutsches Buch. Ein Satz ist mir im Ge- dächtnis geblieben: „Wenn wir unsere Ideale nicht verwirk- lichen können, dann können wir wenigstens unsere Wirklich- keit idealisieren."
den 21. August 1912.
Gestern habe ich die Artilleristen besucht, die mit ihrer Ka- none die Stadt beschossen. Vom Feind sah man nichts. Auf jeden unserer Schüsse antwortete er mit ungefähr 12 Geschüt- zen. Es war eine Freude, den Artilleristen zuzusehen, die, be- rußt und beschmutzt vom Pulverdampf und dem Staub der
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einschlagenden italienischen Granaten, ernst und ruhig ihre Pflicht taten. Man konnte die Schüsse gut verfolgen. Es be- ginnt mit 4 dumpfen Schlägen von den vier 15 cm-Geschützen. Nach zehn Sekunden hört man ein Sausen und gleich darauf vier krachende Detonationen. Die ganze Umgebung ist in roten oder weißen Staub eingehüllt, je nachdem die Granaten in den Kalkboden oder den Sand einschlagen; Stein- und Eisenteile fliegen umher. Dann hört man hellere Knalle, das sind die Schrapnells der italienischen Feldgeschütze. Hinzu kommen die Salven der Geschütze von den italienischen Südforts, die blind darauf los feuern und irgendwo einschlagen, nur nicht bei uns, was die Leute sehr belustigt.
den 23. August 1912.
Soeben kommen Briefe aus Albanien, die mich sehr be- unruhigen. Es heißt jetzt, seine Entscheidungen zu treffen.
den 24. August 1912.
Was in Konstantinopel vor sich geht, sind die natürlichen Folgeerscheinungen einer Revolution; nur sind diese für uns gefährlicher als für andere Länder. Ich fürchte, daß nicht eher geordnete Zustände eintreten, als bis eine eiserne Hand und ein gesunder Verstand alles wieder ins Gleichgewicht bringt. Ich selbst bin im Augenblick außerstande, meinen Posten zu verlassen. Ich würde, ginge ich, alle meine Offiziere mit fortreißen. Diese sind aber zurzeit hier noch nicht ent- behrlich. Vielleicht werde ich in einem Monat, wenn die Lage sich hier geklärt hat, dort auftauchen können, wo man meiner am meisten bedarf. Die Stunden der Gefahr, die mein Vater-
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land durchlebt, ziehen mich an wie der Magnet die Kompaß- nadel. Der Angelpunkt für den Frieden liegt nicht mehr in Tripolis. Wer weiß, ob nicht bald auf dem Balkan ein Krieg ausbrechen wird. — Die Gegenwart ist voller Wolken, die Zu- kunft trübe.
Man hat mir eine kleine altrömische Lampe gebracht, die in der „Kasr-Samalus" genannten Ruine gefunden wurde. Das Kasr ist eine Zitadelle, die sich von den üblichen römischen Burgen durch ihre schloßartige Architektur unterscheidet: sie ist viereckig, wirkt sehr massiv, hat eine Fassade aus sorg- fältig behauenen Steinen und Mauern aus ungebrannten Ziegeln. Auf einem Block, den man im Burghof ausgrub, be- fand sich eine arabische, vom General Mehmed stammende Inschrift, woraus zu schließen wäre, daß dieses ursprünglich altrömische Kastell später von den Arabern restauriert wor- den ist.
Die kleine Oellampe habe ich guten Freunden nach Deutsch- land geschickt, einigermaßen gegen meine Grundsätze, denn — ginge es nach mir — dürfte auch nicht ein Körnchen Sand meines Vaterlandes die Türkei verlassen!
den 28. August 1912.
Wenn der Frieden mit Italien die Freiheit des Landes ver- bürgt, d. h. uns die Teile läßt, die uns bisher gehörten, dann hoffe ich, nach Konstantinopel zurückzukehren. Andernfalls gedenke ich hier weiter zu kämpfen.
Ich habe meine Ansicht dem neuen Kabinett dargelegt und mitgeteilt, daß ich bei weiterem Verweilen in Tripolis meinen Abschied aus der türkischen Armee nachsuchen würde.
Heute ist ein Engländer, ein sogenannter Korrespondent ver- schiedener Zeitungen, richtiger: englischer Agent, im Lager
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eingetroffen. Er kommt direkt aus London und sieht aus wie ein alter Fuchs. Wir werden ihn scharf im Auge behalten.
den 30. August 1912.
Überall stößt man hier auf Spuren altgriechischer Koloni- sationsarbeit, auf Reste von Bewässerungsanlagen, die den hohen Grad der einstigen Zivilisation dieser Einöde verraten. Die Cyrenaika, die der Umgebung von Triest sehr ähnelt, ver- mag nur durch Anlage und Ausnutzung eines sinnreichen Be- wässerungssystems die für die Menschen und ihre Bodenkultur erforderlichen Wassermengen aufzubringen — hier haben die altgriechischen Kolonisten Erstaunliches geleistet. Jahr- hundertelang weideten dann nur Viehherden auf den Trüm- mern der einst blühenden griechischen Ansiedlungen. Das von den Vandalen begonnene Zerstörungswerk wurde von an- deren Eindringlingen des Landes fortgesetzt. Jetzt hat auf diesen Ruinen ein halbwildes Volk seine Zelte aufgeschlagen. Alles bei ihm ist primitiv; seine Behausungen, seine Gewohn- heiten, seine Ansprüche. Hätten die Senussi nicht ein wenig gearbeitet, so wäre die ganze Bevölkerung, obgleich sie arabi- siert ist, jetzt vollkommen ungebildet und ohne jede Religion.
Wenn man die Kamele sieht, die nur unter großen Schwie- rigkeiten in dem gebirgigen Gelände weiterkommen, wird es einem klar, daß diese Tiere für dieses Land nicht geschaffen sind — hier müßte man Maulesel und Pferde haben. Man kann daraus schließen, daß die heutige Bevölkerung sich in der Hauptsache aus Nomadenstämmen, die aus dem Süden der Wüsten einwanderten, zusammensetzt. Um neues Leben aus diesem Boden hervorzuzaubern, der einst wenigstens von l1/-* Millionen Menschen bevölkert war und jetzt 50 000 Seelen not-
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dürftig ernährt, ist unendlich viel erforderlich, von den Ar- beitskräften angefangen, bis zum Geld. Für mich kann es sich freilich nur darum handeln, meine Pflicht zu tun, gleichgültig, ob es mir gelingt oder nicht.
Die Angelegenheiten in der Türkei könnten besser stehen. Die Unruhen der albanesischen Mohammedaner bedeuten nichts; der Malissorenauf stand aber, der durch fremde Hände geschürt wird, ist gefährlich. Vorläufig habe ich den Kame- raden empfohlen, keinen Konflikt zu provozieren und die Lös- ung aller Schwierigkeiten der gegenwärtigen Regierung zu überlassen. Die Opfer, die sie zu bringen hätten, übersteigen ihre Kräfte. Der Friede nähert sich; in einem oder zwei Mo- naten wird vielleicht alles beendet sein.
Die Italiener strichen früher, um den Arabern Furcht ein- zujagen und ihre Macht zu zeigen, alle ihre Forts usw. weiß an. Jetzt sind sie heilfroh, wenn man sie überhaupt nicht ent- deckt. So hat sich also das Weiß in Khakifarbe verwandelt.
den 2. September 1912.
Ich erhalte einen Brief aus Deutschland, der sich in recht kluger Weise über die verschiedenen Regierungsformen ver- breitet. Als Militär bin ich für den Absolutismus innerhalb der Armee, sonst aber für eine gemäßigte Verfassung ähnlich der deutschen. Alle mittelmäßigen Köpfe, die Teile der Macht an sich reißen wollen, müssen ausgeschaltet werden. Ein Franzose sagt sehr richtig: „Vor der Republik gab es in Frank -
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Scheichs der Senussi
reich einen einzigen Despoten, jetzt gibt es Hunderte, denn alle Abgeordneten wollen, daß irgend jemand ihre Macht fühlt."
Der Brief erwähnt ein Gerücht, daß Talaat im Gefängnis sei. Es ist unbegründet, aber träfe es zu, so würde mich dieses ebensowenig wundern, wie wenn man mit mir ähnlich ver- führe. Es ist immer so gewesen und allmählich fast zur Regel geworden, daß alle wahren Patrioten entweder im Gefängnis oder auf dem Schafott enden.
Man hat recht, wenn man uns beschuldigt, wir seien gegen gewisse Leute des alten Regimes nicht streng genug vorge- gangen. Wir brauchen m. E. zweifellos das Parlament, damit eine Kontrolle der Staatsgeschäfte vorhanden ist. Bei der Auf- rechterhaltung der inneren Ordnung aber muß die Regierung fast vorgehen wie ein Drako. Ebenso wie dieser müßte heute die Regierung mit unnachsichtlicher Strenge handeln, wenn das Interesse des Landes es erfordert. Die Ruhe des Landes muß unbedingt erhalten werden. — Die derzeitige türkische Regierung ist, ohne hamidisch zu sein, gegen uns Jungtürken. Aber auch sie darf vor rigorosen Maßnahmen nicht zurück- schrecken, will sie vermeiden, daß die gegenwärtige Krisis dem inneren und auch dem äußeren Frieden verhängnisvoll wird.
den 12. September 1912.
Heute kam eine Deputation von Scheichs der Sawijen und Senussi aus dem Lager von Benghasi hier an, um mir im Na- men aller andern Scheichs ihre Ehrerbietung zu bezeugen. Diese Kundgebung, die erste der Art, ist ein erfreuliches Zeichen für den Stand meiner Sache.
Habe ich erst meine Autos hier, so braucht die Post nur einen Tag von Solum bis ins Lager. Bei regelmäßigem ägyp- tischem Dampferverkehr könnte ich dann die europäische
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Post innerhalb zehn Tagen erhalten. Ich bin froh über dieses Resultat.
den 6. September 1912.
Lange Konferenz mit den Senussi-Scheichs, die mich sehr befriedigt hat. Darauf Spazierritt mit Oberleutnant von Bent- heim, dem Führer der Maschinengewehr-Abteilung. Wir haben die neuangelegte Straße besichtigt und unter einem Baume Rast gemacht. Wir haben von Deutschland geplaudert und von dem, was ich dort bewundere.
Ich baue mir jetzt hier ein Haus. Das ewige Friedensgerede entnervt mich, und ich fürchte den Einfluß auf meine Krieger. Der Bau dieses Hauses beruhigt sie. Mein „Palais" wird frei- lich ohne Tür und Fenster bleiben aus Mangel an Brettern und Glasscheiben.
Ich lese keine europäischen Zeitungen mehr, da ihre Nach- richten mich verdrießlich machen und mir hier doch die Hände gebunden sind. Die letzten Nachrichten über die An- griffe des österreichischen Ministers gegen uns haben mich sehr erregt.
den 15. September 1912.
Das Bairamfest ist vorüber. Es war keine kleine Anstren- gung. Am Morgen, unmittelbar nach dem Festgebet auf dem Platz, den wir als Moschee hergerichtet hatten, stürzten sich alle Araber auf mich, um mir die Hände zu küssen. Es bedurfte des Eingreifens von Gendarmen, sonst wäre ich von diesen Be- kundungen der Teilnahme fast erdrückt worden. In meinem Zelt, in dem es etwas geregelter zuging, nahm ich zunächst die Glückwünsche der Offiziere und Beamten entgegen sowie
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der Scheichs der verschiedenen Stamme. Dann kam, wie ein Ameisenhaufen mein Zelt überflutend, ein Schwärm Araber, vom 6jährigen Knaben bis zum 90jährigen Greise; jeder ver- beugte sich und küßte meine Knie, meine Hände und den Rand meiner Kopfbedeckung. Es ist so einfach, diesen Leuten Freude zu machen.
Nach dem Frühstück stattete ich den Lazaretten einen Be- such ab. Bei der Rückkehr wiederholten sich die Szenen vom Vormittag. Am Nachmittag wurden Geschenke und Wäsche für die Kinder verteilt.
den 18. September 1912.
Gestern, bei Tagesanbruch, haben wir die nach Osten um etwa 10 km vorgeschobenen italienischen Stellungen angegrif- fen. Meine Absicht war, das Zentrum zu durchbrechen. Dieser Durchbruch ist gelungen. Die Italiener wurden völlig überrascht, und nur einige falsche Bewegungen unserer Flügel haben uns leider verhindert, den Erfolg voll auszunützen. Nach 16stündigem Kampf mußten wir uns zurückziehen. Die Italiener folgten nicht und verharrten trotz ihrer Übermacht in der Defensive. Unsere Artillerie hat sich ausgezeichnet be- währt. Es ist jammerschade, daß das Endresultat des Ge- fechtes meinen Erwartungen nicht ganz entsprochen hat.
Während ich dieses schreibe, dringen die monotonen Schreie der Frauen an meine Ohren; sie klagen um die Gefallenen. Es ist hart, sich gegen diese Trauergesänge verschließen zu müssen, mag ich mir auch noch so oft das Wort aus einem deutschen Briefe ins Gedächtnis rufent „Das Leben des Mannes ist seine Leistung."
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den 21. September 1912,
Ich will versuchen, unsern letzten Kampf zu beschreiben. Es war die Windstille vor dem Sonnenuntergang; kein Blatt regte sich. Die Führer der Stämme und Truppenabteilungen fanden sich in meinem Zelt ein, um zu melden, daß ihre Re- gimenter marschbereit seien. Ein Teil davon, wie auch die Ar- tillerie und Maschinengewehrabteilung war schon im Laufe des Tages aufgebrochen, um die vorgeschriebenen Stellungen ein- zunehmen. Der Befehl zum Abrücken wurde gegeben, die letz- ten Offiziere und Führer verließen mein Zelt, und bald verlor sich der Schall des Hufschlages ihrer Pferde in der Wüste. Ich sah noch, wie die Miliz defilierte, voran zu zweit die Offiziere und Scheichs zu Pferde, zu zweien dann die Mannschaften mit neuen Mausergewehren oder italienischen Beutestücken über der Schulter, unter ihnen weißbärtige Greise mit einem alten Feuersteingewehr zur Seite ihrer Enkel. Ein Sergeant führte jede Gruppe von 10 Kriegern, der sich meist eine Frau mit einem Eimer Wasser auf dem Rücken und einem Sack Brot auf der Schulter zugesellt hatte. Wie gewöhnlich feuerten sie die Männer durch wilde Schreie an.
Die Sonne war längst untergegangen, als ich zu Pferde stieg und mit dem Stab ins Ostlager ritt. Der Himmel war voll un- zähliger Sterne, und ich mußte — wie absurd! — an den bemalten Himmel eines großen Berliner Varietes denken. Als wir einen der abschüssigen Wege des Wadi Derna hinunter- ritten, stießen wir auf die letzten Gruppen der vorwärts drän- genden Araber, die, sobald sie mich erkannten, mein Pferd an- hielten und mir zujauchzten.
Etwa um Mitternacht langten wir beim Zelt des Komman- danten des Ostabschnittes an. Hier diktierte ich den versam- melten Offizieren die Einzelheiten des Angriffsplanes und hielt an die Scheichs der Sawijen eine kurze Ansprache, die ich mit
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einem Segensspruch aus dem Koran beschloß. Ein kurzes Ge- murmel; Huf schlage, die sich entfernten, und um uns wurde es still.
Nachdem ich noch mit den Führern der verschiedenen zum Gefecht aufgestellten Abteilungen telephoniert und alles in Ordnung gefunden hatte, ritten wir los, um unsere Gefechts- slellung auf dem rechten Flügel bei der Artillerie zu erreichen. Es war ein Nachtmarsch von etwa vier Stunden. Wir hörten das Geräusch der Hacken und Spaten unserer Artilleristen, die ihre Geschütze einbauten und Deckungen aufwarfen. Unweit hielten die Scheichs der Stämme, die meine Eskorte bildeten; ihre weißen Burnusse leuchteten durch das Dunkel der Nacht.
Ich sah nach der Uhr, nur wenige Minuten fehlten an 5 Uhr. Punkt 5 Uhr, zur festgesetzten Stunde, kündete lebhaftes In- fanterie- und Maschinengewehrfeuer auf unserm rechten Flügel den Angriff an; italienische Artillerie antwortete wenige Augenblicke darauf mit äußerster Heftigkeit. Außer dem Auf- flackern der Geschütze sah man nichts; nur nach dem Feuer und den verworrenen Geräuschen des Infanteriekampfes ließ sich der Gang des Gefechtes verfolgen.
Nach einer Viertelstunde wurde es verhältnismäßig still; ich schloß daraus, daß die Unsrigen in die feindlichen Stellungen eingedrungen waren. Beim ersten Morgengrauen eröffnete un- sere Artillerie das Feuer auf das gegenüberliegende kleine ita- lienische Fort. Um besser die Situation übersehen zu können, ging ich, gerade als die Sonne am Horizonte aufstieg, weiter nach vorn. Im Zentrum stand alles gut, die italienischen Stel- lungen waren durchbrochen, auf unserer rechten Flanke aber wurden die Unsrigen wieder in die erste italienische Linie zu- rückgedrängt, die bereits hinter ihnen lag. Zwei Kom- pagnien der Garde mit 2 Maschinengewehren brachten den feindlichen Gegenstoß zum Stehen. Auch der linke Flügel schien durch die feindliche Übermacht gefährdet; gegen Mittag
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drang er aber nochmals in wütendem und schneidigem Angriff vor, um sich Luft zu schaffen. Ich sah von meinem Standort aus, wie die kleinen hellen und dunklen Punkte der Kämpfer durcheinander wogten. Während ich unbeweglich stand und das Hin und Her des Gefechtes beobachtete, erhielt ich plötz- lich von einer italienischen Batterie, die bisher unsere Artillerie beschossen hatte, heftiges Schrapnellfeuer. Als ich mich um- wandte, sah ich entgegen meinem Befehl meinen ganzen Stab hinter mir versammelt. Ein bequemes Ziel für den Feind! Aber wir wollten ihm doch nicht das Vergnügen machen und unseren Platz räumen, trotz der Schrapnells, die vor uns zer- platzten.
Auf dem rechten Flügel gewann der Feind die Oberhand. Unsere Leute mußten sich zunächst etwas zurückziehen, dann aber brachte ich durch eine plötzliche Bewegung des Zentrums, dem sich der rechte Flügel alsbald anschloß, die feindlichen Angriffe sofort zum Stehen. Dadurch wurde auch der Stoß auf unsern linken Flügel pariert, der neue Stellungen ein- nahm, ohne daß der Feind ihn zu belästigen wagte. Ich war allmählich sehr müde geworden und habe wohl eine Stunde lang auf der Erde ganz fest geschlafen.
Gegen Abend galoppierten wir zum rechten Flügel, verfolgt von einem Hagel italienischer Schrapnells. Hier hatten sich die Leute etwa 100 Meter vor den italienischen Stellungen fest- gesetzt, nachdem sie die anfänglich eroberten italienischen Gräben wieder hatten aufgeben müssen. Ihre Lage war ungünstig, da sie nicht nur von einem italienischen Panzer- kreuzer in die Flanke beschossen, '"sondern auch von ausgeschifften italienischen Truppen bedroht wurden. Ich erkannte, daß der Angriff, der in den Abendstunden von diesem Flügel aus noch einmal wiederholt werden sollte, nun nicht mehr viel Erfolg versprach. Außerdem telephonierte der Führer des Westabschnittes, daß die Hauptmacht des Feindes,
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1 . Scheich Omran aus Berassa 2. Mebruk, der oberste Scheich der Berassa, des tapfer3ten'Stammes
von Dschebel Achdar 3. Scheich Bu-Dschared, der verwegenste Scheich der Berassa
4. Ejub, Scheich aus Hassa
Rückkehr vom Kampf
ungefähr eine Brigade stark, sich vor unserem rechten Flügel sammle. Ich sah mich daher gezwungen, den Kampf abzu- brechen und befahl, bei Einbruch der Dunkelheit unter Mit- nahme sämtlicher Toten und Verwundeten zurückzugehen. Es war ein blutiger Tag; eine neue Seite der Geschichte dieses Krieges war geschrieben.
Die Vorposten blieben in Fühlung mit dem Feinde, der mit seinen 24 Bataillonen, 4 Feld- und 6 Gebirgsgeschützen nicht wagte, unsere Bewegungen zu stören und sich auch heute noch nicht zeigt. Ständen uns seine Kräfte zur Verfügung!
Unsere Artillerie hat einer zehnmal so starken Artillerie standgehalten und verschiedene feindliche Batterien zum Schweigen gebracht. Unsere Verluste betrugen 185 Verwundete und 98 Tote. Leider haben diese Kämpfe keinerlei Einfluß auf den Ausgang des Krieges.
den 23. September 1912.
Zu allen anderen Ärgernissen bereitet mir jetzt noch das ägyptische Kommissariat heftigen Verdruß. Jetzt, da ich Geld erwarte, wird mir geantwortet, daß man 15 000 türkische Pfd. von meinem Gelde für diesen Monat verbraucht habe. Ich bin wütend! Was für entsetzliche Dummköpfe! Um den Ausfall auszugleichen, habe ich wieder Schatzanweisungen drucken lassen müssen. Glücklicherweise ist mein Kredit bei den Ara- bern unerschütterlich. Zuweilen weiß ich wirklich nicht, ob ich Bankier bin oder Truppenführer. Aber hier wie überall ist es immer dasselbe: man muß eben „Mädchen für alles" sein!
Um den Wert meines Papiergeldes abermals zu erhöhen, habe ich eine neue Maßnahme getroffen. Die Regierungs- hauptkasse hier hat nebenbei auch die Funktionen einer Han-
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delsbank. Jeder, der Geld nach Ägypten oder sonst wohin senden will, deponiert die Summe in der Kasse der Komman- dantur des Ortes, wo er sich aufhält. Diese benachrichtigt die Regierungshauptkasse, und das Kommissariat oder das Kriegs- ministerium werden telegraphisch angewiesen, den Betrag für unsere Rechnung zu bezahlen. Für diese Bemühungen berech- nen die Kassen Va Prozent. Jetzt habe ich angeordnet, daß die Leute, die ihr Geld in meinem „Papier" deponieren, dieses '/•. Prozent nicht zu entrichten brauchen, während diejenigen, die Gold als Zahlmittel bringen, weiterhin die kleine Steuer entrichten müssen. Die Folge wird hoffentlich sein, daß man im Handelsverkehr mein Papiergeld bevorzugt.
Heute teilt mir der Chef des Stabes aus Dscharabub mit, Sidi Achmed Scherif, der Großscheich der Senussi, schlösse sich völlig meiner Auffassung an. Sollte die türkische Regierung diesen Teil des Landes abtreten, so will er gemeinsam mit mir den Krieg fortsetzen.
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Ich muß oft und auch heute abend wieder an mein Leben in Europa zurückdenken. Vielleicht würde mein Leben hier leichter sein, hätte ich die Annehmlichkeiten europäischer Kul- tur nicht kennen gelernt. Andererseits weiß ich auch, daß die besondere Art europäischen Denkens dem Menschen innere Kräfte verleiht, die wir hier nicht in dieser Form haben. Die Beduinen freilich, die keinerlei Bedürfnisse kennen und mit so wenigem zufrieden sind, werden, einmal „zivilisiert", ganz gewiß alle ihre guten Eigenschaften verlieren und von Grund aus verdorben werden. Sie werden unglücklich sein, weil zwischen Wunsch und Wirklichkeit ein zu großer Abstand besteht; aber dieses Unglück wird für sie im Leben eine Not- wendigkeit sein. Sie werden von der Krankheit der Zivili-
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sation befallen werden, aber keine Arznei gegen diese Krank- heit nehmen wollen. Die europäische Zivilisation ist ein Gift, aber ein Gift, das zum Erwachen verhilft: man will, man kann nicht mehr schlafen. Man fühlt, daß man sterben müßte, wollte man die Augen wieder schließen. Der große Unter- schied zwischen uns und den Europäern ist der, daß diese mit all ihrer Erkenntnis das Leben leicht nehmen, während wir — ist uns die Erkenntnis einmal zuteil geworden — uns das Leben noch schwieriger gestalten, als es in Wirklichkeit ist, zumal, wenn wir unsere altgewohnten Grundsätze ändern.
Vorläufig freilich sind meine Araber noch zufrieden. Sie machen Musik, die Flöte wird geblasen und das Tamburin ge- schlagen; der Gesang wird lebhafter, man tanzt.
Heute erhielt ich die ersten Nachrichten aus Derna. Die Verluste der Italiener sind größer, als ich annahm. Sie haben mehr als 800 Tote und Schwerverwundete. 22 unserer Ver- wundeten, die von uns zurückgelassen wurden, haben die Italiener aufgefunden. Da sie zum großen Teil dem Hassa- Stamm angehören, der Bergbevölkerung der Cyrenaika, haben sie an diese Stämme einen Parlamentär entsandt mit der Mit- teilung, daß die Verwundeten in Freiheit gesetzt würden, wenn die Hassas aufhörten zu kämpfen und zu ihren Herden zu- rückkehrten. Darauf haben die Hassas geantwortet: „Ihr seid gekommen, unser Land zu verwüsten. Wir gehorchen den Befehlen Gottes und des Sultans. Wir sind vereint, um euch zu bekämpfen; die Gefangenen, die ihr von uns habt, waren von uns schon für tot angesehen. Wir haben um sie geweint. Das ist nun vorbei. Ob ihr ihnen die Freiheit gebt oder nicht, wir werden gegen euch kämpfen, so lange noch ein Mann unseres Stammes die Waffen führen kann. Wir raten euch aber, unsere Gefangenen gut zu behandeln und nicht die euren zu vergessen, die in unseren Händen sind."
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Ich bin stolz, solche Menschen zu befehligen und gemeinsam mit ihnen kämpfen zu dürfenl
Von meinen Banknoten wurden in zwei Tagen für 10 000 T. Pf. ohne Kommissionsgebühren gekauft. Bisher dürfte die Türkei noch keine solchen inneren Anleihen untergebracht haben. Ich beginne — scheint mir — mit Herrn Helfferich oder Herrn Karl Fürstenberg zu wetteifern!
den 21. September 1912.
Die kleinen Schüler hier erhalten neben dem Schul turnunter- richt auch ein wenig militärische Ausbildung; jeden Freitag wird geschossen. Ich bin mit unsern pädagogischen Ver- suchen hier so zufrieden, daß ich 23 Araberkinder, Söhne von Scheichs, ausgesucht habe, die auf Kosten der Regierung auf das Gymnasium nach Konstantinopel geschickt werden sollen. Außerdem sollen 30 Kinder unsere Militärschulen besuchen. Ich hoffe so einen Nachwuchs zu schaffen, der die hier be- gonnene Arbeit in meinem Sinne fortsetzen wird.
den 28. September 1912.
Morgen ist es gerade ein Jahr her, daß Italien uns den Krieg erklärt hat. Damals glaubte ich, daß unsere Sache hoffnungs- los stünde und daß es keinen anderen Ausweg gäbe als einen ehrenvollen Untergang. Land und Leute hier waren mir un- bekannt. Unsere Stütze bildeten etwa 3000 schlecht ausge- stattete und ganz demoralisierte Soldaten, geführt von einem alten und unfähigen General, die, auf einer Front von 300 km zerstreut, im Innern von Benghasi lagen. Was an Vorräten vor-
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handen gewesen, war in die Hände des Feindes gefallen. In Konstantinopel wollte man mich nicht fortlassen. Der Kriegs- minister sagte mir, daß es schade wäre, wenn ich mich für nichts opfere; die Sache sei bereits verloren. Ganz kurz er- klärte ich ihm: „Ich will Ihnen helfen, die Ehre des Landes zu retten. Sterbe ich, ohne etwas zu erreichen, so können Sie wenigstens der islamischen Welt sagen, daß Sie einen nach Ihrer Ansicht brauchbaren Offizier entsandt hätten. Aber er hätte nichts durchsetzen können. Man habe ihn getötet, um sein Geld zu stehlen" (denn der Kriegsminister hatte hinzu- gefügt, daß die Araber mich töten und ausrauben würden). Ein Jahr ist um; die Prophezeiung hat sich nicht bewahr- heitet.
Die Italiener sind wütend auf mich, sie haben mehr als ein Armeekorps in Derna versammelt, aber wir fahren fort, sie zu hänseln. Wenn der Kampf doch Bewegungskrieg würde, statt aus einer Festungsblockade mit unzureichenden Materialien zu bestehen!
Ich gedenke heute dankbar des Freundes, der mir so häufig dringend ans Herz legte, niemals vor anderen mein Gleich- gewicht zu verlieren; mir scheint, ich habe den guten Rat nach Kräften beherzigt und dadurch Schwierigkeiten über- wunden, die oft unübersteigbar aussahen. Die Araber, meine Offiziere, ja selbst neidische Kameraden sind meine besten Werkzeuge und Gehilfen geworden, nur weil ich ihnen stets mit jener Ruhe und dem seelischen Gleichgewicht gegenüber- trat, das der Freundesrat einst von mir als unerläßlich forderte.
Ich habe hier oft Gelegenheit, die Ausdauer und die An- spruchslosigkeit der Beduinenfrauen, ihre Charakterstärke und Tapferkeit zu bewundern. In puncto Schönheit ist diese Be-
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wunderung allerdings weniger rückhaltlos! Durch allgemeinen Erlaß habe ich den Offizieren die Erlaubnis erteilt, sich hier zu verheiraten.
Eines Tages werden wohl oder übel unsere Frauen im so- zialen Leben dieselbe Stellung einnehmen wie die Frauen des Westens; außerdem werden sie aber alle Wohltaten weiter- genießen, die das islamische Recht ihnen — im Gegensatz zu ihren abendländischen Schwestern — in ihren Beziehungen zum Miiiine einräumt. Leider wird nur ein klainer Teil der Frauen von diesem neuen sozialen Leben Nutzen haben. Die anderen, d. h. die große Masse, wird darunter genau so leiden wie in Europa die niederen und teilweise auch die mittleren Klassen. Da Europa uns durch seine Zivilisation überlegen ist und wir ihm notwendigerweise nachahmen müssen, um un- sere Existenz zu wahren, werden damit auch alle Laster die- ser Zivilisation bei uns einkehren. Man muß wünschen, daß wir klug genug sein werden, um unseren Frauen etwas vom alten Leben in das neue zu retten. Inscha'allah!
Wir haben jetzt ständig Scharmützel mit dem Feind. Sie sind leider nicht entscheidend. Dennoch zermürben sie die Italiener und machen sie unlustig. Gefangene erzählen, daß Offiziere wie Mannschaften seit langem in ihren Kleidern schliefen und nicht den zehnten Teil der Bequemlichkeit hätten wie wir hier.
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Wie oft fühle ich, daß ich eben nichts als Soldat bin, daß ich alles mit den Augen eines einfachen Soldaten sehe. Wie gern wäre ich mitunter Dichter, um ausdrücken zu können, was ich empfinde. Es gibt Augenblicke, in denen mich poetische Stimmungen förmlich überwältigen und dann, in
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dieser seelischen Ungebundenheit und Gehobenheit, treffe ich meine größten Entscheidungen.
Ein Telegramm des Kriegsministers teilt mir die Mobili- sierung der Balkanstaaten und auch unsere allgemeine Mobil- machung mit! Die Verteidigung der Cyrenaika bleibt seinem Wunsch gemäß weiter völlig in meinen Händen. Die Lage ist verzwickt, aber ich habe das Gefühl, daß wir zum Schluß das Spiel gewinnen werden.
Es ist sonderbar: nach dieser Nachricht bin ich innerlich zu- frieden und ruhig. Ich habe das Vorgefühl, als ob unsere Sache schließlich doch den Sieg davontragen müßte.
den 4. Oktober 1912.
Heute erhielt ich ein Telegramm von einem meiner alten Kameraden im Komitee. Er kündigt mir die Ankunft und Ausschiffung einer großen Sendung Munition und Gewehre an einem gesicherten Orte an. Für die Verteidigung des Landes ist diese Nachricht von großer Bedeutung. Auch in Tripolis sind gewaltige Mengen Munition und Vorräte angekommen.
Seit unserer nächtlichen Beschießung hat Derna wieder das alte, geheimnisvolle und starre Aussehen; kein Licht brennt, kein Feuer. Nur vage vernimmt man das dumpfe Geräusch der 10 000 Einwohner der Stadt und der 40 000 Italiener. Sie müssen uns recht um unsere Bewegungsfreiheit beneiden, sie, die mit all ihrer numerischen und technischen Überlegenheit sich hinter ihre Forts verkrochen haben.
Im Lager habe ich einen arabischen Künstler entdeckt, der zurzeit an einem Goldschmuck arbeitet.
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Augenblicklich steht in meinem Vaterlande wohl alles in Flammen. Von allen Seiten greift man uns an! Ich erwäge häufig die Möglichkeit eines Weltkrieges. Wenn Österreich und Deutschland nicht vermittelnd eingreifen, muß in kürze- ster Zeit der Krieg auf dem Balkan ausbrechen, und wer weiß, was dann die Folgen sind. Wie ich bedauere, nicht dort zu sein, wo dem Vaterlande die größte Gefahr droht!
Soeben habe ich eine Depesche erhalten, nach der die Ita- liener heute ein Bataillon bei Bomba ausgeschifft haben und auf der anderen Seite bei Susa vier italienische Kreuzer liegen. Ich bin neugierig, was sie bezwecken.
Vom Groß-Senussi Sidi Achmed Scherif ist eine Spezial- gesandtschaft unterwegs, die mir Grüße und Geschenke des Groß -Scheichs überbringen soll: 2 Negerinnen, Elfenbein usw. Mein Himmel, was soll ich nur mit den schwarzen Damen an- fangen!? Er schickt mir auch sein eigenes Gewehr, das er gesegnet hat.
den 9. Oktober 1912.
Die ganze Nacht ununterbrochener Kanonendonner. Fast täglich haben wir jetzt Gefechte.
den 10. Oktober 1912.
Seit 3 Tagen ungestümer Angriff der Italiener. Sie waren schon bis 5 km südlich unserer Rückzugslinie vorgedrungen, doch ist ihre Vorwärtsbewegung jetzt zum Stillstand gekom- men und sie sind in ihre ursprünglichen Stellungen zurück- geworfen. Die Italiener haben sehr viele Tote verloren, unter ihnen auch — wie aus den Papieren hervorgeht, die man mir gebracht hat — eine ganze Anzahl Offiziere.
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den 12. Oktober 1912.
Die ganze tripolitanische Angelegenheit ist für mich eine persönliche Ehrensache geworden. Ich habe hier die Araber mit Frauen und Kindern gegen den Feind geführt und ihren versprochen, sie niemals zu verlassen, selbst wenn der Sultan nachgeben sollte. Es wird mir schwer oder unmöglich, mir vorzustellen, daß ich diese Tapferen jetzt verlassen und sie den Italienern ausliefern könnte. Andererseits — : in welch heil- loser Lage befindet sich mein Vaterland!! Aber von neuem frage ich mich: sollen die Beduinen treuer gewesen sein als ich? Wäre es nicht feige, mein Wort zu brechen! Was soll ich tun? In Montenegro ist der Krieg ausgebrochen; die andern Balkanstaaten werden folgen, — schließlich die Ver- wicklungen in Europa selbst! Was bedeutet da unser Kampf mit Italien! Auch das Schicksal meiner Beduinen wird dann schließlich anderswo entschieden.
Neulich erzählte ein arabischer Spion, daß die Italiener vor einem Monat 200 L. St. auf meinen Kopf gesetzt hätten. Da niemand sich dazu gefunden hat, bieten sie nunmehr 900 L. St. und es scheint, als ob sie jetzt einen Mann gefunden hätten, der vor dem Krieg in unserer Gendarmerie gedient hat. Ich habe über den Meuchelmörder lachen müssen. Die Italiener schei- nen nicht zu wissen, daß ich, wenn ich wollte, die Köpfe der fünf italienischen Generäle in Derna an einem Tage fallen las- sen könnte, trotz des Schutzes ihrer Forts.
Meine Tapferen tun weiterhin ihre Pflicht. Eine Familie ist hier, von der nur der Vater noch übrig ist; 11 Söhne und Schwiegersöhne sind gefallen. Als ich ihm mein Beileid aus- drückte, sagte er: „Ich bin stolz und glücklich, daß sie im Kampfe für das Vaterland und die Religion gefallen sind."
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den U. Oktober 1912.
Soeben erhalte ich die letzten italienischen Zeitungen, die Nachrichten über den Kampf bringen. Sie lügen und entstel- len alles; doch lohnt es nicht, darauf einzugehen. Niedrig und verächtlich ist es nur, wie man mich darin persönlich angreift. Ich ersehe daraus, daß ich ihnen gefährlich erscheine. Da sie mir nichts anhaben können, glauben diese ritterlichen Gegner, wie ungezogene Kinder durch Beleidigungen ihr Mütchen an mir kühlen zu müssen!
den 16. Oktober 1912.
Ich hoffe, bald im klaren darüber zu sein, welche Politik ich verfolgen werde, und zu wissen, ob ich heimkehren muß oder hier bleiben kann. In den nächsten Tagen erwarte ich die außerordentlichen Abgesandten der Senussi-Scheichs; die Kon- ferenz mit ihnen wird die Entscheidung reifen lassen.
den 17. Oktober 1912.
Keine Nachrichten aus Konstantinopel! Den englischen Zeitungsberichten zufolge scheint der allgemeine Krieg auf dem Balkan vermieden werden zu können. Zwei rivalisierende Mächte arbeiten noch daran, sich Geltung zu verschaffen: Österreich mit seinem Plan der Dezentralisation kann den Ausbruch des Konfliktes auf dem Balkan vielleicht verhindern. Rußland, das die kleinen Balkanstaaten erst vorwärts getrieben hat, möchte sie jetzt gemeinsam mit den anderen Mächten der Triple-Entente zurückhalten und verspricht ihnen nicht nur eine einfache Dezentralisation, sondern große Reformen und
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fügt hinzu, daß sie selbst im Falle eines siegreichen Krieges nicht mehr als das erhielten.
den 22. Oktober 1912.
( Brief an einen Freund. J
Gestern abend hat mir der italienische Kommandant brieflich die Nachricht vom Friedensschluß mitgeteilt. Nachts empfing ich ein Telegramm des Kriegsministers, das mir befahl, die Feindseligkeiten einzustellen, da S. M. der Sultan den Frieden unterzeichnet habe. Von meinen Ge- danken kannst Du Dir ein Bild machen. Um mich end- gültig zu entscheiden, wartete ich die Ankunft der Abge sandten Sidi Achmeds ab, die heute erfolgte. Der Beschluß ist gefaßt: der Krieg wird fortgeführt!
Aus neueren Depeschen des Kriegsministers geht hervor, daß die Regierung definitiv die beiden Provinzen einbüßt. Wir lassen also die tapferen Menschen im Stich, die sei!: einem Jahr so erfolgreich mit Weib und Kind gegen diesen habgierigen Feind gekämpft haben. Ich, der ihnen den Krieg predigte, der ihnen die Hilfe des Mutterlandes ver- sprach, ich leide unter einem unaussprechlichen inneren Zwiespalt. Ich kann einerseits dieses Land nicht aufgeben, andererseits kann ich ebensowenig mein Vaterland, das mich dringend braucht, im Stich lassen. Ich werde also hier einen kleinen unabhängigen Staat gründen. Was die Bal- kanstaaten anbetrifft, so gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß wir sie schlagen werden, und daß man uns dann in Ruhe läßt, damit wir endlich die so notwendigen inneren Reformen, den Wiederaufbau unseres Reiches, in Angriff nehmen können.
Wir haben hier vergeblich unsere Pflicht getan; die neue Regierung hat alles wieder vernichtet. Ein schmachvoller
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Friede und im Rücken eine Anzahl neuer Kriege mit un- sicherem Ausgang — das ist das Endergebnis!
den 2U. Oktober 1912.
Es ist furchtbar, so weit weg zu sein, wenn die Ereignisse sich überstürzen und man nicht weiss, welche Wendung die Dinge nehmen werden! Wir sollten überall in der Defensive bleiben und nur gegen Bulgarien offensiv vorgehen. Einen Teil meiner Offiziere habe ich schon verabschiedet, damit sie zu Hause helfen können.
Vorgestern hatte ich meinen Adjutanten als Parlamentär zu den Italienern entsandt. Er blieb zwei Tage dort. Er erzählt, daß auf die Friedensnachricht hin die Disziplin sehr gesunken sei. Die Soldaten grüssten nicht einmal ihre Generäle und machten einen äußerst abgespannten Eindruck.
Einige der italienischen Offiziere kennen mich von Berlin her. Sie schickten mir Grüße. Ihre Bekanntschaft zu erneuern, wäre mir nach dem, was vorgefallen ist, nach diesem räube- rischen Ueberfall Italiens, kein Vergnügen.
den 27. Oktober 1912.
Heute ritt ich zu unsern Vorposten, wo ich von zwei italie- nischen Offizieren erwartet wurde. Einer von ihnen war der Generalstabschef der Truppen von Derna. Er setzte mir aus- einander, wie er sich den Abtransport der türkischen Truppen aus der Cyrenaika denke. Ich hörte sehr aufmerksam zu und bedeutete ihm, daß ich noch keinerlei Instruktionen erhalten hätte und demnach nichts entscheiden könnte. Sobald diese eingegangen seien, würde ich ihn benachrichtigen. Heute emp-
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fing ich ein Telegramm des Ministers des Innern, das mir die Niederlage vier serbischer Divisionen bei Kumanovo anzeigt. Die Nachricht hat Freude im Lager verursacht. Hoffentlich gehen auch bald gute Meldungen von den anderen Fronten ein; der Schaden wäre andernfalls kaum wieder gut zu machen.
den 30. Oktober 1912.
Die Italiener hatten heute die Freundlichkeit, mir die Zeit- ungen bis zum 26. 10. zu senden. Die Lage in Rumelien scheint sehr ernst für uns zu sein. Als ohnmächtiger Zu- schauer die Zuspitzung der Lage mitanzusehen, scheint mir mehr und mehr unwürdig und unerträglich. Trotz meiner Wünsche und aller meiner Versprechungen reise ich auf dem schnellsten Wege nach Konstantinopel, wenn der Krieg für uns eine ungünstige Wendung nimmt. Ich bin tieftraurig, vor allem deshalb, weil ich so untätig bleiben muß.
den 31. Oktober 1912.
Seit vier Tagen habe ich keine Nachrichten mehr aus Konstantinopel. Es sieht fast aus, als sei ich im Kriegsministe- rium in Vergessenheit geraten. Die Italiener warten auch wegen des Abtransportes der Truppen auf Antwort. Es müssen dort unten schwere Kämpfe vor sich gehen, die entscheidend für den Ausgang des Krieges sein könnten.
den 8. November 1912.
Gehaltvolle Predigten sind in den Zeitungen zu lesen! So soll also dieser Krieg ein Kreuzzug des 20. Jahrhunderts gegen den Islam sein!
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den 25. November 1912.
Endlich! die Würfel sind gefallen. Ich verlasse also die Cyrenaika, mein mir so lieb gewordenes Königreich, und einen jedenfalls recht unabhängigen Posten, um nach Konstantinopel zurückzukehren und dort als Oberstleutnant wieder Dienst zu tun. Nach der letzten Depesche aus Konstanlinopel ist an ein längeres Bleiben hier nicht mehr zu denken. Ich habe wenig- stens so weit vorgearbeitet, daß die Verteidigung auch weiter- hin gesichert ist. Meine Feinde werden diese Entscheidung nach ihrer Art auslegen und die Gelegenheit wahrnehmen, mich zu verunglimpfen; das ist mir gleichgültig. Ich will nur meinem Vaterland dort dienen, wo seine Interessen es am dringlichsten erfordern!
Am Vorabend meiner Abreise kamen gerade die kleinen Schüler aus Benghasi hier an, die ich zum Besuch der Kon- stantinopeler Schulen ausgewählt hatte. Sie sangen die Na- tionalhymne; bei dem Klang ihrer Lieder und dem Gedanken, dieses Land mit seinen prächtigen Menschen aufgeben zu müssen, kämpfte ich mit Tränen.
Alles war hier im Aufblühen begriffen, und die Bilanz un- serer einjährigen Arbeit berechtigte zu den schönsten Hoff- nungen. Ich hatte ein Volk hinter mir, das vom Bauern bis zum Großscheich nur eines Zeichens harrte, um jedes Opfer zu bringen! Sie waren sogar willig, Steuern zu entrichten, was für eine Nomadenbevölkerung ganz unerhört ist. Da ich das Budget durch indirekte Einkünfte im Gleichgewicht halten konnte, brauchte ich ihnen direkte Steuern noch nicht aufzu- erlegen. Die Zivil Verwaltung regelte sich nach einem sehr ein- fachen Plan. Das ganze Land ist seit jeher in die Be- zirke der verschiedenen Sawijen eingeteilt. Den Scheichs der Sawijen (es sind dies zugleich die intelligentesten und einflußreichsten Leute ihres Bezirkes) lag es demnach ob,
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die Regierungsangelegenheiten ihrer Gemeinde zu erledigen. Sie wurden von einer Versammlung der Scheichs aller um- liegenden Stämme mit dem ältesten Scheich an der Spitze be- raten. Er wiederum, als Haupt dieser Körperschaft, war ver- antwortlich für die richtige Anwendung der Zivil- und Militär- gesetze.
Das stehende Heer sollte aus drei Infanterie-Regimentern zu drei Bataillonen, das Bataillon zu drei Kompagnien, die Kom- pagnie aus 150 Kriegern und 15 Frauen bestehen, die als Mar- ketenderinnen helfen. Hierzu kämen drei Maschinengewehr- Kompagnien zu vier Gewehren und drei Batterien zu vier Ge- schützen. Die Infanterie existierte bereits unter dem Namen Muhafisije (Garde). Auch waren bereits Eingeborene bei der Artillerie und den Maschinengewehren zur Ausbildung einge- reiht. Die Kavallerie bestand vorläufig nur aus drei Schwadro- nen zu je 100 Reitern; sie stellten eigentlich aber nur berittene Infanteristen dar, da sie mit der blanken Waffe nicht umzu- gehen wußten. Vor kurzem hatte man in Derna von jeder Muhafisije junge fähige Leute ausgesucht und aus ihnen eine Kompagnie als Korporalschule gebildet. Sie mußten fünf Mo- nate in dieser Kompagnie bleiben, der die Fahne des Muha- fisije-Regiments anvertraut war, und kamen dann als Kor- porale in andere Truppenteile. Zwei Gendarmerie-Kompag- nien versahen den Sicherheitsdienst.
Für diese aus dem Nichts gebildeten Truppen, ihre Bedürf- nisse und Ausrüstung hatte ich eine Monatsausgabe von 9000 T. Pf., der sichere Einkünfte aus den Einnahmen des Landes in Höhe von 10 000 T. Pf. gegenüberstanden. Da jeder Verkehr mit den belagerten Städten verboten war, wurde der ganze Bedarf aus Ägypten bezogen: Waren im Werte von etwa 25 000 T. Pf. monatlich für die gesamte Cyrenaika. Darauf wurde Zoll erhoben und zwar 25 Prozent auf Nahrungs- mittel und 50 Prozent auf Waren wie Zucker, Tee und Kleider,
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was mir ein Plus von 8500 T. Pf. sicherte. Der Aus- fuhrzoll auf Kamele und dergl. brachte mehr als 2500 T. Pf. monatlich, im ganzen also 11000 T.Pf.
An Schatzscheinen waren 10 000 Pf. Sterling ausgegeben. 5000 Pf. Sterling hatte ich selbst bereits wieder eingezogen; für den Rest war Deckung vorhanden in Gestalt von 5000 Pf. Sterling in Gold in Alexandrien, von denen die Scheichs be- zahlt werden konnten. Außerdem befanden sich 10 000 Pf. Sterling in Gold in der Staatskasse der Cyrenaika.
Zehn Elementarschulen waren gegründet mit rund 1000 Schülern und zwei Mädchenschulen mit 150 Schülerinnen. Nach einem mit Konstantinopel getroffenen Abkommen hatte ich in die Schulen der Türkei 200 Schüler, in der Hauptsache Söhne von Scheichs, entsandt und zwar: 30 auf die Kriegs- schule (20 für die Infanterie, 6 für die Artillerie, 4 für die Kavallerie), 5 auf die Medizin-, 5 auf die Veterinär-, 5 auf die Apothekerschulen, 60 auf die Unteroffizierschulen, 15 auf die Lehrerseminare und die übrigen in Waffenfabriken und andere gewerbliche Anstalten. Wenige Tage vor meiner Abreise wurde die Umwandlung des großen Kastells Schegeb in eine Schule beendigt; sie dient als Normalschule und ist verbunden mit einer Handwerks- und Gewerbeschule, in der verschiedene Handwerkszweige sowie landwirtschaftliche Fertigkeiten er- lernt werden können. Zu ihr gehört auch ein kleines Pacht- gut. Ein Offizier ist dort als „Rektor" angestellt, die Zucht ist militärisch: jeder junge Mann hat sein Gewehr und muß täglich zwei Stunden exerzieren. Zwei Jahre bleiben sie dort; nachher werden sie selbst Lehrer in Wanderschulen, die von Stamm zu Stamm gehen.
Zu alledem war die große Waffen- und Munitionssendung an der Grenze eingetroffen, so daß es mir an nichts fehlte. Gott weiß, wie schwer es mir wird, alles, was ich geschaffen, eine Organisation, die ich unter unsäglichen Mühen ins Leben ge-
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rufen, wieder aufzugeben! Die Kameraden, die ich zurück- lasse, werden aber dies Werk fortsetzen. Eine große Genug- tuung wurde mir zuteil: Sidi Achmed Scherif, der Großscheich der Senussi, ist bis zur letzten Stunde seiner alten Gesinnung treu geblieben. Geschenke des Königs von Italien und den Vorschlag, eine große Sawije in Benghasi zu errichten, hat er stolz zurückgewiesen. Er war und ist ein Mann von großem, starkem Herzen.
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Enver Pascha verließ bald darauf die Cyrenaika. In Ägyp- ten wurde auf ihn gefahndet; er entkam aber in Verkleidung auf einem italienischen Dampfer nach Brindisi und eilte über Wien nach Konstantinopel, wo er, wie bekannt, entscheidend in die Geschicke seines Vaterlandes eingriff. Die Keime des Widerstandes, die Enver Pascha im ersten Tripolis-Feldzuge gesät hat, sind im Weltkriege verderbenbringend für die Ita- liener aufgegangen. Auf Grund der von Enver Pascha ge- schaffenen Organisationen haben General Nuri Pascha, Enver Paschas Bruder, und Dschafer Pascha in Gemeinschaft mit den verbündeten Stämmen den Kampf gegen die Eindring- linge mit solchem Erfolge wiederaufgenommen, daß die Ita- liener sich heute nur noch an einem schmalen Saum längs der Küste zu halten vermögen.
Die Übertragung dieser Berichte aus der
Sprache des Originals besorgte
FRIEDRICH PERZYNSKI
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Rudolf Kjellen: Studien zur Weltkrise, geh. Mk. 3.60, geb. 5.-.
H. S. Chamberlainz
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